Bleibt aufgrund widersprüchlicher tatsächlicher Feststellungen des Tatsachengerichts offen, von welchem Sachverhalt das Gericht im Rahmen seiner Sachverhalts- und Beweiswürdigung überzeugt ist, fehlt es an einer dem § 108 Abs. 1 VwGO genügenden richterlichen Überzeugungsbildung.

Das angefochtene Urteil ist wegen Verstoßes gegen den Überzeugungsgrundsatz (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) rechtsfehlerhaft, wenn es auf widersprüchliche tatsächliche Feststellungen gestützt ist. Das Verfahren ist daher an das Tatsachengericht zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO), um diesem Gelegenheit zur Klärung der im Rahmen der Überzeugungsbildung aufgetretenen Widersprüche zu geben.
Das Verwaltungsgericht verstößt dadurch gegen den Überzeugungsgrundsatz (§ 108 Abs. 1 VwGO), dass es sein Urteil auf einander widerstreitende tatsächliche Feststellungen und Würdigungen stützt, ohne diese inneren Widersprüche aufzulösen.
Die tatrichterliche Sachverhaltswürdigung ist vorrangig Aufgabe des Tatrichters und unterliegt nur eingeschränkter Nachprüfung durch das Revisionsgericht1. Die Freiheit richterlicher Überzeugungsbildung findet ihre Grenzen nicht nur im anzuwendenden Recht und dessen Auslegung, sondern auch in Bestimmungen, die den Vorgang der Überzeugungsbildung leiten2. Hierzu zählen etwa gesetzliche Beweisregeln, allgemeine Erfahrungssätze und die Denkgesetze. Des Weiteren verlangt das Gebot der freien Beweiswürdigung, dass das Gericht seiner Überzeugungsbildung das Gesamtergebnis des Verfahrens zugrunde legt. Das Gericht darf also nicht in der Weise verfahren, dass es einzelne erhebliche Tatsachen oder Beweisergebnisse nicht zur Kenntnis nimmt oder nicht in Erwägung zieht. Danach liegt ein Verstoß gegen dieses Gebot vor, wenn ein Gericht von einem unrichtigen oder unvollständigen Sachverhalt ausgeht, es insbesondere Umstände übergeht, deren Entscheidungserheblichkeit sich ihm hätte aufdrängen müssen, oder sein Urteil zu einer entscheidungserheblichen Frage auf zwei einander widersprechende Tatsachenfeststellungen stützt3. In solchen Fällen fehlt es an einer tragfähigen Grundlage für die innere Überzeugungsbildung des Gerichts4.
So lag es auch in der hier vom Bundesverwaltungsgericht entschiedenen Sprungrevision: Der Widerspruch zwischen den weiterhin für überzeugend gehaltenen eigenen tatsächlichen Feststellungen und Bewertungen zu jenen des Verwaltungsgerichtshofes, die „wenig Überzeugungskraft“ haben sollen, wird nicht aufgelöst. Die einander widerstreitenden Feststellungen und Bewertungen stehen vielmehr beziehungslos nebeneinander, ohne dass das Verwaltungsgericht klarstellt, welchen Sachverhalt es kraft eigener Überzeugungsbildung als zutreffend ansieht. Dann aber fehlt es an einer hinreichend klaren richterlichen Überzeugungsbildung, die das gewonnene Gesamtergebnis des Verfahrens zu tragen geeignet wäre.
Dieser Fehler ist vorliegend auch beachtlich. Keiner abschließenden Erörterung bedarf es im Hinblick auf den Ausschluss der Verfahrensrüge in der Sprungrevision (§ 134 Abs. 4 VwGO), unter welchen Voraussetzungen ein Verstoß gegen § 108 VwGO dem materiellen oder dem Verfahrensrecht zuzuordnen ist5. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sind jedenfalls Fehler in der Sachverhalts- und Beweiswürdigung regelmäßig dem materiellen Recht zuzuordnen6. Das Bundesverwaltungsgericht sieht keinen Anlass, hiervon für den vorliegenden Fall widerstreitender Tatsachenfeststellungen abzurücken.
Da offen ist, von welchem Sachverhalt das Verwaltungsgericht ausgegangen ist, kann das Bundesverwaltungsgericht nicht abschließend selbst entscheiden. Das angefochtene Urteil war aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO), um dem Verwaltungsgericht Gelegenheit zur Auflösung der im Rahmen der Überzeugungsbildung aufgetretenen Widersprüche zu geben.
Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 22. Mai 2019 – 1 C 11.18
- vgl. etwa BVerwG, Urteile vom 29.02.2012 – 7 C 8.11, Buchholz 419.01 § 26 GenTG Nr. 1 Rn. 35, 44; und vom 27.11.2014 – 7 C 20.12, BVerwGE 151, 1 Rn. 43[↩]
- vgl. BVerwG, Beschluss vom 19.08.2014 – 7 B 12.14 5 m.w.N.[↩]
- BVerwG, Urteil vom 18.05.1990 – 7 C 3.90, BVerwGE 85, 155, 158[↩]
- stRspr, vgl. nur BVerwG, Urteile vom 05.07.1994 – 9 C 158.94, BVerwGE 96, 200, 208 f.; und vom 28.02.2007 – 3 C 38.05, BVerwGE 128, 155 Rn. 59[↩]
- s. dazu Berkemann, in: FS Herberger, 2016, S. 75; Kraft, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl.2019, § 108 Rn. 59, 66[↩]
- BVerwG, Urteil vom 27.11.2014 – 7 C 20.12, BVerwGE 151, 1 Rn. 43[↩]
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