Bahnimmobilien und der Parlamentsvorbehalt

Das Bundesverfassungsgericht hat den Antrag der Fraktion DIE LINKE im Organstreit „Bahnimmobilien“ verworfen. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts besteht kein parlamentarisches Zustimmungsrecht des Deutschen Bundestaghes bei der Veräußerung von Vermögenswerten durch die Deutsche Bahn AG.

Bahnimmobilien und der Parlamentsvorbehalt

Vorgeschichte: Die Bahnreform

Im Zuge der Bahnreform wurden Anfang 1994 die Deutsche Bundesbahn und die Deutsche Reichsbahn zu einem nicht rechtsfähigen Sondervermögen des Bundes, dem Bundeseisenbahnvermögen, zusammengeführt und die privatrechtlich organisierte Deutsche Bahn AG gegründet. Bei der Aufteilung der Liegenschaften zwischen dem Bundeseisenbahnvermögen und der Deutschen Bahn AG wurden nicht nur die sogenannten bahnnotwendigen Liegenschaften, sondern zum Teil auch nicht bahnnotwendige Liegenschaften auf die Deutsche Bahn AG übertragen. Um sich von diesen nicht oder nicht mehr als bahnnotwendig erachteten Immobilien zu trennen, gründete die Deutsche Bahn AG Tochterunternehmen, an die sie die betreffenden Immobilien, darunter vornehmlich nicht mehr benötigte Verwaltungsgebäude, veräußerte. Im Jahr 2007 beabsichtigte die Deutsche Bahn AG, die Gesellschaften in ihrer Gänze an ein Konsortium zu veräußern. Der hierzu im September 2007 notariell beurkundete Kaufvertrag stand unter der aufschiebenden Bedingung einer Genehmigung durch die Bundesregierung. Über die Veräußerung der Gesellschaften wurde in der Folgezeit im Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestages beraten, zuletzt am 10. Oktober 2007, bevor die Bundesregierung im November 2007 ihre Genehmigung hierzu erteilte.

Die Fraktion DIE LINKE im Deutschen Bundestag hat am 23. Mai 2008 im Organstreitverfahren sinngemäß die Feststellung beantragt, dass die Bundesregierung die Rechte des Deutschen Bundestages aus Art. 110 GG in Verbindung mit Art. 87e GG dadurch verletzt habe, dass sie eine parlamentarische Zustimmung zu ihrer Genehmigung des Veräußerungsgeschäfts nicht eingeholt habe.

Das Bundesverfassungsgericht hat den Antrag verworfen, weil er in mehrfacher Hinsicht unzulässig ist. Ein Antrag im Organstreitverfahren ist gemäß § 64 Abs. 1 BVerfGG nur zulässig, wenn der Antragsteller schlüssig behauptet, dass er und der Antragsgegner an einem verfassungsrechtlichen Rechtsverhältnis unmittelbar beteiligt sind und dass der Antragsgegner hieraus erwachsende verfassungsmäßige Rechte oder Zuständigkeiten des Antragstellers oder des Organs, dem er angehört, durch die beanstandete Maßnahme oder das Unterlassen verletzt oder unmittelbar gefährdet hat. Schlüssig ist die Behauptung, wenn die Rechtsverletzung nach dem vorgetragenen Sachverhalt möglich erscheint1. Daran fehlt es hier aber nach Ansicht der Karslruher Verfassungsrichter: Das von der Antragstellerin geltend gemachte Beteiligungsrecht des Deutschen Bundestages kommt unter keinem denkbaren verfassungsrechtlichen Gesichtspunkt in Betracht. Weder nach Art. 110 GG noch unter dem Aspekt einer von der Antragstellerin angeführten „Budgetflucht“ noch auf der Grundlage eines ungeschriebenen Parlamentsvorbehalts erscheint insoweit das Bestehen eines parlamentarischen Zustimmungsrechtes möglich.

Ein parlamentarisches Zustimmungsrecht ergibt sich für das Bundesverfassungsgericht weder aus Art. 110 GG noch unter dem Aspekt einer von der Antragstellerin angeführten „Budgetflucht“ oder auf der Grundlage eines ungeschriebenen Parlamentsvorbehalts.

Keine Verletzung des Parlamentsvorbehalts

Art. 110 Abs. 2 GG bestimmt, dass der Haushaltsplan durch das Haushaltsgesetz festzustellen ist. In ihn sind nach Art. 110 Abs. 1 GG alle Einnahmen und Ausgaben des Bundes einzustellen, d. h. solche der Gebietskörperschaft Bund. Die Grundgesetzbestimmung erstreckt sich jedoch nicht auf Einnahmen und Ausgaben von bundesunmittelbaren juristischen Personen des öffentlichen Rechts oder von privatrechtlich organisierten Gesellschaften, die im Eigentum des Bundes stehen oder an denen er beteiligt ist. Daher wird die Veräußerung der Tochtergesellschaften hiervon nicht erfasst. Denn Inhaberin der veräußerten Gesellschaften war die Deutsche Bahn AG, nicht aber der Bund, dem durch die Veräußerung keine Mittel zuflossen.

Zudem schreibt Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG die Feststellung des Haushaltsplans durch Gesetz vor, weist aber dem Bundestag keine Zustimmungsrechte zu Maßnahmen der Haushaltsführung der Exekutive zu. Sofern wegen nachträglicher Abweichungen vom Haushaltsplan eine Beteiligung des Bundestages haushaltsverfassungsrechtlich geboten ist, erfolgt diese in der Form eines Nachtragshaushaltsgesetzes.

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Die Bundesregierung war zur Einholung einer parlamentarischen Zustimmung auch nicht unter dem Gesichtspunkt einer „Budgetflucht“ verpflichtet. Die haushalterische Selbständigkeit der Deutsche Bahn AG ist verfassungsrechtlich durch die Einführung des Art. 87e Abs. 3 Satz 1 GG legitimiert. Danach sind die Eisenbahnen des Bundes als Wirtschaftsunternehmen in privat-rechtlicher Form zu führen. Hierdurch sollte die kommerzielle Ausrichtung der Eisenbahnen abgesichert und ihnen ein Bereich unternehmerischer Selbstbestimmung eingeräumt werden. Mit dieser Zielsetzung wäre es unvereinbar, die einzelnen wirtschaftlichen Entscheidungen des Unternehmens unter parlamentarische Kontrolle zu stellen.

Auch Art. 87e Abs. 4 GG sind keine verfassungsrechtlichen Vorgaben zu entnehmen, die ein Zustimmungsrecht des Bundestages bei der Veräußerung von Vermögenswerten der Deutsche Bahn AG begründen. Nach dieser Bestimmung hat der Bund zu gewährleisten, dass dem Wohl der Allgemeinheit, insbesondere den Verkehrsbedürfnissen, beim Ausbau und Erhalt des Schienennetzes der Eisenbahnen des Bundes sowie bei deren Verkehrsangeboten auf diesem Schienennetz Rechnung getragen wird. Soweit danach ferner das Nähere durch ein Bundesgesetz geregelt wird, hat der Deutsche Bundestag seinen Anteil an der Erfüllung der Gewährleistungspflicht im Wege der Gesetzgebung zu leisten. Räumte man ihm darüber hinaus Beteiligungsrechte an unternehmerischen Einzelentscheidungen der Deutsche Bahn AG ein, würde deren Fähigkeit zum verfassungsrechtlich gewollten Handeln nach marktwirtschaftlicher Handlungsrationalität in erheblichem Maße beeinträchtigt. Zudem ist die Bestimmung des Art. 87e Abs. 4 GG auf den Bereich der Eisenbahninfrastruktur und die Eisenbahnverkehrsleistungen sachlich beschränkt. Die Veräußerung der Tochtergesellschaften betrifft demgegenüber ausschließlich nicht bahnnotwendige Liegenschaften.

Nach Art. 110 Abs. 2 GG ist der Haushaltsplan durch das Haushaltsgesetz festzustellen. In den Haushaltsplan sind nach Art. 110 Abs. 1 GG alle Einnahmen und Ausgaben des Bundes einzustellen; bei Bundesbetrieben und Sondervermögen brauchen nur die Zuführungen und Ablieferungen eingestellt zu werden. Die Grundgesetzbestimmung erfasst die Veräußerung der A…Gesellschaften nicht, weil der Bund durch sie weder Einnahmen erzielte noch Ausgaben tätigte. Zudem sieht Art. 110 GG die parlamentarische Beteiligungsform der Zustimmung nicht vor.

Einnahmen und Ausgaben des Bundes sind lediglich solche der Gebietskörperschaft Bund. Nicht erfasst sind die Einnahmen und Ausgaben von bundesunmittelbaren juristischen Personen des öffentlichen Rechts oder von privatrechtlich organisierten Gesellschaften, die im Eigentum des Bundes stehen oder an denen der Bund beteiligt ist. Zwar lässt der Wortlaut des Art. 110 Abs. 1 GG eine Auslegung zu, nach der zum Bund im Sinne dieser Vorschrift alle Verwaltungseinheiten der unmittelbaren und mittelbaren Bundesverwaltung zu rechnen wären, unabhängig von ihrer Rechtsform. Verfassungstradition und Entstehungsgeschichte des Art. 110 Abs. 1 GG sprechen aber dafür, den Begriff des Bundes hier eng auszulegen. So findet sich eine Art. 110 GG entsprechende Bestimmung bereits in Art. 99 Abs. 1 der Preußischen Verfassung von 1850, der durch das Gesetz betreffend den Staatshaushalt vom 11.05.18982 näher ausgeformt wurde. Nach § 2 Abs. 1 Nr. 4 des Gesetzes sollten danach zu den in den StaatshaushaltsEtat aufzunehmenden Einnahmen und Ausgaben die „Einnahmen und Ausgaben derjenigen zu besonderen Zwecken bestimmten Fonds, über welche dem Staate allein die Verfügung zusteht, sofern diese Fonds nicht juristische Persönlichkeit besitzen“, gehören. Diese – zuvor im Preußischen Abgeordnetenhaus durchaus umstrittene – „juristische“ Sichtweise setzte sich gegenüber einer „finanzwirtschaftlichen“ Betrachtung auch in späteren Verfassungen durch3. So wurde Art. 69 der Reichsverfassung von 1871 im selben Sinne ausgelegt und auch zu Art. 85 der Weimarer Reichsverfassung entsprach es der allgemeinen Auffassung, dass Einnahmen und Ausgaben des Reiches nur solche der Gebietskörperschaft Reich seien, nicht aber solche anderer rechtlich selbständiger Einheiten4. Der Parlamentarische Rat knüpfte an diese Verfassungstradition an5 und wollte den Haushaltsplan auf die Einnahmen und Ausgaben der Gebietskörperschaft Bund beschränkt wissen. Daran hat sich durch die Neufassung des Art. 110 GG im Zuge der Haushaltsrechtsreform vom 12.05.19696 nichts geändert7.

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Die Veräußerung der Liegenschafts-Gesellschaften durch die Deutsche Bahn AG hat weder Einnahmen noch Ausgaben des Bundes nach sich gezogen. Dem Bund flossen durch die Veräußerung keine Mittel zu. Er hat auch selbst keine Vermögensgegenstände veräußert. Die Deutsche Bahn AG, nicht der Bund, war Inhaberin der veräußerten Liegenschafts-Gesellschaften.

Das behauptete Erfordernis parlamentarischer Zustimmung kann Art. 110 GG nicht entnommen werden. Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG schreibt die Feststellung des Haushaltsplans durch Gesetz vor. Das Haushaltsgesetz ist ein förmliches Bundesgesetz; für das Gesetzgebungsverfahren gelten die durch Art. 110 Abs. 3 GG bestimmten Besonderheiten. Die Gesetzgebungsbefugnis ist gemäß Art. 110 Abs. 2 GG dem Deutschen Bundestag zugewiesen. Zustimmungsrechte zu Maßnahmen der Haushaltsführung der Exekutive in der Form eines schlichten Parlamentsbeschlusses sieht Art. 110 GG nicht vor. Dies gilt auch, wenn während des Haushaltsjahres Abweichungen vom Haushaltsplan notwendig werden. Sofern aus diesem Grund eine Beteiligung des Deutschen Bundestages haushaltsverfassungsrechtlich geboten ist, erfolgt diese in der Form eines Nachtragshaushaltsgesetzes, für das ebenfalls Art. 110 Abs. 2 und 3 GG gilt.

Eine Verpflichtung der Bundesregierung zur Zustimmungseinholung ergibt sich auch nicht aus dem Gesichtspunkt einer „Budgetflucht“, mit der die in der Deutsche Bahn AG organisierte Vermögensmasse der Möglichkeit parlamentarischer Einflussnahme entzogen wurde. Es kann offen bleiben, ob und bejahendenfalls welche Vorgaben dem Art. 110 GG hinsichtlich der Errichtung und Bewirtschaftung von Nebenhaushalten zu entnehmen sind. Die haushalterische Selbständigkeit der Deutsche Bahn AG ist verfassungsrechtlich legitimiert. Sie beruht auf einer Entscheidung des verfassungsändernden Gesetzgebers. Nach Art. 87e Abs. 3 Satz 1 GG sind die Eisenbahnen des Bundes als Wirtschaftsunternehmen in privatrechtlicher Form zu führen. Bereits vor der Schaffung des Art. 87e GG durch das Änderungsgesetz vom 20.12.19938 waren die Deutsche Bundesbahn und die Deutsche Reichsbahn Sondervermögen des Bundes, bei denen nach Art. 110 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 GG nur die Zuführungen und Ablieferungen in den Haushaltsplan einzustellen waren. Die Grundgesetzänderung sollte aber gerade nicht einer Integration der Bahn in die öffentliche Verwaltung nebst ihrer Eingliederung in den Staatshaushalt Vorschub leisten, sondern ihre organisatorische, wirtschaftliche und finanzielle Verselbständigung befördern9. Mit der im Grundgesetz nunmehr vorgesehenen Führung der Eisenbahnen des Bundes als Wirtschaftsunternehmen in privatrechtlicher Form sollte deren kommerzielle Ausrichtung abgesichert und ihnen ein Bereich unternehmerischer Selbstbestimmung eingeräumt werden9. Mit dieser Zielsetzung wäre es unvereinbar, die einzelnen wirtschaftlichen Entscheidungen des Unternehmens unter parlamentarische Kontrolle zu stellen.

Schließlich sind auch dem Art. 87e Abs. 4 GG keine verfassungsrechtlichen Vorgaben zu entnehmen, die ein Zustimmungsrecht des Deutschen Bundestages bei der Veräußerung von Vermögenswerten der Deutsche Bahn AG begründen. Nach dieser Bestimmung hat der Bund zu gewährleisten, dass dem Wohl der Allgemeinheit, insbesondere den Verkehrsbedürfnissen, beim Ausbau und Erhalt des Schienennetzes der Eisenbahnen des Bundes sowie bei deren Verkehrsangeboten auf diesem Schienennetz, soweit diese nicht den Schienenpersonennahverkehr betreffen, Rechnung getragen wird. Art. 87e Abs. 4 Satz 2 GG sieht vor, dass das Nähere durch ein Bundesgesetz geregelt wird, das gemäß Art. 87e Abs. 5 Satz 1 GG der Zustimmung des Bundesrates bedarf. Neben der Klärung der föderalkompetenzrechtlichen Frage in Hinblick auf die Erfüllung der Gewährleistungspflicht ist der Vorschrift auch zu entnehmen, auf welche Art und Weise, nämlich durch Gesetzgebung, der Deutsche Bundestag seinen Anteil an der Erfüllung der Gewährleistungspflicht zu leisten hat. Räumte man dem Deutschen Bundestag jenseits der legislativen Mitgestaltungsmöglichkeit Beteiligungsrechte an unternehmerischen Einzelentscheidungen der Deutsche Bahn AG ein, würde deren Fähigkeit zum verfassungsrechtlich gewollten Handeln nach marktwirtschaftlicher Handlungsrationalität in erheblichem Maße beeinträchtigt. Zudem käme der durch die Entstehungsgeschichte des Art. 87e GG belegte Kompromisscharakter der Vorschrift nicht zur Geltung. Die Bundesregierung brachte gegen die vom Bundesrat im Gesetzgebungsverfahren erhobene Forderung, der Bund müsse Eigentümer der Schienenwege bleiben, den Einwand an, durch die Übertragung des Eigentums an Schienenwegen auf die Deutsche Bahn AG solle gerade ein „unternehmerischer Handlungszwang“ geschaffen werden. Anderenfalls sei zu befürchten, dass die Deutsche Bahn AG „ähnlich einer Behörde“ die Schienenwege lediglich „verwalten“ und nicht „als eigenes unternehmerisches Produktionsmittel wirtschaftlich optimal nutzen“ werde10. An diesen nach gesetzgeberischer Absicht zu vermeidenden Zustand einer bloßen Verwaltung des Vermögens der Deutsche Bahn AG näherte man sich durch eine Auslegung des Art. 87e Abs. 4 GG an, nach der die Bestimmung parlamentarische Beteiligungsrechte begründet. Den angestrebten Ausgleich11 zwischen den Positionen von Bundesregierung und Bundesrat würde eine solche Auslegung verfehlen.

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Art. 87e Abs. 4 GG erfasst zudem nicht die Tätigkeit von Eisenbahnunternehmen insgesamt, sondern ist auf den Ausbau und Erhalt des Schienennetzes sowie die Verkehrsangebote auf diesem Schienennetz sachlich beschränkt. Die Veräußerung der Liegenschafts-Gesellschaften betrifft jedoch weder den Bereich der Eisenbahninfrastruktur noch den der Eisenbahnverkehrsleistungen. Mit der Veräußerung verliert die Deutsche Bahn AG zwar eine konzernrechtlich vermittelte Möglichkeit zur Inanspruchnahme der im Eigentum der GmbH & Co. KG stehenden Liegenschaften oder zur Aufhebung bestehender schuldrechtlicher Verschaffungspflichten zugunsten dieser Gesellschaft. Davon betroffen sind jedoch ausschließlich solche Liegenschaften, die zuvor von der Deutsche Bahn AG als nicht bahnnotwendig qualifiziert worden waren. Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass diese Klassifizierung in einer verfassungsgerichtlich zu beanstandenden Weise fehlerhaft wäre. Dass die Veräußerung der A…Gesellschaften dazu diente, die Kapitalausstattung der Eisenbahninfrastrukturunternehmen DB Netz AG und DB Station&Service AG zu steigern und dortige Verluste auszugleichen, rechtfertigt nicht die Annahme, dass der Ausbau und Erhalt des Schienennetzes oder die Verkehrsangebote betroffen seien. Denn der Zufluss finanzieller Mittel bei den für die Eisenbahninfrastruktur zuständigen Unternehmen wirkt sich auf die konkrete Gestaltung dieser Infrastruktur oder des Verkehrsangebots allenfalls mittelbar aus.

Art. 87e Abs. 3 GG enthält in seinen Sätzen 3 und 4 ausdrückliche Vorgaben hinsichtlich der Veräußerung von Anteilen an Eisenbahnunternehmen des Bundes, deren Tätigkeit den Bau, die Unterhaltung und das Betreiben von Schienenwegen umfasst. In Bezug auf diese Unternehmen wird bestimmt, dass die Veräußerung auf Grund eines Gesetzes zu erfolgen hat. Damit hat der Verfassungsgesetzgeber die Beteiligung des Deutschen Bundestages in sachlicher wie in formeller Hinsicht festgelegt. Diese Eingrenzung würde hinfällig, wenn dem Art. 87e Abs. 4 GG ein parlamentarisches Zustimmungsrecht in den nicht von Absatz 3 erfassten Fällen der Anteilsveräußerung zu entnehmen wäre.

Verfristeter Antrag

Der Antrag vom 23. Mai 2008 ist überdies nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts verfristet, weil er nicht binnen der im Organstreitverfahren gemäß § 64 Abs. 3 BVerfGG geltenden Sechs-Monats-Frist ab Bekanntwerden der beanstandeten Maßnahme gestellt wurde. Sowohl der Abschluss des Kaufvertrages als auch der Umstand, dass die Bundesregierung ihre Genehmigung hierzu nicht von einer parlamentarischen Zustimmungserklärung abhängig machen wollte, war den Mitgliedern des Verkehrsausschusses spätestens in ihrer letzten Sitzung am 10. Oktober 2007 bekannt. Die Kenntnis eines Ausschusses haben sich der Deutsche Bundestag und damit auch die Fraktionen zurechnen zu lassen, so dass die Antragsfrist mit Ablauf des 10. April 2008 endete.

Der Antrag ist verfristet, da die Frist des § 64 Abs. 3 BVerfGG spätestens mit Ablauf des 10.04.2008, sechs Monate nach der Sitzung des Verkehrsausschusses vom 10.10.2007, endete. Zweck der Vorschrift ist es, angreifbare Rechtsverletzungen nach einer bestimmten Zeit außer Streit zu stellen. Sie dient damit der Rechtssicherheit12. Es handelt sich um eine gesetzliche Ausschlussfrist13. Eine Wiedereinsetzung in diese Frist ist nicht möglich14.

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Der Beginn der Sechs-Monats-Frist richtet sich nach § 64 Abs. 3 BVerfGG. Die Vorschrift stellt darauf ab, wann die Maßnahme oder Unterlassung dem Antragsteller bekannt geworden ist. Ein fortdauerndes, rechtserhebliches Unterlassen des Antragsgegners löst den Lauf der Antragsfrist jedenfalls dann aus, wenn er die Vornahme der begehrten Handlung erkennbar eindeutig verweigert15.

Haben die in einen Ausschuss des Deutschen Bundestages berufenen Mitglieder einer Parlamentsfraktion Kenntnis hinsichtlich einer Maßnahme oder Unterlassung, so ist diese Kenntnis der Parlamentsfraktion zuzurechnen. Bei Gegenständen, die im Plenum behandelt werden, setzt die Unterrichtung des Plenums durch die Bundesregierung die Ausschlussfrist des § 64 Abs. 3 BVerfGG in Gang16. Bei Gegenständen, die im Ausschuss behandelt werden, läuft die Frist ab dessen Unterrichtung. Die Bewältigung der parlamentarischen Arbeitslast durch die Einrichtung von Ausschüssen ist im Grundgesetz selbst vorgesehen (vgl. Art. 45, 45a, 45c GG)17. Jedes Mitglied des Deutschen Bundestages soll grundsätzlich einem Ausschuss angehören (§ 57 Abs. 1 Satz 2 GO-BT). Die Ausschüsse sind nicht nur zur Erledigung der ihnen überwiesenen Aufgaben verpflichtet (§ 62 Abs. 1 Satz 1 und 2 GO-BT), ihnen steht daneben das Recht zur Selbstbefassung mit Angelegenheiten aus ihrem Geschäftsbereich zu (§ 62 Abs. 1 Satz 3, § 64 Abs. 1 Variante 2 GO-BT). Grundgesetz (vgl. Art. 43 Abs. 1 GG) und Geschäftsordnungsrecht (vgl. §§ 68 bis 70 GO-BT) ermöglichen den Ausschüssen, sich nicht nur von der Bundesregierung, sondern auch anderweit, insbesondere über öffentliche Anhörungen Informationen zu beschaffen. Folgt aus alledem, dass sich der Deutsche Bundestag die Kenntnis eines Ausschusses über bestimmte Umstände zurechnen lassen muss, hat dies auch im Verhältnis zwischen den Fraktionen und den von ihnen entsandten Ausschussmitgliedern zu gelten.

Die Sechs-Monats-Frist des § 64 Abs. 3 BVerfGG wurde spätestens am 10.10.2007 in Gang gesetzt. Sowohl die 45. Sitzung des Verkehrsausschusses vom 19.09.2007 als auch die 46. Sitzung vom 10.10.2007 waren ausweislich der Sitzungsprotokolle von dem übereinstimmenden Verständnis getragen, dass die Liegenschafts-Gesellschaften veräußert worden seien und dass die Bundesregierung nicht beabsichtige, ihre Genehmigungserklärung von einer für notwendig erachteten parlamentarischen Zustimmung abhängig zu machen.

Die Sitzung des Verkehrsausschusses vom 19.09.2007 fand nach dem Abschluss des notariellen Kaufvertrages zwischen der Deutsche Bahn AG und dem Erwerberkonsortium am 13.09.2007 statt. Aus dem Sitzungsprotokoll18 ergibt sich das Datum des Vertragsschlusses zwar nicht. Allerdings finden sich in den protokollierten Diskussionsbeiträgen der Abgeordneten und der Vertreter der Bundesregierung ausreichende Anhaltspunkte dafür, dass den Abgeordneten bekannt war, dass der Vertrag bereits abgeschlossen und seine Wirksamkeit nur noch von der Genehmigung der Bundesregierung abhängig war. So fragte der Abgeordnete Friedrich, warum der Verkauf so schnell durchgeführt worden sei, und verlangte, dass der Verkehrsminister bis zur abschließenden Klärung der Fragen im Ausschuss seine Zustimmung nicht erteilen solle19. Der Abgeordnete Hermann verlangte Aufklärung darüber, ob der Aufsichtsrat und die Regierungsvertreter dem Verkauf zugestimmt hätten20. Die sich anschließende Diskussion mit dem anwesenden Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung bezog sich ausschließlich auf die Frage, ob das Bundesverkehrsministerium den Vertrag bereits genehmigt habe21.

Das Protokoll der Ausschusssitzung vom 10.10.200722 bestätigt, dass den Ausschussmitgliedern der Abschluss des Kaufvertrages bekannt gewesen ist. Der im Ausschuss anwesende Mitarbeiter der Deutsche Bahn AG stellte den Verkaufsvorgang dar und führte aus, dass den Infrastrukturunternehmen durch die Liegenschafts-Transaktion Gelder zugeflossen seien23. Zu dieser Erläuterung des Sachstandes gab es keine Rückfragen.

In den Sitzungen des Verkehrsausschusses vom 19.09.2007 und vom 10.10.2007 war für die im Ausschuss versammelten Abgeordneten auch erkennbar, dass die Bundesregierung ihre Genehmigung des Geschäfts nicht von einer parlamentarischen Zustimmungserklärung abhängig machen wollte. Aus dem protokollierten Inhalt der Sitzungen ergibt sich zwar keine ausdrückliche Weigerung der Bundesregierung, die Zustimmung des Deutschen Bundestages einzuholen. Die Sitzungen waren indes von dem Verständnis getragen, dass ein parlamentarisches Zustimmungsrecht nicht in Betracht komme. So erklärte der Parlamentarische Staatssekretär in der Ausschusssitzung vom 19.09.2007, dass der Vertrag von der Bundesregierung genehmigt werden müsse, die Prüfung noch ein paar Wochen dauere und die Genehmigung nicht erteilt werde, bevor nicht ein weiterer Bericht erstellt und dem Ausschuss zugeleitet worden sei24. Dass die Genehmigung durch die Bundesregierung von dem Ergebnis einer parlamentarischen Beschlussfassung abhängig gemacht werden sollte, ergibt sich daraus nicht. Die Ausführungen legen vielmehr gerade den Umkehrschluss nahe, dass die Bundesregierung die ihr im Veräußerungsvertrag eingeräumte Möglichkeit der Genehmigungserklärung nicht an eine parlamentarische Zustimmung zu koppeln beabsichtigte, sondern sich lediglich in der Pflicht sah, dem Ausschuss noch einen weiteren Bericht vorzulegen. Dies war für die Ausschussmitglieder erkennbar und wurde von ihnen auch so verstanden. Ansonsten ergäbe die Aussage des Abgeordneten Friedrich in der Sitzung vom 10.10.2007 keinen Sinn. Der Abgeordnete forderte die Bundesregierung zur Untersagung des Verkaufs bis zur Klärung aller relevanten Punkte auf und erklärte, dass sich die FDPFraktion im weiteren Fortgang alle parlamentarischen Rechte offen halte25. Wäre von einem Mitglied des Ausschusses ein parlamentarisches Zustimmungsrecht in Betracht gezogen worden, hätte es nahe gelegen, in diesem Zusammenhang hierauf zu verweisen.

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Dass die Bundesregierung nicht beabsichtigte, eine Zustimmung des Parlaments einzuholen, war für die Mitglieder des Verkehrsausschusses auch deshalb deutlich erkennbar, weil die Ausschusssitzung vom 10.10.2007 das Ende der parlamentarischen Debatte über die Veräußerung der Liegenschafts-Gesellschaften markierte. Dass nach dieser Sitzung weitere parlamentarische Schritte im Plenum des Deutschen Bundestages erfolgen sollten, lässt sich dem Ausschussprotokoll nicht entnehmen. Es wurden auch keine weiteren Schritte im Rahmen der Selbstbefassung angekündigt, etwa die Anforderung weiterer Informationen oder eine erneute Anhörung eines Mitglieds der Bundesregierung gemäß Art. 43 Abs. 1 GG.

Kein Rechtsschutzbedürfnis für den Organstreit

Schließlich ist der Antrag unzulässig, weil ihm das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis fehlt. Die Antragstellerin hat es pflichtwidrig unterlassen, sich vor der Einleitung des Organstreitverfahrens auf das dem Deutschen Bundestag vermeintlich zustehende Beteiligungsrecht zu berufen.

Den Antragsteller im Organstreitverfahren trifft im Regelfall nicht die Obliegenheit, vor der Antragstellung politische Handlungsmöglichkeiten zu ergreifen und etwa den Versuch zu unternehmen, eine Beschlussfassung des Deutschen Bundestages in seinem Sinne herbeizuführen26. Das Bundesverfassungsgericht hat auf einen ihm angetragenen Organstreit hin nicht darüber zu befinden, ob dem Antragsteller zur Verfolgung seines Prozesszieles außerhalb der gewählten Verfahrensart andere gleichwertige verfassungsrechtliche Wege offengestanden hätten oder noch offenstehen27. Umso weniger darf es einen Antragsteller auf Wege rein politischen Agierens verweisen, die dem Organstreit verfassungsrechtlich schon deshalb nicht gleichwertig sind, weil eine Klärung der grundgesetzlichen Rechte der Beteiligten auf diese Weise nicht erreicht werden kann28.

Indessen obliegt es dem Antragsteller, vor der Einleitung eines Organstreits das in Streit stehende Recht geltend zu machen, wenn dessen Bestehen bislang nicht in Erwägung gezogen worden ist. Dem tatsächlich oder vermeintlich Verpflichteten wird erst durch die Geltendmachung des Rechts Veranlassung gegeben, die Rechtslage seinerseits zu prüfen und gegebenenfalls dem Begehren des Berechtigten und damit seinen verfassungsrechtlichen Pflichten nachzukommen. Die damit verbundene Verpflichtung, sich bereits im politischen Prozess mit der Verfassungsrechtslage zu befassen und beanspruchte Rechte zu artikulieren, stellt keine unzumutbare Belastung dar. Denn sie ist lediglich Konsequenz dessen, dass der Organstreit als kontradiktorisches Verfahren ausgestaltet ist, in dem über streitig gewordene Rechte und Pflichten zwischen den Beteiligten zu befinden ist29, und geht nicht über das hinaus, was für den Umgang zwischen Verfassungsorganen als selbstverständlich zu erwarten ist.

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In den Sitzungen des Verkehrsausschusses vom 19.09.2007 und vom 10.10.2007 ist ein Zustimmungsrecht des Deutschen Bundestages nicht geltend gemacht worden. Der Abgeordnete Hermann führte aus, dass er es dreist fände, „nebenbei anderthalb Milliarden zu veräußern, ohne dass eine politische Debatte stattgefunden habe und ohne dass das Parlament daran beteiligt gewesen sei. Hier werde man weiter nachfragen und eventuell den Unterausschuss bemühen.“30. Die Abgeordnete Menzner regte an, „dass das Parlament hier doch sehr viel genauer hinschaue“31. Alle Beiträge zur Debatte zielten auf Beteiligungen in Form von weiteren Ausschusssitzungen zum Thema, Berichterstattung der Bundesregierung oder Anhörung von Regierungsmitgliedern ab. Ein mögliches Zustimmungsrecht des Deutschen Bundestages stand dagegen nicht zur Diskussion. Auch in früheren Fällen, in denen die Deutsche Bahn AG Vermögensgegenstände veräußert hatte, war ein solches Recht gegenüber der Bundesregierung weder durch die Antragstellerin noch durch andere geltend gemacht worden.

Die Geltendmachung eines Zustimmungsrechts ergibt sich erst aus dem Inhalt der Kleinen Anfrage vom 29.01.200832. Die Anfrage erfolgte aber in einem deutlichen zeitlichen Abstand zum Veräußerungsvorgang, der durch die Genehmigung der Bundesregierung vom 23.11.2007 abgeschlossen worden war. Die Anfrage ist rückblickend formuliert. Sie sollte und konnte ein rechtserhebliches Handeln der Bundesregierung nicht mehr auslösen.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 22. November 2011 – 2 BvE 3/08

  1. vgl. BVerfGE 80, 188, 209; 102, 224, 231 f.[]
  2. Preußische Gesetzessammlung, S. 77[]
  3. vgl. Hillgruber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 6. Aufl.2010, Art. 110 Rn.19; Puhl, Budgetflucht und Haushaltsverfassung, 1996, S. 122 f.[]
  4. vgl. Heckel, in: Anschütz/Thoma, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 2, 1932, S. 379[]
  5. vgl. Höpker-Aschoff, AöR 75, 1949, S. 306, 308[]
  6. BGBl I S. 357[]
  7. vgl. BT-Drucks V/3040, S. 44[]
  8. BGBl I S.2089[]
  9. vgl. BT-Drucks 12/5015, S. 7[][]
  10. vgl. BT-Drucks 12/5015, S. 16, dort alle Zitate[]
  11. vgl. BT-Drucks 12/5015, S. 8[]
  12. vgl. BVerfGE 4, 31, 37; 80, 188, 210; 103, 164, 171[]
  13. vgl. BVerfGE 24, 252, 257[]
  14. vgl. BVerfGE 24, 252, 258; 27, 294, 297; 71, 299, 304 f.; stRspr[]
  15. vgl. BVerfGE 92, 80, 89; 103, 164, 171; 110, 403, 405; 114, 107, 118; 118, 244, 256 f.; stRspr[]
  16. vgl. BVerfGE 45, 1, 30 f.[]
  17. vgl. BVerfGE 80, 188, 221 f.[]
  18. Protokoll des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung des Deutschen Bundestages Nr. 16/45[]
  19. a.a.O., S. 16[]
  20. a.a.O., S. 16 f.[]
  21. a.a.O., S. 22[]
  22. Protokoll des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung des Deutschen Bundestages Nr. 16/46[]
  23. a.a.O., S. 21 f.[]
  24. Protokoll des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung des Deutschen Bundestages Nr. 16/45, S. 22 f.[]
  25. Protokoll des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung des Deutschen Bundestages Nr. 16/46, S. 23[]
  26. vgl. BVerfGE 90, 286, 338 f.; 104, 151, 198; vgl. auch BVerfGE 121, 135, 153[]
  27. vgl. BVerfGE 45, 1, 30; 90, 286, 338 f.[]
  28. vgl. BVerfGE 90, 286, 338 f.[]
  29. vgl. BVerfGE 20, 18, 23 f.[]
  30. Protokoll des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung des Deutschen Bundestages Nr. 16/45, S. 16 f.[]
  31. a.a.O., S. 17[]
  32. vgl. BT-Drucks 16/7949[]