In Fällen, in denen gem. § 5 Abs. 1 Satz 2 LBO zulässigerweise auf die Grenze gebaut werden darf, kommt zugunsten des unmittelbar angrenzenden Grundstücksnachbarn dem Rücksichtnahmegebot auch unter den Aspekten ausreichender Belichtung, Besonnung und Belüftung eigenständige Bedeutung zu.

Das in § 34 Abs. 1 BauGB verankerte Gebot der Rücksichtnahme ist verletzt, wenn ein Vorhaben es trotz Einhaltung des Umgebungsrahmens hinsichtlich eines oder mehrerer der Merkmale des § 34 Abs. 1 BauGB an der gebotenen Rücksichtnahme auf die sonstige, d.h. vor allem auf die in seiner unmittelbaren Umgebung vorhandene Bebauung fehlen lässt. Das Rücksichtnahmegebot hat insoweit zunächst objektiv-rechtliche Bedeutung. Nachbarschutz vermittelt es nur insoweit, als – mit den Worten des Bundesverwaltungsgerichts – „in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise auf schutzwürdige Interessen eines erkennbar abgegrenzten Kreises Dritter“ Rücksicht zu nehmen ist. In Nachbarrechtsverfahren kommt es deshalb allein darauf an, ob sich ein Vorhaben in der dargelegten qualifizierten Art und Weise rücksichtslos, d.h. unzumutbar auswirkt. Welche Anforderungen das Gebot der Rücksichtnahme begründet, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist, dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zugute kommt, umso mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen. Abzuwägen ist, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmepflichtigen nach Lage der Dinge zuzumuten ist1. Ob sich ein Vorhaben auf das Nachbargrundstück unzumutbar auswirkt,ist eine Frage des Einzelfalls unter besonderer Berücksichtigung des bauplanungsrechtlich an sich Zulässigen. Denn das Rücksichtnahmegebot ist keine allgemeine Härteklausel, die über den speziellen Vorschriften des Städtebaurechts steht2. Dabei reichen bloße Lästigkeiten für einen Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot nicht aus; vielmehr ist eine qualifizierte Störung im Sinne einer Unzumutbarkeit erforderlich.
Für die Frage, was einerseits dem Beigeladenen als dem Rücksichtnahme-begünstigten und andererseits dem Kläger als dem Rücksichtnahmepflichtigen nach Lage der Dinge zuzumuten ist, ist – im hier entschiedenen Fall – der Doppelhauscharakter beider Häuser in den Blick zu nehmen. Denn die Eigentümer von Reihen- bzw. Doppelhausgrundstücken sind untereinander in besonderer Weise zu einer Art bodenrechtlicher Schicksalsgemeinschaft verbunden und unterliegen daher grundsätzlich einer besonderen gegenseitigen Pflicht zur Rücksichtnahme3. Angesichts des engen nachbarlichen Austauschverhältnisses sind Eigentümer von Doppel- oder Reihenhausgrundstücken zu besonderer Rücksichtnahme insbesondere auf die Interessen der anderen Eigentümer an der Freihaltung der jeweiligen Grundstücksflächen gehalten. In diesem Zusammenhang ist auf die konkrete Situation vor Ort abzustellen. Von Bedeutung sein können beispielsweise die topografischen und meteorologischen Verhältnisse, die Lage der Grundstücke zueinander, die Größe der betroffenen Grundstücke, die konkrete Nutzung der Grundstücke und gegebenenfalls einzelner Grundstücksbereiche, die Schutzbedürftigkeit und -würdigkeit bestehender Nutzungen, die Interessen des Bauherrn sowie die Höhe und Länge vorhandener und geplanter Baukörper. Letztlich bedarf es einer Gesamtbewertung sämtlicher einschlägiger Kriterien, um die Frage der Rücksichtslosigkeit zuverlässig beantworten zu können4.
Vor diesem Hintergrund ist das Rücksichtnahmegebot jedenfalls verletzt, wenn einer der Grundstückseigentümer eines Doppel- oder Reihenhausgrundstücks durch massive An- oder Umbauten das enge nachbarschaftliche Austauschverhältnis einseitig aufhebt oder aus dem Gleichgewicht bringt; ein massiver Anbau, der den Anspruch auf Bewahrung des Doppelhauscharakters verletzt, stellt sich dem Grundstücksnachbarn gegenüber jedenfalls als rücksichtlos dar5.
Das Rücksichtnahmegebot ist jedoch nicht auf diese Fälle beschränkt. Vielmehr gewinnt auch der Aspekt ausreichender Belichtung, Beleuchtung und Besonnung angesichts des engen nachbarlichen Austauschverhältnisses bei Doppel- und Reihenhausgrundstücken besondere Bedeutung.
Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass in Fällen, in denen der Anbau die nach Landesrecht erforderlichen Abstandsflächen – die im Falle zulässiger Grenzbebauung gemäß § 5 Abs. 1 Satz 2 LBO auf Null reduziert sind – einhält, ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot unter Berufung auf Belange der Belichtung, Belüftung und Besonnung regelmäßig ausgeschlossen ist.
Zutreffend ist zwar, dass nach ständiger obergerichtlicher Rechtsprechung in Fällen, in denen ein Bauvorhaben die bauordnungsrechtlich für eine ausreichende Belichtung, Belüftung und Besonnung sowie den Wohnfrieden von Nachbargrundstücken gebotenen Abstandsflächen einhält, für das Gebot der Rücksichtnahme insoweit grundsätzlich kein Raum mehr ist. In Bezug auf eine ausreichende Belichtung, Belüftung und Besonnung ist das Gebot der nachbarlichen Rücksichtnahme vom Landesgesetzgeber in den bauordnungsrechtlichen Abstandsflächenvorschriften konkretisiert worden6.
Dies gilt aber nur „grundsätzlich“, was bedeutet, dass Ausnahmen möglich sein müssen, zumal das bauplanungsrechtliche Bundesrecht nicht zur Disposition des Landesgesetzgebers steht. Die Vorschriften des Bauordnungsrechts liefern insoweit zwar durchaus Anhaltspunkte dafür, ob das bauplanungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme eingehalten ist, ersetzen die konkret auf das nachbarliche Austauschverhältnis abstellende Prüfung nach dem Maßstab des Rücksichtnahmegebotes aber nicht7.
Raum für eine eigenständige Prüfung eines Bauvorhabens am Grundsatz des Rücksichtnahmegebotes trotz Einhaltung der landesrechtlich erforderlichen Abstandsflächen sieht die Rechtsprechung vor allem in Fällen, in denen die Abstandsflächen gegenüber früherem Landesbaurecht nachhaltig verkürzt worden sind; sollen diese nunmehr nur noch ein sicherheitsrechtliches und gesundheitliches Minimum gewährleisten, sei eine Anwendung des Rücksichtnahmegebots daneben gerechtfertigt8. Dieser Rechtsprechung schließt sich das Gericht an; denn je weniger der Landesgesetzgeber bei Regelung des Abstandsflächenrechts nachbarliche Belange wie Belichtung, Belüftung, Besonnung oder nachbarlichen Wohnfrieden in den Blick nimmt, umso größer ist der eigenständige Gehalt des – bundesrechtlichen – Rücksichtnahmegebots, welches durch landesrechtliche Regelungen nur überlagert, nicht aber inhaltlich determiniert werden kann.
Diese Überlegungen aber gewinnen Bedeutung erst recht in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem die Landesbauordnung, hier § 5 Abs. 1 Satz 2 LBO, nicht nur verkürzte Abstandsflächen zulässt, sondern zugunsten besserer baulicher Nutzbarkeit schmaler Grundstücke auf seitliche Grenzabstände sogar gänzlich verzichtet. Denn hier fehlt es gerade an einer auf Landesrecht basierenden Sicherstellung ausreichender Belüftung und Belichtung baulicher Anlagen und nicht bebauter Grundstücksteile auf dem unmittelbar benachbarten Doppel- oder Reihenhausgrundstück.
Zwar dürfte in der Mehrzahl der Fälle ein einseitiger Grenzbau, der die Belichtung und Belüftung des Nachbargrundstücks unzumutbar beeinträchtigt, gleichzeitig aufgrund seiner Massivität den in dem engen nachbarschaftlichen Austauschverhältnis wurzelnden Anspruch des Grundstücksnachbarn auf Bewahrung des Doppelhauscharakters verletzen und sich unter diesem Gesichtspunkt bereits als rücksichtslos darstellen. Auch eine bauliche Erweiterung, die aufgrund ihres Umfangs den Doppelhauscharakter noch bewahrt, aber kann aufgrund ihrer konkreten Ausgestaltung und Lage im Einzelfall erhebliche Auswirkungen auf das Nachbargrundstück im Hinblick auf Belichtung und Besonnung haben, und zwar auch dann, wenn in die Abwägung der gegenseitigen Interessen auch der Umstand in den Blick genommen wird, dass der Grundstücksnachbar seinerseits vom Verzicht auf seitliche Grenzabstände im Sinne besserer baulicher Ausnutzbarkeit seines Grundstücks profitiert und im Hinblick auf mit Doppelhausbebauung typischerweise verbundene Einschränkungen an Belichtung, Belüftung und Besonnung daher weniger schutzwürdig ist.
Die Überprüfung eines nach Landesrecht zulässigen Grenzbaus im Hinblick auf die Gewährleistung ausreichender Belichtung, Belüftung und Besonnung des Nachbargrundstücks unter Berufung auf die Einhaltung landesrechtlicher Abstandsflächen zu unterlassen, bedeutete daher eine unzulässige Verkürzung des bundesrechtlichen Gebotes der Rücksichtnahme. Vielmehr gewinnt das Rücksichtnahmegebot auch unter dem Aspekt Besonnung, Belichtung und Belüftung gerade in Fällen der Doppel- und Reihenhausbebauung eine eigenständige Bedeutung (vgl. zu dieser Problematik mit einem anderen Ansatz: der Verstoß eines grenzständigen Anbaus gegen das planungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme führt dazu, dass nicht nach „planungsrechtlichen Vorschriften“ an die Grenze gebaut werden darf9).
Verwaltungsgericht Freiburg, Urteil vom 25. Juli 2012 – 4 K 2241/11
- st. Rspr., vgl. nur jüngst VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 20.03.2012 – 3 S 223/12, m.w.N.; BVerwG, Urteil vom 28.10.1993 – 4 C 5.93[↩]
- BVerwG, Beschluss vom 11.01.1999 – 4 B 128.98[↩]
- VGH Bad.-Württ., Urteil vom 20.05.2003 – 5 S 2750/01; OVG NRW, Urteil vom 19.07.2010 – 7 A 44/09; Beschluss vom 06.05.2011 – 10 B 29/11[↩]
- OVG NRW, Urteil vom 18.12.2003 – 10 A 2512/01; Urteil vom 19.07.2010 – 7 A 44/09[↩]
- VGH Bad.-Württ., Urteil vom 20.05.2003 – 5 S 2750/01; OVG NRW, Urteil vom 19.04.2012 – 10 A 1035/10[↩]
- vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 16.09.1993 – 4 C 28/91; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 15.04.2008 – 8 S 98/08; OVG Saarland, Beschluss vom 10.05.2012 – 2 B 49/12; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27.02.2012 – 10 S 39.11; Bayer. VGH, Beschluss vom 07.02.2012 – 15 CD 11.2865; OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 24.01.2012 – 2 M 157/11[↩]
- VGH Bad.-Württ., Urteil vom 15.04.2008 – 8 S 98/08; OVG Bremen, Beschluss vom 14.05.2012 – 1 B 65/12; Sächs. OVG, Beschluss vom 20.10.2005 – 1 BD 251/05; OVG NRW, Beschluss vom 09.02.2009 – 10 B 1713/08; vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 11.01.1999 – 4 B 128.98[↩]
- so etwa OVG NRW, Beschluss vom 09.02.2009 – 10 B 1713/08; Urteil vom 09.06.2011 – 7 A 1494/09; Sächs. OVG, Beschluss vom 20.10.2005 – 1 BD 251/05[↩]
- OVG NRW, Beschluss vom 24.04.1995 – 10 B 3161/94 -, BauR 1996, 88[↩]