Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat gestern entschieden, dass bei der Rücknahme von Aufenthaltserlaubnissen Änderungen der Sach- und Rechtslage, die nach Abschluss des behördlichen Verfahrens eingetreten sind, von den Tatsachengerichten zu berücksichtigen sind. Damit hat das Bundesverwaltungsgericht seine neue Rechtsprechung zur Verlagerung des maßgeblichen Zeitpunkts für die gerichtliche Beurteilung von Ausweisungen1 auch auf die Fälle der Aufenthaltsbeendigung durch Rücknahme oder Widerruf eines unbefristeten Aufenthaltstitels übertragen.

In dem jetzt vom Bundesverwaltungsgericht entschiedenen Verfahren ging es um einen irakischen Staatsangehörigen kurdischer Volkszugehörigkeit, der 1995 in Deutschland als Asylberechtigter und Flüchtling anerkannt worden war und deshalb eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erhalten hatte. 1998 stellte sich heraus, dass er zuvor bereits 1990 unter anderem Namen in Österreich erfolglos ein Asylverfahren betrieben hatte. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (heute: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) nahm daher im Jahr 2000 die Asylanerkennung zurück und widerrief die Flüchtlingsanerkennung wegen nicht mehr bestehender Gefährdung. Daraufhin nahm die Ausländerbehörde der Stadt Göttingen im Jahr 2002 die unbefristete Aufenthaltserlaubnis mit Wirkung für die Zukunft zurück und drohte dem Kläger die Abschiebung in den Irak an. Das öffentliche Interesse an der Beendigung des durch Täuschung erwirkten Aufenthalts überwiege das persönliche Interesse des Klägers an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet.
Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht in Lüneburg2 hat die Aufhebung der Aufenthaltserlaubnis nach § 43 Abs. 1 Nr. 4 AuslG 1990 (jetzt: § 52 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG) wegen Wegfalls der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung einschließlich der darin enthaltenen Ermessensausübung für rechtmäßig gehalten und die hiergegen gerichtete Klage abgewiesen. Bei der Beurteilung der Sach- und Rechtslage hat es entsprechend der bisherigen Rechtsprechung auf den Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung, hier den Widerspruchsbescheid im Jahr 2003, und nicht auf den Zeitpunkt seiner gerichtlichen Entscheidung im Jahr 2008 abgestellt.
Auf die Revision des Klägers entschied gestern das Bundesverwaltungsgericht, dass nunmehr wie bei der Ausweisung auch bei Rücknahme eines Aufenthaltstitels grundsätzlich auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts abzustellen ist. Denn insoweit ist die Interessenlage im Falle einer Aufenthaltsbeendigung, sei es durch Ausweisung, sei es durch Rücknahme oder Widerruf des Aufenthaltstitels, weitgehend gleich. Insbesondere ist ein möglicher Eingriff in das Privat- und Familienleben in all diesen Fällen aufgrund der aktuellen, im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung bestehenden Sach- und Rechtslage zu beurteilen. Zur Nachholung dieser Prüfung wurde der Rechtsstreit an das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 13. April 2010 – 1 C 10.09