Beim Widerruf einer Einbürgerungszusicherung muss, wenn er die Wiedererlangung der Unionsbürgerschaft verhindert, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt sein.

Grundsätzlich ist es jedoch Sache des Mitgliedstaats, bei dem die betreffende Person die Entlassung aus der Staatsangehörigkeit beantragt, um die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats erwerben zu können, sicherzustellen, dass seine Entscheidung, die auf diesen Antrag ergeht, erst in Kraft tritt, wenn die neue Staatsangehörigkeit tatsächlich erworben wurde.
Dieser Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union lag ein Fall aus Österreich zugrunde: Im Jahr 2008 beantragte JY, eine damals estnische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Österreich, die Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft. Mit Bescheid vom 11. März 2014 sicherte ihr die damals zuständige Niederösterreichische Landesregierung die Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft für den Fall zu, dass sie binnen zwei Jahren das Ausscheiden aus dem estnischen Staatsbürgerschaftsverband nachweise. JY legte fristgemäß die Bestätigung vor, dass sie am 27. August 2015 aus dem estnischen Staatsbürgerschaftsverband entlassen worden sei. Seit diesem Zeitpunkt ist JY staatenlos. Mit Bescheid vom 6. Juli 2017 widerrief die nunmehr zuständig gewordene Wiener Landesregierung den Bescheid vom 11. März 2014 gemäß dem nationalen Recht und wies das Ansuchen von JY um Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft ab. Sie begründete dies damit, dass JY die im nationalen Recht vorgesehenen Voraussetzungen für die Verleihung der Staatsbürgerschaft nicht mehr erfülle. JY habe nämlich, nachdem ihr die Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft zugesichert worden sei, zwei schwerwiegende Verwaltungsübertretungen begangen, indem sie zum einen an ihrem Fahrzeug die Begutachtungsplakette nicht angebracht habe und zum anderen in alkoholisiertem Zustand gefahren sei. Ferner habe sie acht vor Erteilung dieser Zusicherung begangene Verwaltungsübertretungen zu vertreten.
Da ihre Beschwerde gegen diesen Bescheid abgewiesen wurde, erhob JY Revision an den österreichischen Verwaltungsgerichtshof. Dieser hält nach österreichischem Recht unter Berücksichtigung der von JY vor und nach der Zusicherung der österreichischen Staatsbürgerschaft begangenen Verwaltungsübertretungen die Voraussetzungen für den Widerruf dieser Zusicherung für gegeben. Er sieht sich jedoch vor die Frage gestellt, ob die Situation, in der sich JY befindet, unter das Unionsrecht fällt und ob die zuständige Verwaltungsbehörde beim Erlass ihres Bescheids über den Widerruf der Einbürgerungszusicherung, der JY daran hindert, die Unionsbürgerschaft wiederzuerlangen, das Unionsrecht beachten musste, insbesondere, im Hinblick auf die Folgen dieses Bescheids für die Situation von JY, den darin verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Unter diesen Umständen hat der Verwaltungsgerichtshof beschlossen, den Gerichtshof um Auslegung des Unionsrechts zu ersuchen.
Im Wege eines solchen Vorabentscheidungsersuchens können die Gerichte der Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof der Europäischen Union Fragen nach der Auslegung des europäischen Unionsrechts oder nach der Gültigkeit einer Handlung der Europäischen Union vorlegen. Der Unionsgerichtshof entscheidet dabei nur über die vorgelegte Rechtsfrage, nicht auch über den nationalen Rechtsstreit. Es ist und bleibt vielmehr Sache des nationalen Gerichts, über die Rechtssache im Einklang mit der Entscheidung des Unionsgerichtshofs zu entscheiden. Die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden.
In seinem Urteil der Großen Kammer legt der Gerichtshof der Europäischen Union Art. 20 AEUV im Rahmen seiner bisherigen Rechtsprechung1 zu den im Hinblick auf das Unionsrecht bestehenden Verpflichtungen der Mitgliedstaaten im Bereich des Erwerbs und des Verlusts der Staatsangehörigkeit aus:
Als Erstes befindet der Unionsgerichtshof, dass die Situation einer Person, die die Staatsangehörigkeit nur eines Mitgliedstaats besitzt und diese mit der Folge des Verlusts ihres Unionsbürgerstatus zwecks Erwerbs der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats aufgibt, nachdem ihr die Behörden dieses Mitgliedstaats die Verleihung von dessen Staatsbürgerschaft zugesichert haben, ihrem Wesen und ihren Folgen nach unter das Unionsrecht fällt, wenn diese Zusicherung widerrufen wird und die betroffene Person infolgedessen daran gehindert wird, den Unionsbürgerstatus wiederzuerlangen.
Hierzu stellt der Unionsgerichtshof zunächst fest, dass JY beim Widerruf der besagten Zusicherung staatenlos war und ihren Unionsbürgerstatus verloren hatte. Da der Antrag auf Entlassung aus der Staatsangehörigkeit ihres Herkunftsmitgliedstaats im Rahmen eines Einbürgerungsverfahrens mit dem Ziel des Erwerbs der österreichischen Staatsbürgerschaft gestellt wurde und darauf zurückgeht, dass JY unter Berücksichtigung der ihr erteilten Zusicherung den mit diesem Verfahren verbundenen Anforderungen nachgekommen ist, kann nicht angenommen werden, dass in einer solchen Lage der Unionsbürgerstatus aus freien Stücken aufgegeben wurde. Vielmehr zielt, nachdem der Aufnahmemitgliedstaat die Verleihung seiner Staatsbürgerschaft zugesichert hat, der Antrag auf Entlassung aus der bisherigen Staatsangehörigkeit darauf ab, eine Voraussetzung für den Erwerb der besagten Staatsbürgerschaft zu erfüllen und nach deren Verleihung weiterhin den Unionsbürgerstatus und die damit verbundenen Rechte in Anspruch zu nehmen.
Sodann ist es, wenn die Behörden des Aufnahmemitgliedstaats im Rahmen eines Einbürgerungsverfahrens die Einbürgerungszusicherung widerrufen, der betroffenen Person, die Staatsangehörige nur eines anderen Mitgliedstaats war und ihre ursprüngliche Staatsangehörigkeit aufgegeben hat, um den mit dem Einbürgerungsverfahren verbundenen Anforderungen nachzukommen, unmöglich, die sich aus ihrem Unionsbürgerstatus ergebenden Rechte weiterhin geltend zu machen. Ein solches Verfahren berührt insgesamt den Status, der den Angehörigen der Mitgliedstaaten mit Art. 20 AEUV verliehen wird. Es kann nämlich dazu führen, dass einer Person in der Situation von JY die mit diesem Status verbundenen Rechte verloren gehen, obwohl sie bei Beginn dieses Verfahrens Angehörige eines Mitgliedstaats war und damit den Unionsbürgerstatus innehatte.
Schließlich weist der Unionsgerichtshof darauf hin, dass JY als estnische Staatsangehörige von ihrer Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit Gebrauch gemacht hat, als sie sich in Österreich niederließ, wo sie seit mehreren Jahren wohnt, und führt weiter aus, dass nach der Logik der mit Art. 21 Abs. 1 AEUV geförderten schrittweisen Integration in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats die Situation eines Unionsbürgers, dem in Ausübung seines Rechts auf Freizügigkeit innerhalb der Union aus dieser Bestimmung Rechte erwachsen und der dem Verlust nicht nur dieser Rechte, sondern auch ebendieser Eigenschaft als Unionsbürger ausgesetzt ist, obwohl er sich im Wege der Einbürgerung im Aufnahmemitgliedstaat um eine verstärkte Eingliederung in dessen Gesellschaft bemüht hat, in den Anwendungsbereich der Bestimmungen des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) über die Unionsbürgerschaft fallen muss.
Als Zweites legt der Gerichtshof der Europäischen Union Art. 20 AEUV dahin aus, dass die zuständigen nationalen Behörden und die Gerichte des Aufnahmemitgliedstaats zu prüfen haben, ob der Widerruf, durch den der Verlust des Unionsbürgerstatus für die betreffende Person endgültig wird, im Hinblick auf seine Folgen für die Situation dieser Person mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist. Diesem Erfordernis der Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist nicht genügt, wenn der Widerruf mit straßenverkehrsrechtlichen Verwaltungsübertretungen begründet wird, die nach dem anwendbaren nationalen Recht rein finanziell geahndet werden.
Zu diesem Ergebnis gelangt der Unionsgerichtshof, indem er feststellt, dass, wenn im Rahmen eines in einem Mitgliedstaat eingeleiteten Einbürgerungsverfahrens dieser Mitgliedstaat von einem Unionsbürger die Aufgabe der Staatsangehörigkeit seines Herkunftsmitgliedstaats verlangt, die Ausübung und die praktische Wirksamkeit der Rechte, die diesem Bürger nach Art. 20 AEUV zustehen, erfordern, dass er zu keinem Zeitpunkt Gefahr laufen darf, seinen grundlegenden Status als Unionsbürger deshalb zu verlieren, weil dieses Verfahren betrieben wird. Jeder auch nur vorübergehende Verlust dieses Status nimmt nämlich der betroffenen Person für unbestimmte Zeit die Möglichkeit des Genusses aller mit diesem Status verliehenen Rechte.
Beantragt ein Angehöriger eines Mitgliedstaats die Entlassung aus seiner Staatsangehörigkeit, um die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats erwerben und damit weiterhin den Unionsbürgerstatus genießen zu können, sollte der Herkunftsmitgliedstaat deshalb nicht auf der Grundlage der Einbürgerungszusicherung dieses anderen Mitgliedstaats eine endgültige Entscheidung über das Erlöschen der Staatsangehörigkeit erlassen, ohne sicherzustellen, dass diese Entscheidung erst in Kraft tritt, wenn die neue Staatsangehörigkeit tatsächlich erworben wurde.
Davon abgesehen trifft, wenn der Unionsbürgerstatus bereits vorläufig verloren wurde, weil der Herkunftsmitgliedstaat die betreffende Person im Rahmen eines Einbürgerungsverfahrens aus seiner Staatsangehörigkeit entlassen hat, bevor diese Person tatsächlich die Staatsangehörigkeit des Aufnahmemitgliedstaats erworben hat, die Verpflichtung zur Gewährleistung der praktischen Wirksamkeit von Art. 20 AEUV in erster Linie den letztgenannten Mitgliedstaat. Diese Verpflichtung besteht insbesondere dann, wenn es um die Entscheidung, eine Einbürgerungszusicherung zu widerrufen, geht, die zur Folge haben kann, dass der Verlust des Unionsbürgerstatus endgültig wird. Eine solche Entscheidung kann daher nur aus legitimen Gründen und unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit getroffen werden.
Bei der Untersuchung der Verhältnismäßigkeit ist u. a. zu prüfen, ob eine solche Entscheidung im Verhältnis zur Schwere der von der betroffenen Person begangenen Verstöße gerechtfertigt ist. Was JY betrifft, können die vor der Einbürgerungszusicherung liegenden Verstöße, da sie deren Erteilung nicht entgegenstanden, keine spätere Berücksichtigung finden, um die Widerrufsentscheidung zu tragen. Die nach Erhalt der Einbürgerungszusicherung begangenen Verstöße lassen ihrerseits in Anbetracht ihrer Art und Schwere sowie unter Berücksichtigung des Erfordernisses einer engen Auslegung der Begriffe der öffentlichen Ordnung und der öffentlichen Sicherheit nicht erkennen, dass von JY eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, oder eine Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit Österreichs ausgeht. Rein finanziell ahndbare Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung können nicht belegen, dass die dafür verantwortliche Person eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellt, die es rechtfertigen kann, dass der Verlust ihres Unionsbürgerstatus endgültig wird.
Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil vom 18. Januar 2022 – C-118/20
- EuGH, Urteile vom 2. März 2010, Rottmann, C-135/08; und vom 12. März 2019, Tjebbes u. a., C-221/17[↩]
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- Europäische Union: Udo Pohlmann