Das Grundgesetz ist völkerrechtsfreundlich auszulegen.

Völkervertragliche Bindungen haben innerstaatlich nicht den Rang von Verfassungsrecht1.Gleichwohl besitzen sie verfassungsrechtliche Bedeutung als Auslegungshilfe für die Bestimmung des Inhalts und der Reichweite der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes2.
Ihre Heranziehung ist Ausdruck der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes, das einer Einbindung der Bundesrepublik Deutschland in inter- und supranationale Zusammenhänge sowie deren Weiterentwicklung nicht entgegensteht, sondern diese voraussetzt und erwartet. Das Grundgesetz erstrebt ausweislich seiner Präambel die Einfügung der Bundesrepublik Deutschland als gleichberechtigtes Glied in die Rechtsgemeinschaft friedlicher und freiheitlicher Staaten3. Es ist nach Möglichkeit so auszulegen, dass ein Konflikt mit völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland nicht entsteht4.
Allerdings zielt die Heranziehung als Auslegungshilfe nicht auf eine schematische Parallelisierung einzelner verfassungsrechtlicher Begriffe5. Vielmehr gilt auch für die völkerrechtsfreundliche Auslegung des Grundgesetzes, dass Ähnlichkeiten im Normtext nicht über Unterschiede, die sich aus dem Kontext der Rechtsordnungen ergeben, hinwegtäuschen dürfen6. Außerdem endet die Möglichkeit völkerrechtsfreundlicher Auslegung dort, wo diese nach den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung und Verfassungsinterpretation nicht mehr vertretbar erscheint7. Soweit im Rahmen geltender methodischer Standards Auslegungs- und Abwägungsspielräume eröffnet sind, trifft deutsche Gerichte die Pflicht, der konventions- oder vertragsgemäßen Auslegung den Vorrang zu geben. Es widerspricht aber nicht dem Ziel der Völkerrechtsfreundlichkeit, wenn ausnahmsweise Völkervertragsrecht nicht beachtet wird, sofern nur auf diese Weise ein Verstoß gegen tragende Grundsätze der Verfassung abzuwenden ist8.
Im Rahmen der Heranziehung der Europäischen Menschenrechtskonvention als Auslegungshilfe berücksichtigt das Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, und zwar auch dann, wenn sie nicht denselben Streitgegenstand betreffen. Dies beruht auf der jedenfalls faktischen Orientierungs- und Leitfunktion, die der Rechtsprechung des EGMR für die Auslegung der EMRK auch über den konkret entschiedenen Einzelfall hinaus zukommt9. Die innerstaatlichen Wirkungen der Entscheidungen des EGMR erschöpfen sich daher nicht in einer auf den konkreten Lebenssachverhalt begrenzten Berücksichtigungspflicht10.
Die Heranziehung der Rechtsprechung des EGMR als Auslegungshilfe auf der Ebene des Verfassungsrechts über den Einzelfall hinaus dient dazu, den Garantien der EMRK in der Bundesrepublik Deutschland möglichst umfassend Geltung zu verschaffen, und kann darüber hinaus helfen, Verurteilungen der Bundesrepublik Deutschland zu vermeiden11. Während sich die Vertragsparteien durch Art. 46 EMRK verpflichtet haben, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des EGMR zu befolgen12, sind allerdings bei der Orientierung an der Rechtsprechung des Gerichtshofs jenseits des Anwendungsbereichs des Art. 46 EMRK die konkreten Umstände des Falles im Sinne einer Kontextualisierung in besonderem Maße in den Blick zu nehmen6.
Stellungnahmen von Ausschüssen oder vergleichbaren Vertragsorganen zur Auslegung von Menschenrechtsabkommen sind demgegenüber ungeachtet ihres erheblichen Gewichts weder für internationale noch für nationale Gerichte verbindlich13. Dies gilt auch für die Berichte (Art. 39 BRK), Leitlinien (Art. 35 Abs. 3 BRK) und Empfehlungen (Art. 36 Abs. 1 BRK) des Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen nach Art. 34 BRK zur Auslegung der Konventionsbestimmungen und zur Rechtslage in Deutschland14. Ein Mandat zur verbindlichen Interpretation des Vertragstextes kommt dem Ausschuss nicht zu. Auch verfügt er nicht über eine Kompetenz zur Fortentwicklung internationaler Abkommen über Vereinbarungen und die Praxis der Vertragsstaaten hinaus (vgl. Art. 31 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23.05.1969, BGBl II 1985 S. 939). Nationale Gerichte sollten sich im Rahmen einer völkerrechtsfreundlichen Auslegung des nationalen Rechts mit der Auffassung derartiger Vertragsorgane auseinandersetzen; sie müssen sie aber nicht übernehmen15.
Der BRK-Ausschuss verfügt nicht über ein Mandat zur verbindlichen Auslegung der BRK16. Ein solches käme allenfalls in Betracht, wenn die Praxis der Vertragsstaaten der Auffassung des Ausschusses folgen würde. Dies ist jedoch nicht der Fall, da sich die BRK-Vertragsstaaten mit einem jegliche Differenzierung ausschließenden inklusiven Wahlrecht in einer deutlichen Minderheit befinden17. Zudem steht die Auffassung des BRK-Ausschusses im Widerspruch zur Position des IPBPR-Ausschusses. Obwohl dieser ausdrücklich festgestellt hat, dass Wahlrechtsausschlüsse auch unter Berücksichtigung von Art. 29 lit. a BRK aus objektiv vernünftigen Gründen gerechtfertigt sein können18, verhält der BRK-Ausschuss sich hierzu nicht. Ebenso wenig lässt er sich dazu ein, dass Frankreich und Rumänien Interpretationserklärungen zur BRK abgegeben haben, wonach Wahlrechtsausschlüsse im Rahmen des Art. 29 BRK bei Beachtung der Bedingungen des Art. 12 Abs. 4 BRK zulässig sind19. Vor allem aber trägt die Rechtsauffassung des BRK-Ausschusses der Regelung des Art. 12 Abs. 4 BRK unzureichend Rechnung. Der Ausschuss entnimmt Art. 12 BRK lediglich die Verpflichtung der Vertragsstaaten, wirksame Sicherungen zur Wahrnehmung der Rechts- und Handlungsfähigkeit von Menschen mit Behinderungen zu schaffen. Für Einschränkungen der Rechts- und Handlungsfähigkeit biete die Vorschrift keine Grundlage. Dies wird dem Regelungsgehalt von Art. 12 Abs. 4 BRK nicht gerecht. Die Vorschrift fordert „für alle die Ausübung der Rechts- und Handlungsfähigkeit betreffenden Maßnahmen geeignete und wirksame Sicherungen“, um Missbräuche zu verhindern. Art. 12 Abs. 4 Sätze 2 und 3 BRK beschreiben sodann die Bedingungen konventionskonformer Ausgestaltung dieser Sicherungen und fordern dabei insbesondere die Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Damit geht die Vorschrift erkennbar davon aus, dass bei Beachtung dieser Bedingungen die Möglichkeit von Maßnahmen, die die Rechts- und Handlungsfähigkeit einschränken, besteht20.
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 29. Januar 2019 – 2 BvC 62/14
- vgl. BVerfGE 111, 307, 317[↩]
- vgl. BVerfGE 74, 358, 370; 83, 119, 128; 111, 307, 316 f., 329; 120, 180, 200 f.; 128, 326, 367 f.; 142, 313, 345 Rn. 88; BVerfG, Urteil vom 12.06.2018 – 2 BvR 1738/12[↩]
- vgl. BVerfGE 111, 307, 319[↩]
- vgl. BVerfGE 111, 307, 317 f.; 141, 1, 27 Rn. 65[↩]
- vgl. BVerfGE 137, 273, 320 f. Rn. 128; 141, 1, 30 Rn. 72 m.w.N.[↩]
- vgl. BVerfG, Urteil vom 12.06.2018 – 2 BvR 1738/12[↩][↩]
- vgl. BVerfGE 111, 307, 329; 128, 326, 371; 141, 1, 30 Rn. 72; BVerfG, Urteil vom 12.06.2018 – 2 BvR 1738/12[↩]
- vgl. BVerfGE 111, 307, 319; BVerfG, Urteil vom 12.06.2018 – 2 BvR 1738/12[↩]
- vgl. BVerfGE 111, 307, 320; 128, 326, 368; BVerfG, Urteil vom 12.06.2018 – 2 BvR 1738/12 129[↩]
- vgl. BVerfGE 111, 307, 328; 112, 1, 25 f.; BVerfG, Urteil vom 12.06.2018 – 2 BvR 1738/12[↩]
- vgl. BVerfGE 128, 326, 369; BVerfG, Urteil vom 12.06.2018 – 2 BvR 1738/12[↩]
- vgl. BVerfGE 111, 307, 320[↩]
- vgl. BVerfGE 142, 313, 346 Rn. 90; BVerfG, Urteil vom 24.07.2018 – 2 BvR 309/15 u.a.[↩]
- vgl. BVerfGE 142, 313, 345 f. Rn. 89; BVerfG, Urteil vom 24.07.2018 – 2 BvR 309/15 u.a. 91[↩]
- vgl. BVerfGE 142, 313, 346 f. Rn. 90; siehe auch – allerdings für Entscheidungen internationaler Gerichte – BVerfGE 111, 307, 317 f.; 128, 326, 366 ff., 370; stRspr[↩]
- vgl. BVerfGE 142, 313, 346 f. Rn. 90; BVerfG, Urteil vom 24.07.2018 – 2 BvR 309/15 u.a.[↩]
- vgl. BMAS-Forschungsbericht 470, 2016, S. 248 ff.; Schmalenbach, in: BMAS-Forschungsbericht 470, 2016, S. 156 ff.[↩]
- vgl. IPBPR-Menschenrechtsausschuss, Concluding observations on the third periodic report of Hong Kong, China, 29.04.2013, UN-Doc CCPR/C/CHN-HKG/CO/3, Rn. 24; Concluding observations on the third periodic report of Paraguay, 29.04.2013, UN-Doc CCPR/C/PRY/CO/3, Rn. 11[↩]
- vgl. Schmalenbach, in: BMAS-Forschungsbericht 470, 2016, S. 147 Fn. 67[↩]
- vgl. BVerfGE 128, 282, 307; 142, 313, 345 Rn. 88; BVerfG, Urteil vom 24.07.2018 – 2 BvR 309/15 u.a.[↩]