E-Zigaretten – nikotinhaltige Liquids als Funktionsarzneimittel

Die Einstufung eines Erzeugnisses als Funktionsarzneimittel im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a AMG setzt voraus, dass es objektiv geeignet ist, zu therapeutischen Zwecken eingesetzt zu werden. Nikotinhaltige Liquids, die zum Verdampfen in E-Zigaretten bestimmt sind und die nicht als Mittel zur Heilung, Linderung oder Verhütung von Krankheiten bezeichnet oder vermarktet werden, sind keine Arzneimittel im Sinne von § 2 Abs. 1 AMG1.

E-Zigaretten – nikotinhaltige Liquids als Funktionsarzneimittel

Nach § 69 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 1 AMG2 treffen die zuständigen Behörden die zur Beseitigung festgestellter Verstöße und die zur Verhütung künftiger Verstöße notwendigen Anordnungen. Sie können insbesondere das Inverkehrbringen von Arzneimitteln untersagen, wenn die erforderliche Zulassung für das Arzneimittel nicht vorliegt. Die Voraussetzungen dieser Eingriffsnorm für nikotinhaltige Liquids verneint das Bundesverwaltungsgericht.Die von der Klägerin vertriebenen Liquids der Nikotinstärken „hoch“ (15 mg) und „mittel“ (10 mg) erfüllen weder die Merkmale eines sog. Präsentationsarzneimittels im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 1 AMG und Art. 1 Nr. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 06.11.2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel3 i.d.F. der Richtlinie 2012/26/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25.10.2012 zur Änderung der Richtlinie 2001/83/EG hinsichtlich der Pharmakovigilanz4, noch handelt es sich bei ihnen um sog. Funktionsarzneimittel im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a AMG und Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/83/EG.

Präsentationsarzneimittel

Unter den Begriff des Präsentationsarzneimittels fallen Stoffe oder Zubereitungen aus Stoffen, die zur Anwendung im oder am menschlichen Körper und als Mittel mit Eigenschaften zur Heilung oder Linderung oder zur Verhütung menschlicher Krankheiten oder krankhafter Beschwerden bestimmt sind. Ein Erzeugnis erfüllt diese Merkmale, wenn es entweder ausdrücklich als Mittel mit Eigenschaften zur Heilung, Linderung oder Verhütung menschlicher Krankheiten bezeichnet oder empfohlen wird oder wenn sonst bei einem durchschnittlich informierten Verbraucher auch nur schlüssig, aber mit Gewissheit der Eindruck entsteht, dass das Produkt in Anbetracht seiner Aufmachung die betreffenden Eigenschaften haben müsse5.

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Danach sind die streitigen Produkte nicht als Arzneimittel im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 1 AMG, Art. 1 Nr. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/83/EG anzusehen. Das Berufungsgericht hat festgestellt, dass die nikotinhaltigen Liquids nicht als Mittel präsentiert werden, die zur Heilung, Linderung oder Verhütung von Krankheiten bestimmt sind. Weder nach ihrer Bezeichnung und den werbenden Aussagen noch nach der Produktaufmachung im Übrigen nehmen sie in Anspruch, Eigenschaften zur Behandlung der Nikotin- oder Tabaksucht aufzuweisen. Diese Tatsachenbewertung bindet das Revisionsgericht (§ 137 Abs. 2 VwGO). Die Beklagte hat hiergegen keine durchgreifenden Revisionsgründe vorgebracht. Das Oberverwaltungsgericht ist bei seiner Würdigung von zutreffenden rechtlichen Maßstäben ausgegangen und hat den Begriff des Präsentationsarzneimittels entgegen der Auffassung der Beklagten nicht unzulässig eingeschränkt. Die in dem angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen sind von ihr auch nicht erfolgreich mit einer Verfahrensrüge angegriffen worden. Ihr Vorbringen erschöpft sich in der Kritik an der Tatsachenwürdigung des Berufungsgerichts, ohne dass sie, wie es § 139 Abs. 3 Satz 4 VwGO verlangt, einen Verfahrensmangel rügt und darlegt.

Funktionsarzneimittel

Die Voraussetzungen eines Funktionsarzneimittels liegen ebenfalls nicht vor.

Hierzu zählen nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a AMG (Buchst. b ist unstreitig nicht einschlägig) und Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/83/EG alle Stoffe und Stoffzubereitungen, die im oder am menschlichen Körper angewendet oder einem Menschen verabreicht werden können, um die physiologischen Funktionen durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen.

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Die Entscheidung, ob ein Erzeugnis unter diese Definition fällt, ist von Fall zu Fall zu treffen. Dabei sind alle Merkmale des Produkts zu berücksichtigen (vgl. § 2 Abs. 3a AMG, Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83/EG), insbesondere seine Zusammensetzung, seine pharmakologischen, immunologischen oder metabolischen Eigenschaften, die Modalitäten seines Gebrauchs, der Umfang seiner Verbreitung, seine Bekanntheit bei den Verbrauchern und die Risiken seiner Verwendung6. Im Rahmen dieser Einzelfallprüfung sind die pharmakologischen, immunologischen oder metabolischen Eigenschaften das Kriterium, auf dessen Grundlage ausgehend von den Wirkungsmöglichkeiten des Erzeugnisses zu beurteilen ist, ob es zur Wiederherstellung, Korrektur oder Beeinflussung der physiologischen Funktionen im oder am menschlichen Körper angewandt oder einem Menschen verabreicht werden kann7. Das Produkt muss die Körperfunktionen nachweisbar und in nennenswerter Weise wiederherstellen, korrigieren oder beeinflussen können, wobei auf dessen bestimmungsgemäßen, normalen Gebrauch abzustellen ist8.

Nicht erfasst vom Begriff des Funktionsarzneimittels sind Stoffe oder Stoffzusammensetzungen, deren Wirkungen sich auf eine schlichte Beeinflussung der physiologischen Funktionen beschränken, ohne dass sie geeignet wären, der Gesundheit unmittelbar oder mittelbar zuträglich zu sein9. Daher können Erzeugnisse, die nicht zu therapeutischen, sondern ausschließlich zu Entspannungs- oder Rauschzwecken konsumiert werden und dabei gesundheitsschädlich sind, nicht als Arzneimittel im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a AMG, Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/83/EG eingestuft werden10. Schließlich genügt es nicht, dass das fragliche Erzeugnis Eigenschaften besitzt, die der Gesundheit im Allgemeinen förderlich sind, oder dass es einen Stoff enthält, der für therapeutische Zwecke verwendet werden kann. Ihm muss vielmehr tatsächlich die Funktion der Heilung, Linderung oder Verhütung von Krankheiten oder krankhaften Beschwerden zukommen11. Mit anderen Worten, das Produkt muss objektiv geeignet sein, für therapeutische Zwecke eingesetzt zu werden.

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Gemessen daran sind die streitigen Nikotin-Liquids nicht als Funktionsarzneimittel anzusehen.

Zwar ist zugrundezulegen, dass Nikotin ein Stoff ist, der pharmakologische Wirkungen entfaltet und in den vertriebenen Erzeugnissen in einer Dosierung vorhanden war, die bei bestimmungsgemäßem Gebrauch eine nennenswerte Einwirkung auf den Stoffwechsel hervorruft. Bei der gebotenen Gesamtschau aller Merkmale der Produkte ist das Oberverwaltungsgericht aber zu dem Schluss gelangt, dass sie nach ihrer Funktion Genussmittel sind und ihnen keine Arzneimitteleigenschaft zukommt. Gegen diese Würdigung ist aus revisionsrechtlicher Sicht nichts zu erinnern.

Für die Genussmitteleigenschaft spricht, dass die nikotinhaltige E-Zigarette eine große Ähnlichkeit mit Tabakzigaretten aufweist. Das ergibt sich aus der äußeren Form, der sonstigen Aufmachung und der Art der Anwendung der E-Zigarette. Danach wird mit dem Verdampfen der Liquids das Rauchen der Tabakzigarette imitiert. Durch den Zusatz von Aromastoffen soll ein angenehmer Geschmack erzeugt werden, wobei dem Anwender vielfältige Geschmacksvarianten zur Auswahl stehen. Das unterscheidet die Liquids von dem zur Rauchentwöhnung zugelassenen Arzneimittel „Nicorette Inhaler“, das allein Menthol und Nikotin enthält. Auch fehlt eine Dosierungsempfehlung, wie sie für Arzneimittel typisch ist. Des Weiteren hat das Berufungsgericht festgestellt, dass die Liquids nicht geeignet sind, zu therapeutischen Zwecken eingesetzt zu werden. Es stützt sich darauf, dass allein die Möglichkeit, Entzugssymptome kurzfristig zu lindern, die Annahme einer arzneilichen Zweckbestimmung nicht rechtfertigt, weil die Aufnahme und Anreicherung von Nikotin der Gesundheit schaden. Diese Argumentation ist nicht zu beanstanden12. Einen Vergleich mit den zur Substitution von Betäubungsmitteln zugelassenen Arzneimitteln hat das Oberverwaltungsgericht unter Hinweis auf die dafür bestehenden speziellen gesetzlichen Bestimmungen überzeugend abgelehnt. Schließlich ist den streitigen Liquids auch nicht deshalb eine therapeutische Eignung beizumessen, weil Erzeugnisse wie Nikotinpflaster oder der „Nicorette Inhaler“ als Arzneimittel eingestuft (und zugelassen) sind. Grundlage für die Qualifizierung dieser Nikotinersatzpräparate als Arzneimittel ist ihr Anspruch und ihre objektive Bestimmung, zur Rauchentwöhnung angewendet zu werden. Einen solchen therapeutischen Nutzen weisen die von der Klägerin vertriebenen Liquids nach den Feststellungen des Berufungsgerichts nicht auf. Es hat angenommen, dass sich die Eignung der E-Zigarette als Mittel zur Erreichung eines Rauchstopps und zur Behandlung der Nikotinsucht mit dem Ziel der Entwöhnung wissenschaftlich nicht belegen lässt. Dabei stützt es sich auf verschiedene sachverständige Stellungnahmen und wissenschaftliche Erkenntnismaterialien. Dementsprechend messen auch die Konsumenten den Produkten überwiegend keine arzneiliche Zweckbestimmung bei, sondern verwenden sie als Genussmittel.

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Danach kann die Arzneimitteleigenschaft auch nicht damit begründet werden, dass mit der Verwendung der Liquids gesundheitliche Risiken verbunden sind. Das Oberverwaltungsgericht hat nicht verkannt, dass die von dem Inhalieren des Nikotindampfes ausgehenden Gefahren für die Gesundheit noch nicht abschließend erforscht sind. Nach seinen Feststellungen sind nach dem derzeitigen Stand der Wissenschaft die Gesundheitsrisiken bei bestimmungsgemäßer Anwendung der E-Zigarette eher geringer einzuschätzen als die Gefahren des Rauchens herkömmlicher Tabakzigaretten; jedenfalls seien sie nicht größer. Dieser Befund legt zwar eine Regulierung des Inverkehrbringens und der Kennzeichnung nikotinhaltiger Liquids nahe (vgl. dazu Art. 1 Buchst. f und Art.20 der Richtlinie 2014/40/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 03.04.2014 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Herstellung, die Aufmachung und den Verkauf von ?Tabakerzeugnissen und verwandten Erzeugnissen und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/37/EG, ABl. Nr. L 127 S. 1, die von den Mitgliedstaaten bis zum 20.05.2016 umzusetzen ist, Art. 29 Abs. 1). Allein das Bestehen von Gesundheitsrisiken bei der Anwendung eines Produkts rechtfertigt es aber nicht, es als Arzneimittel anzusehen13.

§ 2 Abs. 3a AMG und Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83/EG führen zu keiner abweichenden rechtlichen Bewertung. Aus ihnen ergibt sich für den Fall, dass ein Erzeugnis unter die Definition des Arzneimittels fällt und zugleich unter die Begriffsbestimmung eines Erzeugnisses nach § 2 Abs. 3 AMG fallen kann, der Vorrang des Arzneimittelrechts. Die Anwendung der „Zweifelsfallregelung“ des § 2 Abs. 3a AMG beruht somit auf der Prämisse, dass das betreffende Produkt die Voraussetzungen eines Arzneimittels erfüllt14.

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Der Nichteinstufung als Arzneimittel steht schließlich nicht entgegen, dass nikotinhaltige Liquids in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union als Arzneimittel behandelt werden mögen. Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs lässt sich nach der gegenwärtigen – nicht vollständigen – Harmonisierung auf dem Gebiet des Arzneimittelrechts nicht ausschließen, dass die Frage der Arzneimitteleigenschaft eines Erzeugnisses unterschiedlich beurteilt wird. Der Umstand, dass Liquids für E-Zigaretten in einem Mitgliedstaat als Arzneimittel qualifiziert werden, bindet andere Mitgliedstaaten daher nicht15.

Bundesverwaltungsgericht, Urteile vom 20. November 2014 – 3 C 25.2013 –

  1. wie BVerwG, Urteile vom 20.11.2014 – 3 C 26.13 und BVerwG 3 C 27.13[]
  2. in der Fassung der Bekanntmachung vom 12.12 2005, BGBl. I S. 3394[]
  3. ABl. Nr. L 311 S. 67[]
  4. ABl. Nr. L 299 S. 1[]
  5. stRspr; z.B. BVerwG, Urteile vom 03.03.2011 ?- 3 C 8.10, Buchholz 418.32 AMG Nr. 60 Rn. 12; und vom 26.05.2009 – 3 C 5.09, Buchholz 418.710 LFGB Nr. 6 Rn. 21 f.; EuGH, Urteil vom 15.11.2007 – C-319/05, Kommission ./. Bundesrepublik Deutschland, Slg. 2007, I-9811 Rn. 43 ff. m.w.N.[]
  6. stRspr des EuGH; z.B. Urteile vom 03.10.2013 – C-109/12, Laboratoires Lyocentre, Rn. 42; und vom 15.01.2009 – C-140/07, Hecht-Pharma, Slg. 2009, I-41 Rn. 32, jeweils m.w.N.[]
  7. EuGH, Urteil vom 03.10.2013 – C-109/12, Laboratoires Lyocentre, Rn. 43[]
  8. EuGH, Urteile vom 06.09.2012 – C-308/11, Chemische Fabrik Kreussler, Rn. 35; und vom 30.04.2009 – C-27/08, BIOS Naturprodukte, Slg. 2009, I-3785 Rn. 21 ff.; BVerwG, Urteil vom 26.05.2009 – 3 C 5.09 – ?Buchholz 418.710 LFGB Nr. 6 Rn. 13 m.w.N.[]
  9. EuGH, Urteil vom 10.07.2014 – C-358/13 und – C-181/14, Rn. 38; BVerwG, Beschluss vom 25.10.2007 – 3 C 42.06 – PharmR 2008, 254, 256; Rennert, NVwZ 2008, 1179, 1184[]
  10. EuGH, Urteil vom 10.07.2014 – C-358/13 und – C-181/14, Rn. 46[]
  11. EuGH, Urteil vom 15.11.2007 – C-319/05, Kommission ./. Bundesrepublik Deutschland, Slg. 2007, I-9811 Rn. 64 f.[]
  12. vgl. EuGH, Urteil vom 10.07.2014 – C-358/13 und – C-181/14, Rn. 32 ff.[]
  13. vgl. EuGH, Urteile vom 30.04.2009 ?- C-27/08, BIOS Naturprodukte, Slg. 2009, I-3785 Rn. 24 ff.; und vom 10.07.2014 – C-358/13 und – C-181/14, Rn. 48 f.[]
  14. vgl. EuGH, Urteil vom 15.01.2009 – C-140/07, Hecht-Pharma, Slg. 2009, I-41 Rn. 24 m.w.N.; BVerwG, Urteil vom 26.05.2009 – 3 C 5.09, Buchholz 418.710 LFGB Nr. 6 Rn. 15[]
  15. EuGH, Urteile vom 03.10.2013 – C-109/12, Laboratoires Lyocentre, Rn. 45 ff.; und vom 15.01.2009 – C-140/07, Hecht-Pharma – ?Slg. 2009, I-41 Rn. 28[]
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