Mit der Aufhebung der vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärten Entscheidung und der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das zuständige Gericht gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG werden der aufgehobene Hoheitsakt und seine Bestands- und/oder Rechtskraft rückwirkend beseitigt mit der Folge, dass von der verfassungswidrigen Maßnahme keine Rechtswirkungen mehr ausgehen.

Das Ausgangsverfahren wird wieder bei der Stelle neu anhängig, an die das Verfahren zurückverwiesen wird, und dort in den Stand vor dem Erlass der aufgehobenen Entscheidung zurückversetzt1. Es ist dann in den Fällen des § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG Aufgabe des zuständigen Fachgerichts, in einem neuen Rechtszug2 mit verfassungsrechtlich tragfähiger Begründung erneut in der Sache zu entscheiden3.
Bei ihrer Entscheidung sind die Fachgerichte jeweils an die verfassungsrechtliche Beurteilung des Bundesverfassungsgerichts gebunden; das frühere; vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärte und nach § 95 Abs. 2 BVerfGG aufgehobene Judikat des Fachgerichts kann deshalb in der von diesem neu zu treffenden Entscheidung nicht für verfassungsmäßig erklärt werden. Jedoch ist der Inhalt der aus dem Tenor folgenden Bindung gegebenenfalls unter Heranziehung der tragenden Gründe einer Entscheidung zu bestimmen4.
Davon geht auch das Bundesverwaltungsgericht5 im Ansatz zutreffend aus, indem es ausführt, die Bindungswirkung erstrecke sich auf die den Feststellungsausspruch nach § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG tragenden Gründe, soweit diese Auslegung und Anwendung des Grundgesetzes betreffen. Richtig ist ferner, dass das Fachgericht eine vom Bundesverfassungsgericht nach § 95 Abs. 2 BVerfGG als grundgesetzwidrig aufgehobene Entscheidung nicht für grundgesetzkonform erklären darf.
Mit diesen Ausführungen unvereinbar und unzutreffend ist jedoch die weitere Annahme des Bundesverwaltungsgerichts6, die Bindung an den Tenor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bestehe unabhängig von dem Inhalt der ihn tragenden Gründe. Dieser Auffassung liegt ein grundlegendes Missverständnis des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 14.06.20067 zugrunde:
Die Bindungswirkung der Entscheidung des Verfassungsgerichts hindert das Gericht, an das eine Sache gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG zurückverwiesen worden ist, nicht von vornherein daran, mit anderer – verfassungsrechtlich tragfähiger – Begründung zu demselben Ergebnis zu kommen wie in seiner zuvor aufgehobenen Entscheidung. Es darf dabei zwar das Vorliegen des festgestellten Verfassungsverstoßes und die der Feststellung zugrundeliegenden Wertungen8 nicht mehr in Frage stellen.
Das Fachgericht ist jedoch frei, aus anderen als den nach § 31 Abs. 1, § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG bindend entschiedenen verfassungsrechtlichen Gründen gleichwohl zum selben Ergebnis zu kommen9. Es darf lediglich nicht – auch nicht mit anderer Begründung – die Entscheidung einer Vorinstanz, die das Bundesverfassungsgericht bereits für verfassungswidrig erklärt und aufgehoben hat, in dem neuen Rechtszug für (fortbestehend und) verfassungsgemäß erklären. Nur mit dieser Fallgestaltung befasst sich der Kammerbeschluss vom 14.06.20067, die hier jedoch nicht vorlag, weil die Entscheidungen der Vorinstanzen nicht Gegenstand der verfassungsgerichtlichen Überprüfung waren.
Dass das Bundesverwaltungsgericht auf den neuen Vortrag der Beschwerdeführer nicht näher eingegangen ist, sondern sich an einer eigenen Prüfung durch die Bindungswirkung des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts gehindert gesehen hat, stellt jedoch keine Verletzung des rechtlichen Gehörs der Beschwerdeführer im Sinne von Art. 103 Abs. 1 GG dar10. Das Bundesverwaltungsgericht hat etwaiges nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts revisionsrechtlich relevantes Vorbringen der Beschwerdeführer nicht übergangen, sondern dessen Berücksichtigung aus rechtlichen Gründen für ausgeschlossen gehalten.
Die Beschwerdeführer machen im hier entschiedenen Fall nicht geltend, dass die vom Bundesverwaltungsgericht zugrunde gelegten Maßstäbe zu Inhalt und Grenzen der Bindungswirkung bundesverfassungsgerichtlicher Entscheidungen im Fall einer Zurückverweisung nach § 95 Abs. 2 BVerfGG sie in ihrem Recht auf effektiven Rechtsschutz aus Art.19 Abs. 4 GG beziehungsweise aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art.20 Abs. 3 GG11 verletzten. Es kann deshalb dahinstehen, ob eine solche Verletzung hier zumindest möglich ist. Für eine zulässige Rüge der Verletzung von Art.19 Abs. 4 GG beziehungsweise von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art.20 Abs. 3 GG hätten sich die Beschwerdeführer jedenfalls mit der Auslegung und Anwendung des § 95 Abs. 2 BVerfGG beziehungsweise des § 31 Abs. 1 BVerfGG durch das Bundesverwaltungsgericht auseinandersetzen und darlegen müssen, ob und inwieweit die dargestellte Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts gegen die Verfassung verstößt. Sie gehen jedoch mit dem Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass wegen der Bindung an den Tenor der bundesverfassungsgerichtlichen Kammerentscheidung – ohne Rücksicht auf die Gründe – die Mitgliedschaft der Beschwerdeführer in der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main feststehe. Die Möglichkeit, aus anderen als den bindend entschiedenen verfassungsrechtlichen Gründen zu derselben Entscheidung zu gelangen wie im ersten Revisionsurteil, das eine solche Mitgliedschaft als unvereinbar mit der negativen Religionsfreiheit der Beschwerdeführer angesehen hatte, halten sie für ausgeschlossen. Sie zeigen damit gerade nicht auf, dass das Bundesverwaltungsgericht unter Verweis auf die Bindungswirkung eine erneute Prüfung der Revisionen verweigert und damit einen Grundrechtsverstoß begangen habe.
Unsubstantiiert ist die Verfassungsbeschwerde auch, soweit die Beschwerdeführer ihre Ausführungen zu Art. 4 Abs. 1 GG aus dem ersten Verfassungsbeschwerdeverfahren wiederholen und sich zur Auslegung von Art. 4 Abs. 1 GG zusätzlich auf Art. 9 EMRK berufen. Denn die Berufung auf Art. 9 EMRK eröffnete dem Bundesverwaltungsgericht keine erneute inhaltliche Prüfung der Sache12. Inhaltlich konnte das Bundesverwaltungsgericht – wie es selbst zutreffend erkennt – keine vom Kammerbeschluss abweichende Entscheidung mit der Begründung treffen, die vom Bundesverfassungsgericht zugrunde gelegte Auslegung des Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG sei mit Art. 9 EMRK unvereinbar. Dies wäre keine – von § 95 Abs. 1 BVerfGG nicht untersagte – Rechtfertigung des inhaltsgleichen Prozessergebnisses mit anderen Gründen.
Ob dies anders zu sehen wäre, wenn nach der Entscheidung der Kammer eine anderslautende Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im konkreten Fall ergangen und es für das Bundesverwaltungsgericht darum gegangen wäre, diese Entscheidung in Deutschland gemäß Art. 46 EMRK umzusetzen13, bedarf keiner Entscheidung. Zwar führen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als feststellende Judikate keine unmittelbare Änderung der Rechtslage, zumal auf der Ebene des Verfassungsrechts, herbei. Gleichwohl können sie für die Auslegung des Grundgesetzes rechtserhebliche Bedeutung erlangen und sieht sich in einem solchen Fall das Bundesverfassungsgericht auch durch die Rechtskraft einer abweichenden eigenen Entscheidung an einer erneuten Prüfung nicht gehindert. Soweit verfassungsrechtlich entsprechende Auslegungsspielräume eröffnet sind, versucht das Bundesverfassungsgericht wegen des Grundsatzes der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes, Konventionsverstöße zu vermeiden14. Welche Auswirkungen eine später ergangene Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auf die Bindungswirkung des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts für den zweiten Revisionsrechtszug beim Bundesverwaltungsgericht nach Zurückverweisung gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG hätte, kann jedoch offenbleiben, weil eine solche Entscheidung hier nicht vorliegt.
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 20. Mai 2021 – 2 BvR 2595/16
- vgl. BVerfGE 10, 274 <283?f.> 89, 381 <393> 92, 158 <188> 108, 351 <369> 129, 1 <37> BVerfG, Beschluss vom 25.02.2014 – 2 BvR 2457/13, Rn. 17 f.; Stark, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, BVerfGG, 2015, § 95 Rn. 113[↩]
- vgl. BGH, Beschluss vom 19.09.2013 – IX ZB 16/11 6[↩]
- vgl. BVerfGE 94, 164 <165> – Sondervotum Sommer m.w.N.; vgl. insgesamt Hömig, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 95 Rn. 35 <Juli 2020>[↩]
- vgl. BVerfGE 1, 14 <37 f.> 19, 377 <392> 20, 56 <87> 24, 289 <297> 40, 88 <93> BVerfG, Beschluss vom 02.04.1996 – 1 BvL 19/95, Rn. 2; BVerfG, Beschluss vom 17.11.1998 – 1 BvL 10/98, Rn. 16; Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 31 Rn. 96 <Juli 2020> Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 4. Aufl.2020, Rn. 1518 ff.; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 24.03.1999 – 6 C 9.98, BVerwGE 108, 355 <361 m.w.N.>[↩]
- BVerwG, Urteil vom 21.09.2016 – 6 C 2.15[↩]
- BVerwG, Urteil vom 21.09.2016 – 6 C 2.15, Rn. 9[↩]
- BVerfG, Beschluss vom 14.06.2006 – 2 BvR 537/05, BVerfGK 8, 211[↩][↩]
- vgl. OLG München, Urteil vom 07.10.1998 – 21 U 3506/98 – NJW-RR 1999, S. 964[↩]
- vgl. Stark, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, Mitarbeiterkommentar, 2. Aufl.2005, § 95 Rn. 76; derselbe, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, BVerfGG, 2015, § 95 Rn. 71[↩]
- vgl. BVerfGE 112, 1 <40>[↩]
- vgl. im Hinblick auf die Nichtbeachtung der Bindungswirkung durch ein Gericht den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 15.12.2004 – 1 BvR 2495/04, Rn. 11 ff.; Beschluss vom 05.05.1987 – 2 BvR 104/87, Rn. 41; BVerfGE 40, 88 <94> 115, 97 <108> vgl. Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 4. Aufl.2020, Rn. 1544[↩]
- vgl. hierzu BVerfGE 74, 358 <370> 111, 307 <323, 326 f.> BVerfG, Beschluss vom 18.08.2013 – 2 BvR 1380/08, Rn.19; Beschluss vom 19.05.2015 – 2 BvR 1170/14, Rn. 47[↩]
- vgl. hierzu BVerfGE 111, 307 <320, 326 f.> 128, 326 <365> Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 4. Aufl.2020, Rn. 1510, 1530 m.w.N.; Koch, in: Barczak, BVerfGG, 2018, § 31 Rn. 24[↩]
- vgl. BVerfGE 74, 358 <370> 83, 119 <128> 111, 307 <317> 120, 180 <200 f.> 128, 326 <364 f.> BVerfGK 3, 4 <7 f.> 9, 174 <190> 10, 66 <77 f.> 10, 234 <239> 11, 153 <159 ff.>[↩]