Bahnverspätungen

Nach Ansicht des Generalanwalts beim Gerichtshofs der Europäischen Union muss Bahnreisenden bei großer Verspätung ein Teil des Fahrpreises erstattet werden, auch wenn die Verspätung auf höherer Gewalt beruht. Ein Eisenbahnunternehmen dürfe seine Erstattungspflicht in solchen Fällen nicht ausschließen.

Bahnverspätungen

Die Verordnung (EG) Nr. 1371/2007 über Rechte und Pflichten der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr1 sieht vor, dass ein Fahrgast bei einer Verspätung von einer Stunde oder mehr vom Eisenbahnunternehmen eine teilweise Erstattung des Fahrpreises verlangen kann. Diese Entschädigung beträgt mindestens 25 % des Preises der Fahrkarte bei Verspätungen zwischen einer Stunde und 119 Minuten und mindestens 50 % bei Verspätungen von zwei Stunden und mehr. Die Verordnung enthält keine Befreiung von diesem Entschädigungsanspruch in Fällen, in denen die Verspätung durch höhere Gewalt, etwa durch schwierige Wetterverhältnisse, Beschädigungen der Eisenbahninfrastruktur oder Arbeitsmarktkonflikte, verursacht worden ist.

Diese Schlussanträge seines Generalanwalts wurden dem Gerichtshof der Europäischen Union jetzt in einem Vorabentscheidungsersuchen aus Österreich vorgelegt. Der österreichische Verwaltungsgerichtshof möchte vom Gerichtshof der Europäischen Union wissen, ob ein Eisenbahnunternehmen seine Verpflichtung zur Fahrpreisentschädigung gleichwohl ausschließen darf, wenn eine Verspätung, ein verpasster Anschluss oder ein Zugausfall durch höhere Gewalt verursacht worden ist. Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Beschwerde des österreichischen Eisenbahnunternehmens ÖBB-Personenverkehr AG gegen einen Bescheid der österreichischen Schienen-Control Kommission zu entscheiden, wonach die ÖBB-Personenverkehr AG eine Bestimmung in ihren allgemeinen Geschäftsbedingungen abändern soll, die eine Entschädigung in Fällen höherer Gewalt ausschließt.

Weiterlesen:
Keine Ausreden bei Fahrpreiserstattungen

In seinen jetzt vorgelegten Schlussanträgen vertritt Generalanwalt Niilo Jääskinen die Auffassung, dass ein Eisenbahnunternehmen seine aus der Verordnung resultierende Verpflichtung zur Zahlung einer Fahrpreisentschädigung in Fällen, in denen die Verspätung auf höherer Gewalt beruhe, nicht ausschließen dürfe.

Er weist darauf hin, dass es im Wortlaut der Verordnung keinen Anhaltspunkt für eine Beschränkung dieser Verpflichtung in Fällen höherer Gewalt gebe. Während Haftungsbeschränkungen in den CIV, den Einheitlichen Rechtsvorschriften für den Vertrag über die internationale Eisenbahnbeförderung von Personen und Gepäck, auf die die Verordnung Bezug nehme, auf die Erstattung des Fahrpreises in Verspätungsfällen keine Anwendung fänden, stehe die Tatsache, dass die Verordnung den Verbraucherschutz stärken solle, einer Ableitung der Beschränkung aus dem allgemeinen unionsrechtlichen Konzept der höheren Gewalt entgegen.

Hätte der Unionsgesetzgeber die Verpflichtung in Fällen höherer Gewalt beschränken wollen, wäre dies im Wortlaut der Verordnung klar zum Ausdruck gekommen. Der Generalanwalt lehnt auch die analoge Anwendung von Bestimmungen über höhere Gewalt in Verordnungen über Fahrgastrechte in anderen Verkehrssektoren, nämlich im Flug-, Schiffs- und Busverkehr, ab. Er weist darauf hin, dass im Eisenbahnverkehr die häufigsten Fälle höherer Gewalt, nämlich schwierige Wetterverhältnisse, Beschädigungen der Eisenbahninfrastruktur und Arbeitsmarktkonflikte, mit vorhersehbarer statistischer Regelmäßigkeit einträten und bei der Berechnung des Fahrpreises berücksichtigt werden könnten. Außerdem befänden sich die in den verschiedenen Verkehrssektoren tätigen Unternehmen nicht in einer vergleichbaren Lage, da die einzelnen Beförderungsformen hinsichtlich der Bedingungen ihrer Benutzung nicht austauschbar seien.

Weiterlesen:
Unerlaubte Methadon-Abgabe - und der Widerruf der Approbation

Auf die weitere Frage des österreichischen Verwaltungsgerichtshofs nach den Befugnissen der für die Durchsetzung der Verordnung zuständigen nationalen Stelle sollte nach Ansicht von Generalanwalt Jääskinen vom EuGH geantwortet werden, dass die Verordnung es dieser Stelle nicht gestatte, einem Eisenbahnunternehmen, dessen Entschädigungsbedingungen nicht den in der Verordnung festgelegten Kriterien entsprächen, den konkreten Inhalt der von ihm zu verwendenden Entschädigungsbedingungen verbindlich vorzuschreiben, wenn das nationale Recht der betreffenden Stelle lediglich die Möglichkeit einräume, derartige Entschädigungsbedingungen für unwirksam zu erklären.

Der Generalanwalt fügt jedoch hinzu, dass die rechtliche Verpflichtung eines Eisenbahnunternehmens, der Verordnung nachzukommen, nicht von den Befugnissen der nationalen Stelle oder den ihr zur Verfügung stehenden Sanktionen abhängig sei. Das bedeute, dass die ÖBB-Personenverkehr AG rechtlich an die Verordnung gebunden sei und dass sich Fahrgäste in jedem Zivilverfahren, in dem von diesem Eisenbahnunternehmen eine Fahrpreisentschädigung verlangt werde, auf sie berufen könnten.

Die Schlussanträge seines Generalanwalts sind für den Gerichtshof der Europäischen Union nicht bindend. Aufgabe des Generalanwalts ist es, dem Europäischen Gerichtshof in völliger Unabhängigkeit einen Entscheidungsvorschlag für die betreffende Rechtssache zu unterbreiten. Die Richter des Gerichtshofs der Europäischen Union treten nunmehr in die Beratung ein. Das Urteil wird zu einem späteren Zeitpunkt verkündet.

Gerichtshof der Europäischen Union, Schlussanträge des Generalanwalts vom 14. März 2013 – C-509/11 [ÖBB-Personenverkehr AG]

  1. vom 23.10.2007, ABl.EU L 315, S. 4[]
Weiterlesen:
Fahrgastrechtegesetz - Was darf die Zugverspätung kosten?