Eine Erhöhung der Geschäftsgebühr über die Regelgebühr von 1,3 hinaus kann nur gefordert werden, wenn die Tätigkeit des Rechtsanwalts umfangreich oder schwierig war, und ist deshalb nach Ansicht des Bundesgerichtshofs nicht unter dem Gesichtspunkt der Toleranzrechtsprechung bis zu einer Überschreitung von 20 % der gerichtlichen Überprüfung entzogen1. Dementsprechend ist bei der vom Gericht anzustellenden Schlüssigkeitsprüfung vor Erlass eines Versäumnisurteils zu prüfen, ob eine Überschreitung der „Kappungsgrenze“ von 1,3 wegen überdurchschnittlichen Umfangs oder überdurchschnittlicher Schwierigkeit gerechtfertigt ist.

Im hier vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall haben die Kläger dazu nichts vorgetragen. Daher haben die Vorinstanzen2 nach Ansicht des Bundesgerichtshofs zu Recht keine 1,5fache Gebühr, sondern nur eine 1,3fache Gebühr für gerechtfertigt gehalten. Denn die Schwellengebühr von 1,3 ist die Regelgebühr für durchschnittliche Fälle3.
Auch aus der sogenannten Toleranzrechtsprechung ergibt sich nach Ansicht des Bundesgerichtshofs nichts anderes.
Zwar steht dem Rechtsanwalt gemäß § 14 Abs. 1 RVG bei Rahmengebühren wie der Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 ein Ermessensspielraum zu. Solange sich die vom Rechtsanwalt im Einzelfall bestimmte Gebühr innerhalb einer Toleranzgrenze von 20 % bewegt, ist die Gebühr nicht unbillig im Sinne des § 14 Abs. 1 Satz 4 RVG und daher von einem ersatzpflichtigen Dritten hinzunehmen4.
Das Berufungsgericht hat aber mit Recht angenommen, dass diese Toleranzrechtsprechung zu Gunsten des Rechtsanwalts, der eine Gebühr von mehr als 1,3 beansprucht, nur dann eingreift, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen der Nr. 2300 für eine Überschreitung der Regelgebühr von 1,3 vorliegen5. Das ergibt sich auch aus der Gesetzesbegründung, nach der eine Ausnutzung des Gebührenrahmens unter den Voraussetzungen des § 14 Abs. 1 RVG bis zum 2,5fachen der Gebühr nur bei schwierigen oder umfangreichen Sachen im billigen Ermessen des Anwalts steht, während es bei der Regelgebühr von 1,3 verbleibt, wenn Umfang und Schwierigkeit der Sache nur von durchschnittlicher Natur sind6.
Daher ist eine Erhöhung der Regelgebühr von 1,3 auf eine 1,5fache Gebühr hinsichtlich des Vorliegens der tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Überschreitung der Regelgebühr von 1,3 nicht der gerichtlichen Überprüfung entzogen7. Andernfalls könnte der Rechtsanwalt für durchschnittliche Sachen, die nur die Regelgebühr von 1,3 rechtfertigen, ohne Weiteres eine 1,5fache Gebühr verlangen. Das verstieße gegen den Wortlaut und auch gegen den Sinn und Zweck des gesetzlichen Gebührentatbestandes in Nr. 2300, der eine Erhöhung der Geschäftsgebühr über die Regelgebühr hinaus nicht in das Ermessen des Rechtsanwalts stellt, sondern bestimmt, dass eine Gebühr von mehr als 1,3 nur gefordert werden kann, wenn die Tätigkeit umfangreich oder schwierig und damit überdurchschnittlich war. Der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Anfrage mitgeteilt, dass er ebenfalls dieser Auffassung sei und sich aus seinem Urteil vom 13. Januar 20118 nichts anderes ergebe. Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat mitgeteilt, dass er im Hinblick auf die Äußerung des IX. Zivilsenats, dessen Entscheidung er sich angeschlossen hatte9, keine Bedenken gegen die in Aussicht genommene Entscheidung des VIII. Zivilsenats hat.
Bundesgerichtshof, Urteil vom 11. Juli 2012 – VIII ZR 323/11
- Fortführung von BGH, Urteile vom 13.01.2011 – IX ZR 110/10, NJW 2011, 1603; und vom 08.05.2012 – VI ZR 273/11).
Gemäß § 2 Abs. 2 RVG in Verbindung mit Nr. 2300 des Vergütungsverzeichnisses in der Anlage 1 zu § 2 Abs. 2 RVG kann eine Geschäftsgebühr von mehr als 1,3 nur gefordert werden, wenn die Tätigkeit umfangreich oder schwierig, mithin „überdurchschnittlich“ war ((BGH, Urteil vom 31.10.2006 – VI ZR 261/05, NJW-RR 2007, 420 Rn. 6 mwN zu der wortgleichen Vorgängerbestimmung in Nr. 2400[↩]
- AG Memmingen, Urteil vom 06.07.2011 – 12 C 745/11; LG Memmingen, Urteil vom 07.10.2011 – 12 S 1187/11[↩]
- BGH, Urteil vom 31.10.2006 – VI ZR 261/05, aaO Rn. 8; Urteil vom 13.01.2011 – IX ZR 110/10, NJW 2011, 1603 Rn. 16; BT-Drucks. 15/1971, S.207[↩]
- BGH, Urteil vom 13.01.2011 – IX ZR 110/10, aaO Rn. 18; Urteil vom 31.10.2006 – VI ZR 261/05, aaO Rn. 5[↩]
- ebenso OLG Celle, ZfSch 2012, 20; AG Halle, Beschluss vom 20.07.2011 – 93 C 57/10; AG Kehl, Urteil vom 09.09.2011 – 4 C 59/11; vgl. auch FG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 12.07.2011 – 2 KO 225/11[↩]
- BT-Drucks. 15/1971, aaO[↩]
- ebenso OLG Celle, aaO mwN[↩]
- BGH, Urteil vom 13.01.2011 – IX ZR 110/10, aaO Rn. 18[↩]
- BGH, Urteil vom 08.05.2012 – VI ZR 273/11[↩]