Die nach dem Übereinkommen von Montreal vorgesehene verschuldensunabhängige Haftung von Fluggesellschaften erstreckt sich auf eine unzureichende medizinische Erstversorgung an Bord.

Dies entschied aktuell der Gerichtshof der Europäischen Union in einem Fall aus Österreich. Während eines von Austrian Airlines durchgeführten Fluges fiel eine Kanne mit heißem Kaffee von einem Servierwagen und verbrühte einen Reisenden. Er erhielt an Bord des Flugzeugs medizinische Erstversorgung. Der Reisende erhob bei den österreichischen Gerichten Klage gegen Austrian Airlines auf Schadenersatz und auf Feststellung der Haftung für alle künftigen Schäden infolge der Verschlimmerung der Verbrühungen durch die unzureichende medizinische Erstversorgung an Bord. Austrian Airlines macht geltend, die Klage sei abzuweisen, da sie nach Ablauf der Frist von zwei Jahren erhoben worden sei, die nach dem Übereinkommen zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr vom 28.05.1999 (Übereinkommen von Montreal)1 für Schadenersatzklagen betreffend einen Unfall an Bord gelte. Der Reisende vertritt dagegen die Auffassung, das Übereinkommen von Montreal sei nicht anwendbar, da die medizinische Erstversorgung an Bord nicht unter den Begriff „Unfall“ im Sinne dieses Übereinkommens falle. Ihm zufolge ist die im österreichischen Recht vorgesehene Frist von drei Jahren anwendbar und die Klage daher nicht verspätet.
Zwecks Klarstellung, für welche Schäden Austrian Airlines haftbar gemacht werden kann, hat der österreichische Oberste Gerichtshof dem Gerichtshof der Europäischen Union die Rechtsfrage zur Vorabentscheidung vorgelegt, ob die unzureichende medizinische Erstversorgung eines Reisenden an Bord eines Flugzeugs, die zu einer Verschlimmerung der durch einen „Unfall“ im Sinne des Übereinkommens von Montreal verursachten Körperverletzung geführt hat, als Teil dieses Unfalls anzusehen ist.
Mit einem solchen Vorabentscheidungsersuchen haben die Gerichte der EU-Mitgliedstaaten die Möglichkeit, dem Gerichtshof der Europäischen Union im Rahmen eines Rechtsstreits, über den sie zu entscheiden haben, Fragen betreffend die Auslegung des Unionsrechts oder die Gültigkeit einer Handlung der Europäischen Union vorzulegen. Der Unionsgerichtshof entscheidet dabei allein über die vorgelegte Rechtsfrage, nicht auch über den beim nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreit. Dieser wird weiterhin in der Folge unter Zugrundelegung der Entscheidung des Unionsgerichtshofs vom nationalen Gericht entschieden. Die Entscheidung des Unionsgerichtshofs bindet in gleicher Weise auch andere nationale Gerichte, wenn diese über vergleichbare Rechtsfragen zu befinden haben.
Der Unionsgerichtshof bejahte nun die Vorlagefrage des österreichischen Obersten Gerichtshofs und stellte fest, dass ein Schadenseintritt nicht immer auf ein isoliertes Ereignis zurückgeführt werden kann, wenn dieser Schaden sich als Folge eines Bündels von Ereignissen darstellt, die sich gegenseitig bedingen. Somit ist ein innerlich zusammenhängender Vorgang ohne räumlich-zeitliche Zäsur als ein einheitlicher „Unfall“ im Sinne des Übereinkommens von Montreal anzusehen.
Im vorliegenden Fall besteht in Anbetracht der räumlichen und zeitlichen Kontinuität zwischen dem Umfallen der Kaffeekanne und der medizinischen Erstversorgung des dadurch verletzten Reisenden unbestreitbar ein Kausalzusammenhang zwischen diesem Umfallen und der Verschlimmerung der dadurch verursachten Körperverletzung aufgrund der unzureichenden medizinischen Erstversorgung.
Diese Auslegung steht zudem im Einklang mit den Zielen des Übereinkommens von Montreal, das eine Regelung der verschuldensunabhängigen Haftung von Fluggesellschaften vorsieht, um den Schutz der Verbraucherinteressen sicherzustellen und zugleich auf einen gerechten Ausgleich mit den Interessen der Fluggesellschaften zu achten. Der Umstand, dass die Fluggesellschaft gegen ihre Sorgfaltspflichten verstoßen hat, vermag diese Feststellungen nicht in Frage zu stellen: Für die Einstufung als „Unfall“ genügt es, dass sich das Geschehen, durch das die Körperverletzung eines Reisenden verursacht wurde, an Bord ereignet hat.
Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil vom 6. Juli 2023 – C-510/21
- ABl. 2001, L 194, S. 38[↩]