Mit Verkehrssicherungspflicht des mit der örtlichen Bauüberwachung beauftragten Architekten hatte sich aktuell der Bundesgerichtshof zu befassen:

Nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs trifft den mit der örtlichen Bauaufsicht, Bauleitung oder Bauüberwachung beauftragten Architekten die Pflicht, nicht nur seinen Auftraggeber sondern auch Dritte, die sich befugt auf der Baustelle aufhalten, vor Schäden zu bewahren, die im Zusammenhang mit der Errichtung des Bauwerks entstehen können. Im Regelfall braucht der Architekt allerdings nur diejenigen Verkehrssicherungspflichten zu beachten, die dem Bauherrn als dem mittelbaren Veranlasser der aus der Bauausführung fließenden Gefahren obliegen; ihn treffen im Allgemeinen nur sog. sekundäre Verkehrssicherungspflichten. Primär verkehrssicherungspflichtig ist der Unternehmer. Er hat für die Sicherheit der Baustelle zu sorgen. Die Unfallverhütungsvorschriften der Berufsgenossenschaften, die die im konkreten Fall zu beachtenden Sorgfaltspflichten durch Bestimmungen über Sicherheitsmaßnahmen konkretisieren1, wenden sich nur an ihn. Sie sollen die Versicherten vor den typischen Gefährdungen des jeweiligen Gewerbes schützen2. Diesen Zweck können sie nur erfüllen, wenn sie von dem Unternehmer zu beachten sind, der die Versicherten beschäftigt3.
Unmittelbar selbst verkehrssicherungspflichtig wird der mit der örtlichen Bauaufsicht, Bauleitung oder Bauüberwachung beauftragte Architekt aber dann, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Unternehmer in dieser Hinsicht nicht genügend sachkundig oder zuverlässig ist, wenn er Gefahrenquellen erkannt hat oder wenn er diese bei gewissenhafter Beobachtung der ihm obliegenden Sorgfalt hätte erkennen können4. Er ist dann verpflichtet, die notwendigen und zumutbaren Vorkehrungen zu treffen, um eine Schädigung anderer zu verhindern5.
Nach diesen Grundsätzen hätte im hier vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall der mit der Bauüberwachung betraute Architekt vor dem Unfall für eine ausreichende Sicherung der Absturzkante sorgen müssen. Die ihm obliegende sekundäre Verkehrssicherungspflicht hatte sich in dem Moment aktualisiert, in dem er von dem Fehlen einer Absturzsicherung an den Kanten der oberen Hallenebene Kenntnis erlangt hatte. Denn wegen der ungesicherten Absturzkanten befand sich die Baustelle am Unfalltag in einem nicht verkehrssicheren Zustand, der die Ausführung von Arbeiten in diesem Bereich nicht zuließ6.
Der Architekt hat seiner Verkehrssicherungspflicht nicht dadurch genügt, dass er das Handwerksunternehmen auf die fehlende Absturzsicherung hingewiesen hat. Der bloße Hinweis auf die Gefahrenstelle bot keine ausreichende Gewähr dafür, dass Dritte nicht zu Schaden kommen würden.
Trotz des dadurch bewirkten Gefahrbewusstseins auf Seiten des Handwerksunternehmens lag es nahe, dass sich ein Arbeiter in die Nähe der Gefahrenstelle begibt und aufgrund kurzfristiger Unaufmerksamkeit durch ein unbedachtes Verhalten zu Schaden kommt7.
Dieser Beurteilung steht nicht entgegen, dass auch das Handwerksunternehmen gegenüber dem ihr zur Arbeitsleistung überlassenen Arbeitnehmer – jedenfalls gemäß § 618 BGB – verpflichtet war, die zur Abwendung von Gefahren für Leben und Gesundheit erforderlichen Schutzvorkehrungen zu treffen und die einschlägigen Unfallverhütungsvorschriften einzuhalten8.
Denn die Verkehrssicherungspflicht des Architekten bestand unabhängig von der Verpflichtung des Handwerksunternehmens. Abgesehen davon war auch der Unternehmer verkehrssicherungspflichtig, der die ungesicherte Ebene hergestellt und damit die Gefahrenquelle geschaffen hatte9. Waren mithin mehrere Unternehmen für die Sicherheit der Baustelle in dem fraglichen Bereich verantwortlich, so durfte der für die Bauüberwachung zuständige Architekt sich jedenfalls nicht ohne eine ausdrückliche und eindeutige Anweisung und ohne eine Kontrolle darauf verlassen, dass das Handwerksunternehmen die erforderlichen Maßnahmen ergreifen würde10. Dies gilt umso mehr, als sich im Streitfall eine Gefahr verwirklicht hat, die typischerweise mit der Abfolge verschiedener Gewerke und dem Tätigwerden einer Vielzahl von Personen bei der Errichtung des Bauwerks verbunden ist und von dem mit der Bauüberwachung betrauten Architekten am besten überblickt werden kann11.
Bundesgerichtshof, Urteil vom 18. November 2014 – VI ZR 47/13
- vgl. BGH, Urteil vom 13.03.2001 – VI ZR 142/00, VersR 2001, 1040, 1041[↩]
- vgl. BGH, Urteile vom 30.01.2001 – VI ZR 49/00, VersR 2001, 985, 986; vom 08.01.2002 – VI ZR 364/00, VersR 2002, 330, 331[↩]
- vgl. BGH, Urteil vom 15.04.1975 – VI ZR 19/74, VersR 1975, 812, 813[↩]
- vgl. BGH, Urteile vom 06.11.1973 – VI ZR 76/72, VersR 1974, 263, 264; vom 13.03.2007 – VI ZR 178/05, VersR 2007, 948 Rn. 12; BGH, Urteil vom 10.03.1977 – VII ZR 278/75, BGHZ 68, 169, 175 f.[↩]
- vgl. BGH, Urteile vom 06.10.1970 – VI ZR 223/69, VersR 1971, 84, 85; vom 20.09.1983 – VI ZR 248/81, VersR 1983, 1141, 1142; und vom 13.03.2007 – VI ZR 178/05, aaO[↩]
- vgl. BGH, Urteil vom 06.11.1973 – VI ZR 76/72, VersR 1974, 263, 264; OLG Hamm, VersR 1993, 491 f.[↩]
- vgl. BGH, Urteile vom 06.11.1973 – VI ZR 76/72, VersR 1974, 263, 264; vom 15.04.1975 – VI ZR 19/74, VersR 1975, 812 f.; vom 08.01.2002 – VI ZR 364/00, VersR 2002, 330; OLG Hamm, VersR 1993, 491 f.; Staudinger/Hager, BGB, Neubearbeitung 2009, § 823 E Rn. 383[↩]
- vgl. BAGE 25, 514, 522; 131, 18 Rn. 23 ff.; BAG, NZA 1989, 340, 341; NZA-RR 2010, 123 Rn. 43 f.; Henssler/Willemsen/Kalb/Krause, Arbeitsrecht, 6. Aufl., § 618 BGB Rn. 6, 9; Erman/Belling, BGB, 14. Aufl., § 618 Rn. 1, 5; s. auch § 11 Abs. 6 S. 1 AÜG sowie Art. 8 RL 91/383/EWG über die Verbesserung des Gesundheitsschutzes[↩]
- vgl. BGH, Urteil vom 28.03.1996 – IX ZR 77/95, VersR 1997, 61, 63; OLG Hamm, VersR 1993, 491 f.[↩]
- vgl. auch BGH, Urteil vom 06.11.1973 – VI ZR 76/72, VersR 1974, 263, 264; OLG Hamm, VersR 1993, 491 f.; Staudinger/Hager, aaO[↩]
- vgl. BGH, Urteil vom 13.03.2007 – VI ZR 178/05, VersR 2007, 948 Rn. 13[↩]