Wenn der Gesetzgeber der Verfassungsbeschwerde zuvorkommt…

Hebt der Gesetzgeber die mit einer Verfassungsbeschwerde angegriffene Gesetzesnorm auf, hat sich die Verfassungsbeschwerde damit regelmäßig erledigt. Das Bundesverfassungsgericht hatte sich nun jedoch noch mit der Frage zu beschäftigen, ob dem Beschwerdeführer eine Auslagenerstattung zusteht, wenn sich die Verfassungsbeschwerde wegen des Aufhebens der angegriffenen Gesetzesnorm erledigt hat.

Wenn der Gesetzgeber der Verfassungsbeschwerde zuvorkommt…

Die Beschwerdeführer des jetzt vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Falls wenden sich mit ihrer Verfassungsbeschwerde gegen Art. 34a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3 des bayerischen Polizeiaufgabengesetzes (PAG) in der bis zum 31. Juli 2009 geltenden Fassung, der die Voraussetzungen der Datenerhebung durch Überwachung und Aufzeichnung der Telekommunikation regelt. Die Norm ist durch § 1 Nr. 6a des Gesetzes zur Änderung des Polizeiaufgabengesetzes, des Bayerischen Verfassungsschutzgesetzes und des Bayerischen Datenschutzgesetzes vom 27. Juli 2009 aufgehoben worden.

Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, jedoch die den Beschwerdeführern im Verfassungsbeschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen dem Freistaat Bayern auferlegt:

Nichtannahme wegen Erledigung

Die Verfassungsbeschwerde, die sich gegen Art. 34a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3 bayPAG in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Polizeiaufgabengesetzes und des Parlamentarischen Kontrollgremium-Gesetzes vom 24. Dezember 20051 richtet und sich durch die Aufhebung von Art. 34a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 bayPAG durch § 1 Nr. 6 Buchstabe a des Gesetzes zur Änderung des Polizeiaufgabengesetzes, des Bayerischen Verfassungsschutzgesetzes und des Bayerischen Datenschutzgesetzes vom 27. Juli 20092 erledigt hat, ist nicht zur Entscheidung anzunehmen.

Weiterlesen:
Rücktransport ehemaliger Erntehelfer

Annahmegründe nach § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Der Verfassungsbeschwerde kommt weder grundsätzliche Bedeutung zu noch ist ihre Annahme zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt. Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, weil ein Rechtsschutzbedürfnis für eine Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Regelungen nach Aufhebung von Art. 34a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 PAG nicht mehr besteht. Dies gilt auch in Bezug auf Art. 34a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 PAG, der nur insoweit Gegenstand der Verfassungsbeschwerde ist, als er an Art. 34a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 PAG anknüpfte.

Die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde setzt voraus, dass im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts für die Aufhebung des angegriffenen Hoheitsakts oder wenigstens für die Feststellung seiner Verfassungswidrigkeit ein Rechtsschutzbedürfnis besteht3. Ist wie hier das mit der Verfassungsbeschwerde ursprünglich verfolgte Begehren erledigt, so besteht ein Rechtsschutzbedürfnis dann, wenn andernfalls die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage von grundsätzlicher Bedeutung unterbliebe und der gerügte Grundrechtseingriff besonders schwer wiegt; ferner besteht das Rechtsschutzbedürfnis fort, wenn eine Wiederholung der angegriffenen Maßnahme zu besorgen ist oder wenn die gegenstandslos gewordene Maßnahme den Beschwerdeführer weiterhin beeinträchtigt4. Nach diesen Maßstäben besteht das für eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Regelungen erforderliche Rechtsschutzbedürfnis nicht mehr.

Abgesehen davon, dass für nicht mehr geltendes Recht in der Regel schon kein über den Einzelfall hinausgreifendes Interesse besteht, seine Verfassungsmäßigkeit auch noch nach seinem Außerkrafttreten zu klären, und sich deshalb Fragen von grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Bedeutung insoweit regelmäßig nicht stellen5, ist nicht ersichtlich, dass die Beschwerdeführer durch die angegriffenen Regelungen einem besonders schwer wiegenden Grundrechtseingriff ausgesetzt gewesen wären.

Weiterlesen:
Verfassungsbeschwerde - und die verfristete Anhörungsrüge

Zwar stellen die durch diese Regelungen ermöglichten Datenerhebungen durch Überwachung und Aufzeichnung der Telekommunikation grundsätzlich schwer wiegende Grundrechtseingriffe dar6. Die Beschwerdeführer legen aber weder dar, solchen Maßnahmen in der Zeit bis zur Aufhebung von Art. 34a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 PAG ausgesetzt gewesen zu sein, noch ist dies sonst ersichtlich. Dass im Hinblick auf die in der aufgehobenen Regelung liegende Rechtsgrundlage für Telekommunikationsüberwachungen einzelne Telefongespräche unterblieben sind, wie die Beschwerdeführer geltend machen, ist Ausdruck eines im Vergleich zu solchen Maßnahmen weit weniger schwer wiegenden Eingriffs.

Schließlich bestehen Anhaltspunkte für eine fortbestehenende Beeinträchtigung der Grundrechte der Beschwerdeführer ebenso wenig wie für eine Wiederholungsgefahr.

Auslagenerstattung trotz Nichtannahme

Trotz der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung entspricht es allerdings der Billigkeit, die Erstattung der Auslagen der Beschwerdeführer im Verfassungsbeschwerdeverfahren nach § 34a Abs. 3 BVerfGG anzuordnen.

Für die Entscheidung nach § 34a Abs. 3 BVerfGG kommt dem Grund, der zur Erledigung der Verfassungsbeschwerde geführt hat, wesentliche Bedeutung zu. Beseitigt die öffentliche Gewalt von sich aus den mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Hoheitsakt, so kann, falls keine anderweitigen Gründe ersichtlich sind, davon ausgegangen werden, dass sie das Begehren des Beschwerdeführers selbst für berechtigt erachtet hat7. In einem solchen Fall ist es billig, die öffentliche Hand ohne weitere Prüfung an ihrer Auffassung festzuhalten und dem Beschwerdeführer die Erstattung seiner Auslagen in gleicher Weise zuzubilligen, wie wenn seiner Verfassungsbeschwerde stattgegeben worden wäre8.

Weiterlesen:
Verfassungsbeschwerde gegen ein Strafurteil - und die Frage der Fristwahrung

Nach diesen Grundsätzen entspricht es der Billigkeit, die Erstattung der Auslagen der Beschwerdeführer im Verfassungsbeschwerdeverfahren anzuordnen. Denn wie sich aus der Begründung des § 1 Nr. 6 Buchstabe a des Gesetzes zur Änderung des Polizeiaufgabengesetzes, des Bayerischen Verfassungsschutzgesetzes und des Bayerischen Datenschutzgesetzes vom 27. Juli 20092 ergibt, mit dem Art. 34a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 PAG aufgehoben worden ist, bestanden im Hinblick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung. Diese hat der Gesetzgeber zum Anlass genommen, die Vorschrift vorsorglich zu streichen9. Damit hat er das Begehren der Beschwerdeführer als wahrscheinlich berechtigt erachtet. Dies rechtfertigt es, die Auslagenerstattung in gleicher Weise anzuordnen, wie wenn den Verfassungsbeschwerden stattgegeben worden wäre.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 4. November 2010 – 1 BvR 661/06

  1. GVBl S. 641[]
  2. GVBl S. 380[][]
  3. vgl. BVerfGE 50, 244, 247 f.; ständige Rechtsprechung[]
  4. vgl. BVerfGE 50, 244, 248; 91, 125, 133; 99, 129, 138; 119, 309, 317 f.; BVerfG, Beschluss vom 01.03.2010 – 1 BvR 2380/09; ständige Rechtsprechung[]
  5. vgl. BVerfGE 91, 186, 200; BVerfG, Beschluss vom 01.03.2010 – 1 BvR 2380/09[]
  6. vgl. BVerfGE 113, 348, 382[]
  7. vgl. BVerfGE 85, 109, 114 f.; 91, 146, 147[]
  8. vgl. BVerfGE 85, 109, 114 f.; BVerfG, Beschluss vom 16.03.2004 – 1 BvR 1778/01[]
  9. vgl. LT-Drs. 16/1271, S. 7[]
Weiterlesen:
Befangenheit - weil man schon einmal abgewiesen wurde