Der Nachweis, dass ein Prüfungsteilnehmer seiner Bearbeitung die internen Lösungshinweise zugrunde gelegt und damit über die Eigenständigkeit seiner Prüfungsleistung getäuscht hat, ist nach den Regeln des Beweises des ersten Anscheins erbracht, wenn die Bearbeitung nach Formulierungen, Aufbau und Gedankenführung weitgehend mit den Lösungshinweisen übereinstimmt und eine andere Erklärung als deren Kenntnis nicht in Betracht kommt.

Die Tatsachengerichte haben nach den Grundsätzen der freien Beweiswürdigung zu entscheiden, ob die Voraussetzungen des Anscheinsbeweises erfüllt sind.
ie allgemeinen Voraussetzungen für die Anwendung des Beweises des ersten Anscheins zum erleichterten Nachweis bestimmter Tatsachen im Verwaltungsprozess sind in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt. Hierfür müssen zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Zum einen muss die nachzuweisende Tatsache auf einen typischen Sachverhalt gestützt werden können, der aufgrund allgemeinen Erfahrungswissens zu dem Schluss berechtigt, dass die Tatsache vorliegt. Zum anderen dürfen keine tatsächlichen Umstände gegeben sein, die ein atypisches Geschehen im Einzelfall ernsthaft möglich erscheinen lassen. Die Verwaltungsgerichte haben nach § 86 Abs. 1 VwGO von Amts wegen zu ermitteln, ob ein die Schlussfolgerung tragender Sachverhalt und, wenn sie davon überzeugt sind, ob tatsächliche Anhaltspunkte für eine vom Regelfall abweichende Erklärung vorliegen [1].
Davon ausgehend ist auch geklärt, dass nach den Regeln des Anscheinsbeweises nachgewiesen werden kann, dass ein Prüfungsteilnehmer über die Eigenständigkeit seiner schriftlichen Prüfungsleistung getäuscht hat. Stimmt die Bearbeitung nach Formulierungen, Aufbau und Gedankenführung weitgehend mit den nur für die Prüfer bestimmten Lösungshinweisen überein, berechtigt dieser Sachverhalt typischerweise zu dem Schluss, der Prüfungsteilnehmer habe die Lösungshinweise gekannt und seiner Bearbeitung zugrunde gelegt. Für die Aufklärung, ob eine andere Ursache für die weitgehende Übereinstimmung in Betracht kommt, bedarf es der Mitwirkung des Prüfungsteilnehmers. Nur er kann eine plausible andere Erklärung für die Übereinstimmung beibringen. Ergibt die Sachaufklärung keine Anhaltspunkte, die eine andere Ursache als die Kenntnis der Lösungshinweise nachvollziehbar erscheinen lassen, steht fest, dass der Prüfungsteilnehmer keine eigenständige Prüfungsleistung erbracht, sondern dies vorgespiegelt hat. Eine solche Bearbeitung ist von vornherein ungeeignet, eine Aussage über die Kenntnisse und Fähigkeiten zu treffen, deren Nachweis die Prüfung dient [2].
Auch für den Beweis des ersten Anscheins gilt der Grundsatz der freien Beweiswürdigung nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Danach ist es Aufgabe der Tatsachengerichte, aufgrund einer Sachverhalts- und Beweiswürdigung des gesamten Prozessstoffes darüber zu entscheiden, ob eine Tatsache nach den Regeln des Anscheinsbeweises erwiesen ist. Hierfür müssen sie zu der Überzeugung gelangen, dass ein Sachverhalt feststeht, der typischerweise auf das Vorliegen der nachzuweisenden Tatsache schließen lässt. Ist dies der Fall, müssen sie sich darüber klar werden, ob im Einzelfall ein atypisches Geschehen ernsthaft möglich erscheint [3].
Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO enthält keine generellen Maßstäbe für den Aussage- und Beweiswert einzelner Beweismittel, Erklärungen und Indizien. Insbesondere besteht keine Rangordnung dieser Erkenntnisse; sie sind grundsätzlich gleichwertig. Die Tatsachengerichte müssen Bedeutung und Gewicht der verschiedenen Bestandteile des Prozessstoffes nach der inneren Überzeugungskraft der Gesamtheit der in Betracht kommenden Erwägungen bestimmen. Dabei sind sie ausschließlich an Logik (Denkgesetze) und Naturgesetze gebunden und müssen gedankliche Brüche und Widersprüche vermeiden [4]. Nach diesen Regeln haben die Tatsachengerichte zu beurteilen, ob Formulierungen, Aufbau und Gedankenführung einer schriftlichen Prüfungsleistung so weitgehend mit den nur für die Prüfer bestimmten Lösungshinweisen übereinstimmen, dass der Schluss berechtigt ist, der Prüfungsteilnehmer habe ihr die Lösungshinweise zugrunde gelegt. Sind die Tatsachengerichte von der weitgehenden Übereinstimmung überzeugt, haben sie die Regeln der Beweiswürdigung auch für die sich anschließende Beurteilung anzuwenden, ob eine andere Erklärung für die Übereinstimmung als die Kenntnis der Lösungshinweise ernsthaft möglich ist.
Die tatrichterliche Beweiswürdigung ist vom Bundesverwaltungsgericht nicht daraufhin nachzuprüfen, ob die Gewichtung einzelner Umstände und deren Gesamtwürdigung überzeugend erscheinen. Dementsprechend kann sie von einem Verfahrensbeteiligten nicht mit dem Argument in Frage gestellt werden, andere Gewichtungen und Folgerungen lägen näher oder seien plausibler. Die Tatsachengerichte überschreiten den ihnen eröffneten Wertungsrahmen nur dann, wenn ihre Beweiswürdigung gesetzliche Beweisregeln außer Acht lässt, objektiv willkürlich ist, gegen die Gesetze der Logik verstößt, Widersprüche enthält oder einen allgemeinen Erfahrungssatz missachtet oder irrtümlich annimmt [5]. Auch dürfen die Tatsachengerichte keine festgestellten Tatsachen übergehen, die nach ihrer materiellen Rechtsauffassung entscheidungserheblich sind [6].
Die Ansicht, dass ein weitgehend übereinstimmender Inhalt von Prüfungsleistung und Lösungshinweisen für sich genommen nicht ausreiche, um den Schluss zu rechtfertigen, der Prüfungsteilnehmer habe die Lösungshinweise gekannt, so dass hinzukommen müsse, dass feststehe, dass als Informationsquelle für den geprüften Stoff ausschließlich die Lösungshinweise, nicht aber andere zugängliche Quellen wie etwa Lernmaterialien in Betracht kämen, übersieht, ass die Anwendung der Regeln des Anscheinsbeweises nicht auf der Themen- und Inhaltsgleichheit von Prüfungsleistung und Lösungshinweisen, sondern auf der weitgehenden Deckungsgleichheit der einzelnen Formulierungen sowie des Aufbaus und der Gedankenführung beruht. Die Prüfungsleistung muss nach Aufmachung und gedanklicher Abfolge weitgehend ein Abbild der Lösungshinweise sein. Erst eine derart weitgehende Übereinstimmung lässt den Schluss zu, der Prüfungsteilnehmer habe keine eigenständige Leistung erbracht, sondern stattdessen die Lösungshinweise übernommen. Es liegt auf der Hand, dass die dadurch begründete Anwendung des Anscheinsbeweises nicht daran scheitern kann, dass der geprüfte Stoff auch anderen zugänglichen Quellen entnommen werden kann. Dies ist unverzichtbar, um es den Prüfungsteilnehmern zu ermöglichen, sich auf die Prüfung vorzubereiten.
Im Übrigen ist es mit den dargestellten Grundsätzen der freien Beweiswürdigung nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO unvereinbar, einzelnen Indizien unabhängig von der Lage im Einzelfall einen generellen Aussage- und Beweiswert zuzuerkennen oder abzusprechen. Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung lässt es nicht zu, bestimmte Unterlagen ohne Berücksichtigung ihres Inhalts generell als Beweismittel für die Erschütterung des Anscheinsbeweises auszuschließen. Ob der erste Anschein, dass der Prüfungsteilnehmer die Lösungshinweise gekannt hat, durch Lernmaterialien erschüttert werden kann, ist eine Frage der Beweiswürdigung im Einzelfall.
BVerwG – Beschluss vom 23. Januar 2018 – 6 B 67.17
- stRspr; vgl. nur BVerwG, Urteil vom 24.08.1999 – 8 C 24.98, NVwZ-RR 2000, 256[↩]
- BVerwG, Beschluss vom 20.02.1984 – 7 B 109.83, NVwZ 1985, 191; Niehues/Fischer/Jeremias, Prüfungsrecht, 6. Aufl.2014, Rn. 237 mit Nachweisen zur Rechtsprechung[↩]
- BVerwG, Urteil vom 24.08.1999 – 8 C 24.98, NVwZ-RR 2000, 256[↩]
- stRspr; vgl. nur BVerwG, Urteile vom 18.07.1986 – 4 C 40 – 45.82, NVwZ 1987, 217; und vom 03.05.2007 – 2 C 30.05, NVwZ 2007, 1196 Rn. 16[↩]
- stRspr; vgl. nur BVerwG, Urteil vom 16.05.2012 – 5 C 2.11, BVerwGE 143, 119 Rn. 18[↩]
- stRspr; vgl. BVerwG, Urteile vom 02.02.1984 – 6 C 134.81, BVerwGE 68, 338, 339; und vom 05.07.1994 – 9 C 158.94, BVerwGE 96, 200, 208 f.[↩]