Das EU-Kartellverbot und die Europäische Grundrechtecharte

Durch die Grundrechtecharta wird die Kommission der Europäischen Union nicht daran gehindert, im Namen der Europäischen Union vor einem nationalen Gericht eine Schadensersatzklage zu erheben, um den der Union durch ein unionsrechtswidriges Kartell oder Verhalten entstandenen Schaden ersetzt zu bekommen.

Das EU-Kartellverbot und die Europäische Grundrechtecharte

Die Grundrechtecharta hindert die EU-Kommission nicht daran, im Namen der Europäischen Union vor einem nationalen Gericht auf Ersatz des Schadens zu klagen, der der Europäischen Union durch ein unionsrechtswidriges Kartell oder Verhalten verursacht wurde. Erlässt die Europäische Kommission eine Entscheidung, mit der sie das Bestehen einer wettbewerbswidrigen Vereinbarung feststellt, so bindet diese Entscheidung die staatlichen Stellen einschließlich der nationalen Gerichte. Dies entschied jetzt der Gerichtshof der Europäischen Union im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchen der belgischen Rechtbank van koophandel te Brussel:

Im Februar 2007 setzte die Kommission in einem Verfahren nach Artikel 81 EG gegen die Otis-, die Kone-, die Schindler- und die ThyssenKrupp-Gruppe wegen Beteiligung an Kartellen auf dem Markt des Verkaufs, des Einbaus, der Wartung und der Modernisierung von Aufzügen und Fahrtreppen in Belgien, Deutschland, Luxemburg und den Niederlanden Geldbußen in einer Gesamthöhe von über 992 Mio. Euro fest1.

Die betroffenen Unternehmen erhoben hiergegen Nichtigkeitsklagen beim Gericht der Europäischen Union. Das Gericht wies die Klagen von Otis, Kone und Schindler mit Urteilen vom 13. Juli 20112 ab. Die gegen die Unternehmen der ThyssenKrupp-Gruppe festgesetzten Geldbußen setzte es hingegen herab.

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Mehrere Unternehmen dieser vier Gruppen legten gegen die diese Urteile des Europäischen Gerichts beim Gerichtshof der Europäischen Union Rechtsmittel ein, um ihre Aufhebung zu erreichen. Über diese Rechtsmittel ist bisher noch nicht entschieden3.

Parallel dazu reichte die Kommission im Juni 2008 – als Vertreterin der Europäischen Union (damals noch Europäische Gemeinschaft) – bei der Rechtbank van koophandel te Brussel (Belgien) eine Klage ein, mit der sie von Otis, Kone, Schindler und ThyssenKrupp die Zahlung eines Betrages von 7.061.688 € verlangte. Die Kommission machte geltend, dass der Europäischen Union aufgrund der Vereinbarung, an der diese Unternehmen beteiligt gewesen seien, in Belgien und Luxemburg ein finanzieller Schaden entstanden sei. Die Europäische Union hatte nämlich mehrere öffentliche Aufträge für den Einbau, die Wartung und die Erneuerung von Aufzügen und Fahrtreppen in verschiedenen Gebäuden europäischer Organe und Einrichtungen mit Sitz in diesen beiden Ländern vergeben, deren Preis infolge der von der Kommission für rechtswidrig erklärten Vereinbarung über dem Marktpreis gelegen habe.

Vor diesem Hintergrund hat die Rechtbank van koophandel te Brussel dem Gerichtshof der Europäischen Union mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt. Im Wege eines solchen Vorabentscheidungsersuchens können die Gerichte der Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof der Europäischen Union Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts oder nach der Gültigkeit einer Handlung der Europäischen Union vorlegen. Der Gerichtshof der Europäischen Union entscheidet dabei nicht über den nationalen Rechtsstreit. Es ist und bleibt Sache des nationalen Gerichts, über die Rechtssache im Einklang mit der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu entscheiden. Diese Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden.

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Vertretungsbefugnis der EU-Kommission

Erstens möchte die Brüsseler Rechtsbank wissen, ob die Kommission im konkreten Kontext dieser Rechtssache zur Vertretung der Union vor einem nationalen Gericht befugt ist.

Der Gerichtshof der Europäischen Union stellt hierzu fest, dass für die Vertretung der Union der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG) maßgeblich ist, da der Rechtsstreit vor dem Inkrafttreten des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) anhängig gemacht worden ist. Somit ist die Kommission befugt, die Gemeinschaft vor dem nationalen Gericht zu vertreten, ohne dass sie dafür einer spezifischen Vollmacht bedarf.

Die Europäische Grundrechtecharta

Zweitens möchte das nationale Gericht wissen, ob die Charta der Grundrechte der Europäischen Union die Kommission daran hindert, als Vertreterin der Union auf Ersatz des Schadens zu klagen, der der Union aufgrund eines wettbewerbswidrigen Verhaltens entstanden ist, für das in einer Entscheidung dieses Organs die Unvereinbarkeit mit dem Unionsrecht festgestellt wurde.

Der Gerichtshof der Europäischen Union weist zunächst darauf hin, dass jedermann Ersatz des ihm entstandenen Schadens verlangen kann, wenn zwischen dem Schaden und einem verbotenen Kartell oder Verhalten ein Kausalzusammenhang besteht, und dass dieses Recht somit auch der Union zusteht.

Bei der Ausübung dieses Rechts müssen jedoch die Grundrechte der Parteien beachtet werden, wie sie insbesondere in der Charta gewährleistet sind. Was insbesondere das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz angeht, weist der Gerichtshof darauf hin, dass dieses Recht mehrere Elemente umfasst, zu denen u. a. das Recht auf Zugang zu einem Gericht und der Grundsatz der Waffengleichheit gehören.

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Zum Recht auf Zugang zu einem Gericht hebt der Gerichtshof hervor, dass der Grundsatz, wonach die nationalen Gerichte durch die Feststellung eines rechtswidrigen Verhaltens in einer Entscheidung der Kommission gebunden sind, nicht bedeutet, dass die Parteien kein Recht auf Zugang zu einem Gericht hätten. Das Unionsrecht sieht nämlich für Kommissionsentscheidungen im Bereich des Wettbewerbs ein System der gerichtlichen Kontrolle vor, das sämtliche nach der Grundrechtecharta erforderlichen Garantien bietet.

Die nationalen Gerichte sind zwar durch die Feststellungen der Kommission in Bezug auf das Vorliegen eines wettbewerbswidrigen Verhaltens gebunden, doch sind allein sie dafür zuständig, das Vorliegen eines Schadens und eines unmittelbaren Kausalzusammenhangs zwischen diesem Verhalten und dem entstandenen Schaden zu beurteilen. Auch wenn die Kommission in ihrer Entscheidung die genauen Auswirkungen der Zuwiderhandlung bestimmt hat, bleibt es Sache der nationalen Gerichte, im Einzelfall jeweils den Schaden desjenigen, der eine Schadensersatzklage erhoben hat, zu bestimmen. Die Kommission ist daher nicht Richterin in eigener Sache.

Zum Grundsatz der Waffengleichheit schließlich weist der Gerichtshof der Europäischen Union darauf hin, dass dieser Grundsatz der Wahrung des Gleichgewichts zwischen den Prozessparteien dient, indem er gewährleistet, dass jedes Dokument, das einem Gericht vorgelegt wird, von jedem am Verfahren Beteiligten kontrolliert und in Frage gestellt werden kann. Im vorliegenden Fall wurden aber die Informationen, die die Kommission im Kartellverfahren gesammelt hatte – und die die beklagten Unternehmen nicht zu kennen behaupten –, dem nationalen Gericht von der Kommission gar nicht vorgelegt. Jedenfalls verbietet das Unionsrecht der Kommission, bei einer wettbewerbsrechtlichen Untersuchung erlangte Informationen zu einem anderen als dem Untersuchungszweck zu verwerten.

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Aufgrund dieser Erwägungen gelangt der Gerichtshof der Europäischen Union zu dem Ergebnis, dass die Charta die Kommission nicht daran hindert, im Namen der Union vor einem nationalen Gericht auf Ersatz des Schadens zu klagen, der der Union durch ein unionsrechtswidriges Kartell oder Verhalten entstanden ist.

Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil vom 6. November 2012 – C-199/11 [Europese Gemeenschap / Otis NV u. a.]

  1. Kommission, Entscheidung vom 21. Februar 2007 – K(2007) 512 endg. [COMP/E-1/38.823 – Aufzüge und Fahrtreppen], ABl.EU 2008, C 75, S. 19[]
  2. EuG, Urteile vom 13.07.2011 – T-138/07 [Schindler Holding Ltd u. a./Kommission]; verbund. Rs. T-141/07 [General Technic-Otis Sàrl/Kommission], T-142/07 [General Technic Sàrl/Kommission], T-145/07 [Otis SA u. a./Kommission] und T-146/07 [United Technologies Corp./Kommission]; verbund. Rs. T-144/07 [ThyssenKrupp Liften Ascenseurs NV/Kommission], T-147/07 [ThyssenKrupp Aufzüge GmbH u. a./Kommission], T-148/07 [ThyssenKrupp Ascenseurs Luxembourg Sàrl/Kommission], T-149/07 [ThyssenKrupp Elevator AG/Kommission], T-150/07 [ThyssenKrupp AG/Kommission] und T-154/07 [ThyssenKrupp Liften BV/Europäische Kommission]; sowie T-151/07 [Kone Oyj u. a./Kommission][]
  3. EuGH, Laufende Rechtssachen: Schindler Holding u. a./Kommission (C-501/11 P) und Kone u. a./Kommission (C-510/11 P). Durch Beschluss gestrichene Rechtssachen: Beschlüsse vom 24. April 2012, ThyssenKrupp Liften Ascenseurs/Kommission (C-516/11 P) und ThyssenKrupp Liften/Kommission (C-519/11 P); Beschlüsse vom 8. Mai 2012, ThyssenKrupp Ascenseurs Luxembourg/Kommission (C-504/11 P), ThyssenKrupp Elevator/Kommission (C-505/11 P) und ThyssenKrupp/Kommission (C-506/11 P). Abgeschlossene Rechtssachen: Beschlüsse vom 15. Juni 2012, United Technologies/Kommission (C-493/11 P) und Otis Luxembourg u. a./Kommission (C-494/11 P).[]
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