Wählbarkeit zum Integrationsbeirat – auch ohne gesichertes Aufenthaltsrecht

Eine Satzungsregelung, die die Wählbarkeit zu einem kommunalen Integrationsbeirat auf Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit oder einem gesicherten Aufenthaltsrecht im Sinne unionsrechtlicher Freizügigkeitsberechtigung oder einer Aufenthalts- oder Niederlassungserlaubnis nach dem Aufenthaltsgesetz beschränkt, verstößt gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Eine satzungsrechtliche Ungleichbehandlung nach der voraussichtlichen Bleibedauer im Inland darf – unabhängig von der Frage ihrer Zulässigkeit im Übrigen – nicht an den Aufenthaltsstatus als Differenzierungskriterium anknüpfen; dieser eignet sich nicht als Grundlage einer Prognose der tatsächlichen Dauer des Aufenthalts in Deutschland.

Wählbarkeit zum Integrationsbeirat – auch ohne gesichertes Aufenthaltsrecht

Die Antragsteller in dem hier vom Bundesverwaltungsgericht entschiedenen Fall

sind pakistanische Staatsangehörige. Nach rechtskräftiger Ablehnung ihrer Asylanträge sind sie vollziehbar ausreisepflichtig. Ihre Abschiebung ist vorübergehend ausgesetzt. Sie engagieren sich ehrenamtlich in unterschiedlichen Vereinen u.a. mit dem Ziel einer Integration von Asylsuchenden im Landkreis Leipzig.

Mit Beschluss vom 12.09.2018 änderte der Kreistag des Landkreises Leipzig seine Ordnung zur Bildung und Arbeit des Integrationsbeirates im Landkreis Leipzig. Bis zu der Änderung der Ordnung sollten dem Integrationsbeirat unter anderem zwei im Landkreis lebende Personen mit Migrationshintergrund angehören. Nach der Änderung sollten ihm unter anderem drei Einwohner des Landkreises mit Migrationshintergrund und deutscher Staatsangehörigkeit oder gesichertem Aufenthaltsrecht (ausländische Personen mit Aufenthalts-  oder Niederlassungserlaubnis, freizügigkeitsberechtigte EU-Bürger/innen und freizügigkeitsberechtigte ausländische Angehörige von EU-Bürger/innen) angehören.

Den von den Antragstellern gegen die Änderung der Integrationsordnung und die damit verbundene Beschränkung des Kreises der potentiellen Mitglieder des Integrationsbeirates erhobenen Normenkontrollantrag hat das Sächsische Oberverwaltungsgericht abgelehnt1. Dagegen richtet sich die vom Bundesverwaltungsgericht zugelassene Revision der Antragsteller, die nun vor dem Bundesverwaltungsgericht Erfolg hatte:

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Das angegriffene Urteil des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts beruht auf der Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG. Das Oberverwaltungsgericht hätte die Beschränkung der Wählbarkeit von Einwohnern des Antragsgegners mit Migrationshintergrund ohne deutsche Staatsangehörigkeit oder gesichertes Aufenthaltsrecht am Verhältnismäßigkeitsprinzip und nicht lediglich am Maßstab des Willkürverbots messen müssen. Art. 3 Abs. 1 GG gebietet dem Normgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Daraus ergeben sich je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die von gelockerten auf das Willkürverbot beschränkten Bindungen bis hin zu strengen Verhältnismäßigkeitserfordernissen reichen2. Differenzierungen bedürfen stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Differenzierungsziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind. Art. 3 Abs. 1 GG gebietet nicht nur, dass die Ungleichbehandlung an ein der Art nach sachlich gerechtfertigtes Unterscheidungskriterium anknüpft, sondern verlangt auch für das Maß der Differenzierung einen inneren Zusammenhang zwischen den vorgefundenen Verschiedenheiten und der differenzierenden Regelung, der sich als sachlich vertretbarer Unterscheidungsgesichtspunkt von hinreichendem Gewicht erweist. Der Gleichheitssatz ist dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten oder Normbetroffenen im Vergleich zu einer anderen anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die unterschiedliche Behandlung rechtfertigen können3.

Dabei gilt ein stufenloser, am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab, dessen Inhalt und Grenzen sich nicht abstrakt, sondern nur nach den jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereichen bestimmen lassen. Eine strengere Bindung des Gesetzgebers kann sich aus den jeweils betroffenen Freiheitsrechten ergeben4. Die verfassungsrechtlichen Anforderungen verschärfen sich zudem, je weniger die Merkmale, an die die Differenzierung anknüpft, für den Einzelnen verfügbar sind oder je mehr sie sich denen des Art. 3 Abs. 3 GG annähern5. Eine strenge Bindung an die Erfordernisse des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gilt schließlich auch dann, wenn eine Differenzierung unmittelbar oder mittelbar zu einer Ungleichbehandlung von Personengruppen führt6.

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Das angegriffene Urteil geht davon aus, eine strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung wegen eines für den Einzelnen nicht oder kaum verfügbaren Differenzierungsmerkmals könne nur bei einer Ungleichbehandlung wegen persönlicher Merkmale vorliegen. Diese Annahme trifft nicht zu. Sie lässt unberücksichtigt, dass auch andere Differenzierungskriterien dem Einfluss des Betroffenen ganz oder weitgehend entzogen sein können7. Zu den nicht oder kaum verfügbaren Differenzierungsmerkmalen gehört nach der neueren bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung auch der aufenthaltsrechtliche Status nicht freizügigkeitsberechtigter Personen, also solcher, die weder über die deutsche Staatsangehörigkeit verfügen noch nach unionsrechtlichen Vorschriften Freizügigkeit genießen8. Dies gilt besonders für Inhaber humanitärer Aufenthaltstitel, weil etwa das Bestehen zielstaatsabhängiger Abschiebungshindernisse oder die Fortdauer kriegerischer Auseinandersetzungen im Heimatstaat durch sie offensichtlich nicht beeinflusst werden können. Auch die Integration in den Arbeitsmarkt ist nicht zwangsläufig durch eigenes Verhalten zu beeinflussen, weil sie auch von der jeweiligen Arbeitsmarktsituation und der familiären Lage der Betroffenen abhängen kann9.

Danach hätte das angegriffene Urteil sich nicht auf eine Willkürkontrolle beschränken dürfen. Vielmehr hätte es die Ungleichbehandlung am Maßstab der Verhältnismäßigkeit prüfen müssen. Das Bestehen eines gesicherten Aufenthaltsrechts im Sinne des § 16c Abs. 4 der Hauptsatzung des Antragsgegners ist für die Betroffenen nicht verfügbar. Die von diesem Begriff umfasste unionsrechtliche Freizügigkeitsberechtigung ist regelmäßig aus der Unionsbürgerschaft und den daran anknüpfenden Rechten von Unionsbürgern und deren Angehörigen abgeleitet; damit ist sie – abgesehen von ihrer Nähe zu den Merkmalen des Art. 3 Abs. 3 GG – vom Einzelnen ebenso wenig zu beeinflussen wie nach der eben dargestellten Rechtsprechung der Aufenthaltsstatus nicht freizügigkeitsberechtigter Personen.

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Das angegriffene Urteil des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts erweist sich nicht aus anderen Gründen als richtig (§ 144 Abs. 4 VwGO). § 16c Abs. 4 Buchst. c der Hauptsatzung des Antragsgegners verstößt gegen Art. 3 Abs. 1 GG, soweit er die Wählbarkeit von Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit vom Bestehen eines gesicherten Aufenthaltsrechts im dort definierten Sinne abhängig macht. Diese Differenzierung nach dem Aufenthaltsstatus ist unverhältnismäßig.

Allerdings verfolgt sie ein verfassungsrechtlich legitimes Ziel. Das Oberverwaltungsgericht hat die inhaltsgleiche Vorläuferregelung des § 16c Abs. 4 Buchst. c der Hauptsatzung des Antragsgegners dahingehend verstanden, dass sie die Begleitung mittel- oder langfristiger Vorhaben der Integrationsarbeit sicherstellen soll. An diese teleologische Auslegung der irrevisiblen Vorschrift ist das Bundesverwaltungsgericht nach § 173 Satz 1 VwGO i. V. m. § 560 ZPO gebunden. Die vom Satzungsgeber bezweckte Sicherung der kontinuierlichen Mitwirkung im Interesse der Funktionsfähigkeit seines Integrationsbeirates stellt ein verfassungsrechtlich legitimes Ziel dar.

Das Unterscheidungskriterium des gesicherten Aufenthaltsrechts ist aber nicht geeignet, dieses Ziel zu verwirklichen. Der Aufenthaltsstatus eignet sich für sich genommen nicht als Grundlage einer Prognose der voraussichtlichen Dauer des Aufenthalts im Landkreis und der damit verbundenen Möglichkeit, über einen längeren Zeitraum kontinuierlich an der Arbeit des Integrationsbeirates mitzuwirken. Die Gründe, die zur Erteilung eines lediglich befristeten Aufenthaltstitels führen, sind nicht typischerweise vorübergehender Natur. Ihr Wegfall und der Zeitpunkt des Wegfalls des Aufenthaltszwecks sind ungewiss. Außerdem bestehen jeweils gesetzliche Verlängerungs- und Verfestigungsmöglichkeiten10. Auch der Wegfall der häufigsten11 Duldungsgründe der tatsächlichen oder rechtlichen Unmöglichkeit der Abschiebung ist ungewiss. Das gilt etwa für Fälle einer alters- oder gesundheitsbedingt fehlenden Reise- oder Transportfähigkeit und für Fälle der ungeklärten Identität oder fortdauernden Passlosigkeit. Darüber hinaus bestehen für die Inhaber von Duldungen wesentliche rechtliche Möglichkeiten zur Verlängerung- und Verfestigung ihres Aufenthaltes. Hierzu zählt unter anderem die Duldung zur Fortsetzung einer qualifizierten Berufsausbildung nach § 60c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG. Schließlich ist bei der Prognose der Aufenthaltsdauer neben der rechtlichen Ausgestaltung des jeweiligen Aufenthaltsstatus auch dessen Einbindung in die tatsächlichen Verhältnisse zu berücksichtigen. Auch diese können für eine positive Aufenthaltsprognose sprechen12.

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Das Bundesverwaltungsgericht kann in der Sache selbst entscheiden (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO), weil weiterer Aufklärungsbedarf nicht besteht. Der dargelegte Gleichheitsverstoß führt zur Feststellung, dass § 16c Abs. 4 Buchst. c der Hauptsatzung des Antragsgegners vom 21.07.2021 insoweit unwirksam ist, als über die darin genannte Voraussetzung eines Migrationshintergrundes hinaus die deutsche Staatsangehörigkeit oder ein gesichertes Aufenthaltsrecht gefordert wird.

Die Unwirksamkeit beschränkt sich auf die von den Antragstellern angegriffene Teilregelung. Diese ist nach dem Rechtsgedanken des § 139 BGB vom Rest der Norm abtrennbar13. Außerdem ist anzunehmen, dass der verbleibende Teil der Norm auch ohne den für unwirksam erklärten Teil erlassen worden wäre14.

Der angegriffene Teil von § 16c Abs. 4 Buchst. c der Hauptsatzung des Antragsgegners ist vom Rest der Vorschrift abtrennbar. Er ist mit diesem nicht so verflochten, dass die Restbestimmung ohne den nichtigen Teil nicht sinnvoll bestehen bleiben könnte15. § 16c Abs. 4 Buchst. c der Hauptsatzung des Antragsgegners trifft auch ohne die gleichheitswidrige Beschränkung der Wählbarkeit von Einwohnern des Antragsgegners mit Migrationshintergrund eine vollständige Regelung, die die vom Satzungsgeber bezweckte Mitwirkung sachkundiger Einwohner mit eigener Migrationserfahrung an den Aufgaben des Integrationsbeirates gewährleistet.

Es ist anzunehmen, dass der Antragsgegner den verbleibenden Teil von § 16c Abs. 4 Buchst. c seiner Hauptsatzung auch ohne den für unwirksam erklärten Teil erlassen hätte. Insoweit ist auf den nach objektiven Anhaltspunkten zu bestimmenden mutmaßlichen Willen des Normgebers abzustellen16. Dieser ist vorliegend auf den Erlass der Vorschrift ohne den für unwirksam erklärten Teil gerichtet. Darauf deutet der Erlass der ursprünglichen Regelung über die Wählbarkeit zum Integrationsbeirat, welche die hier verfahrensgegenständlichen Einschränkungen der Wählbarkeit nicht enthielt (§ 2 Abs. 1 Buchst. c IBO). Er spricht dafür, dass der Satzungsgeber eher auf die rechtswidrige Einschränkung der Wählbarkeit als auf die Beteiligung der Personen mit Migrationshintergrund als sachkundigen Betroffenen verzichtet hätte.

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Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 29. November 2022 – 8 CN 1.22

  1. Sächs.OVG, Urteil vom 13.10.2020 – 4 C 20/19[]
  2. BVerfG, Beschluss vom 07.02.2012 – 1 BvL 14/07, BVerfGE 130, 240 <254>[]
  3. BVerwG, Urteil vom 06.04.2022 – 8 C 9.21, NVwZ 2022, 1644 Rn. 24[]
  4. BVerwG, Urteil vom 06.04.2022 – 8 C 9.21, NVwZ 2022, 1644 Rn. 25[]
  5. stRspr, vgl. BVerfG, Urteile vom 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BVerfGE 138, 136 Rn. 121 f.; und vom 26.05.2020 – 1 BvL 5/18, BVerfGE 153, 358 Rn. 94 f.[]
  6. BVerfG, Beschluss vom 07.05.2013 – 2 BvR 909, 1981/06 u. a., BVerfGE 133, 377 Rn. 75[]
  7. vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 26.03.2019 – 1 BvR 673/17, BVerfGE 151, 101 Rn. 64 f. zur Stiefkindadoption[]
  8. BVerfG, Beschlüsse vom 06.07.2004 – 1 BvL 4/97 u. a., BVerfGE 111, 160 <169 f.> und vom 28.06.2022 – 2 BvL 9/14 u. a., NVwZ 2022, 1452 Rn. 87[]
  9. BVerfG, Beschluss vom 28.06.2022 – 2 BvL 9/14 u. a., NVwZ 2022, 1452 Rn. 87[]
  10. vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 06.07.2004 – 1 BvL 4/97 u. a., BVerfGE 111, 160 <174 f.> vom 10.07.2012 – 1 BvL 2/10 u. a., BVerfGE 132, 72 Rn. 27 f.; und vom 28.06.2022 – 2 BvL 9/14 u. a., NVwZ 2022, 1452 Rn. 90 ff.[]
  11. vgl. BT-Drs.19/28234 S. 33[]
  12. BVerfG, Beschluss vom 04.12.2012 – 1 BvL 4/12, BVerfGE 132, 360 Rn. 27[]
  13. vgl. BVerwG, Beschluss vom 18.07.1989 – 4 N 3.87, NVwZ 1990, 157 <158>[]
  14. vgl. BVerwG, Beschluss vom 20.08.1991 – 4 NB 3.91, NVwZ 1992, 567[]
  15. vgl. zu diesem Kriterium BVerwG, Urteil vom 02.08.2012 – 7 CN 1.11, Buchholz 445.4 § 51 WHG Nr. 1 Rn. 28[]
  16. vgl. BVerwG, Beschluss vom 28.07.2015 – 9 B 17.15, Buchholz 401.84 Benutzungsgebühren Nr. 114 Rn. 9[]
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Bildnachweis:

  • Bundesverwaltungsgericht: Robert Windisch