Nach Ansicht der Generalanwältin beim Gerichtshof der Europäischen Union schließt das Verbot der Doppelbestrafung gemäß der Charta der Grundrechte nicht aus, dass innerhalb der EU mehrere Wettbewerbsbehörden gegen ein und dasselbe Kartell hinsichtlich unterschiedlicher Gebiete oder Zeiträume vorgehen.

Die tschechische Wettbewerbsbehörde durfte daher nach Ansicht der Generalanwältin für Zeiträume vor dem 1. Mai 2004 nach nationalem Recht Sanktionen für die wettbewerbswidrigen Auswirkungen eines weltweiten Kartells für gasisolierte Schaltanlagen auf dem Gebiet der tschechischen Republik verhängen.
Der vorliegende Fall betrifft ein international operierendes Kartell, mit dem sich zahlreiche europäische und japanische Unternehmen vom 15. April 1988 bis ins Jahr 2004 hinein weltweit die Märkte für gasisolierte Schaltanlagen (GIS) aufgeteilt haben. Solche gasisolierte Schaltanlagen sind der Hauptbestandteil von Umspannwerken, die dazu dienen, elektrischen Strom mit hoher Spannung in solchen mit niedriger Spannung umzuwandeln und umgekehrt. Ihre Aufgabe ist es, den Transformator vor einer Überlast zu schützen und/oder den Stromkreis und einen defekten Transformator zu isolieren.
Sowohl die Europäische Kommission als auch die tschechische Wettbewerbsbehörde verhängten in dieser Sache im Jahr 2007 millionenschwere Geldbußen gegen die Kartellbeteiligten.
Mit ihrer Entscheidung1 vom 24. Januar 2007 verhängte die Kommission Geldbußen in Höhe von insgesamt 750,71 Mio. €. Die Unternehmen, gegen die Geldbußen verhängt wurden, haben beim Gericht der Europäischen Union Klagen auf Nichtigerklärung der Entscheidung der Kommission und auf Ermäßigung ihrer jeweiligen Geldbuße erhoben2. Die tschechische Wettbewerbsbehörde leitete ihr Verfahren allerdings später ein als die Kommission und erließ auch ihre Entscheidung später. Auch beschränkte sich die tschechische Wettbewerbsbehörde in ihrer Entscheidung darauf, allein die Auswirkungen des Kartells in der tschechischen Republik in einem Zeitraum vor dem 1. Mai 2004 zu ahnden, dem Tag des Beitritts dieses Mitgliedstaats zur Europäischen Union; dabei brachte diese Behörde ausschließlich nationales Kartellrecht zur Anwendung.
Toshiba und zahlreiche andere Kartellbeteiligte erhoben vor dem Krajský soud v Brn?, dem zuständigen Regionalgericht in Brün (Brno) Klage gegen die Entscheidung der tschechischen Wettbewerbsbehörde. Sie sind u.a. der Auffassung, dass die wettbewerbswidrigen Folgen des streitigen Kartells in der Tschechischen Republik vor deren Beitritt zur Europäischen Union bereits mit der zeitlich früher ergangenen Entscheidung der Kommission geahndet worden seien. Die von der tschechischen Wettbewerbsbehörde gesondert verhängte Geldbuße verstoße daher gegen das Verbot der Doppelbestrafung (Grundsatz ne bis in idem). Das nationale tschechische Gericht möchte nun vom Gerichtshof der Europäischen Union im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens insbesondere wissen, ob der Grundsatz ne bis in idem in einem Fall wie dem vorliegenden der Anwendung des innerstaatlichen Wettbewerbsrechts durch die nationale Wettbewerbsbehörde entgegensteht.
Im Wege eines solchen Vorabentscheidungsersuchens können die Gerichte der Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof der Europäischen Union Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts oder nach der Gültigkeit einer Handlung der Union vorlegen. Der Gerichtshof der Europäischen Union entscheidet dabei nur über die Rechtsfrage, nicht über den nationalen Rechtsstreit. Es ist Sache des nationalen Gerichts, über die Rechtssache im Einklang mit der Entscheidung des Gerichtshofs zu entscheiden. Diese Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden.
In ihren jetzt vorgelegten Schlussanträgen weist Generalanwältin Juliane Kokott zunächst darauf hin, dass der Grundsatz ne bis in idem auf Unionsebene als allgemeiner Rechtsgrundsatz anerkannt ist und gemäß Art. 50 der Charta der Grundrechte den Rang eines Unionsgrundrechts genießt. Nach diesem Grundsatz dürfe niemand wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden.
Streitig ist nach Ansicht der Generalanwältin im vorliegenden Fall der Begriff des idem, also die Frage, nach welchen Kriterien festzustellen ist, ob die betroffenen Unternehmen wegen desselben wettbewerbswidrigen Verhaltens erneut verfolgt oder bestraft wurden, als die tschechische Wettbewerbsbehörde gegen sie eine Geldbuße verhängte. Generalanwältin Kokott spricht sich dafür aus, den unionsrechtlichen Grundsatz ne bis in idem unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (Straßburg) auszulegen. Deshalb sei allein die Identität des Sachverhaltes für die Bestimmung des idem maßgeblich und nicht die Identität des geschützten Rechtsgutes. Es komme somit auf die Identität der materiellen Tat, verstanden als das Vorliegen eines Komplexes konkreter, unlösbar miteinander verbundener Umstände, an.
Sodann prüft Generalanwältin Kokott, ob sich im konkreten Fall die Entscheidung der Kommission und die Entscheidung der tschechischen Wettbewerbsbehörde auf dieselbe materielle Tat beziehen, d. h. auf denselben oder einen im Wesentlichen gleichen Sachverhalt. Sie kommt dabei zu dem Ergebnis, dass beide Entscheidungen zwar Zuwiderhandlungen zum Gegenstand haben, die auf dasselbe international operierende Kartell zurückgehen, ihnen aber ansonsten unterschiedliche Sachverhalte zugrunde liegen.
Hierzu führt sie zunächst an, dass im Rahmen von Kartellvergehen notwendigerweise stets der Zeitraum und das Gebiet, in dem sich die Kartellabsprache in wettbewerbswidriger Weise ausgewirkt hat bzw. auswirken konnte, zur materiellen Tat gehörten. In diesem Zusammenhang solle der Grundsatz ne bis in idem verhindern, dass Unternehmen für die wettbewerbswidrigen Folgen ein und desselben Kartells innerhalb der EU von mehreren Wettbewerbsbehörden oder Gerichten in Bezug auf das gleiche Gebiet und den gleichen Zeitraum sanktioniert werden. Der Grundsatz ne bis in idem verbiete hingegen nicht, dass innerhalb der EU mehrere Wettbewerbsbehörden oder Gerichte die Wettbewerbsbeschränkungen ein und desselben Kartells auf unterschiedlichen Gebieten oder für unterschiedliche Zeiträume ahnden.
Vor diesem Hintergrund kann nach Ansicht der Generalanwältin im vorliegenden Fall das Verbot der Doppelbestrafung nicht eingreifen, weil die Entscheidung der Kommission und die Entscheidung der tschechischen Wettbewerbsbehörde nicht dieselben Gebiete betreffen. Die Entscheidung der Kommission sei nämlich dahingehend auszulegen, dass mit ihr keine Wettbewerbsverstöße auf dem Gebiet der Tschechischen Republik im Zeitraum vor deren Beitritt zur Europäischen Union, also vor dem 1. Mai 2004, geahndet werden. Zum einen bezieht sich die Kommission speziell auf die Auswirkungen des Kartells innerhalb der EU und nimmt ausdrücklich Bezug auf die damaligen Mitgliedstaaten. Zum anderen waren die Umsätze der Kartellbeteiligten in der EU aus dem Jahr 2003, also vor der Erweiterung am 1. Mai 2004, Grundlage für die Berechnung der Geldbußen. Schließlich war Art. 81 EG (heute Art. 101 AEUV) als Rechtsgrundlage der Entscheidung der Kommission vor dem 1. Mai 2004 nicht auf dem Gebiet der Tschechischen Republik anwendbar.
Insgesamt kommt Generalanwältin Kokott somit zu dem Ergebnis, dass die Entscheidung der Kommission und die Entscheidung der tschechischen Wettbewerbsbehörde nicht dieselbe materielle Tat betreffen, so dass die tschechische Wettbewerbsbehörde mit ihrer Entscheidung nicht gegen das Verbot der Doppelbestrafung (Grundsatz ne bis in idem) verstoßen hat.
Die Schlussanträge seiner Generalanwältin sind für den Gerichtshof der Europäischen Union nicht bindend. Aufgabe des Generalanwalts ist es, dem Gerichtshof in völliger Unabhängigkeit einen Entscheidungsvorschlag für die betreffende Rechtssache zu unterbreiten. Die Richter des Gerichtshofs treten nunmehr in die Beratung ein. Das Urteil wird zu einem späteren Zeitpunkt verkündet.
Gerichtshof der Europäischen Union, Schlussanträge der Generalanwältin vom 8. September 2011 – C‑17/10 [Toshiba Corporation u.a.]
- EU-Kommission, Entscheidung vom 24.01.2007 – K (2006) 6762 endg.[↩]
- zu den europäischen Unternehmen: EuG, Urteile vom 03.03.2011, Siemens AG/Kommission (T‑110/07), Areva, Areva T & D Holding SA, Areva T & D SA, Areva T & D AG, Alstom/Kommission (T‑117/07 und T‑121/07) und die verbundenen Rechtssachen Siemens AG Österreich, VA Tech Transmission & Distribution GmbH & Co. KEG, Siemens Transmission & Distribution Ltd., Siemens Transmission & Distribution SA, Nuova Magrini Galileo SpA/Kommission (T‑122/07 bis T‑124/07); zu den die japanischen Unternehmen betreffenden Rechtssachen: EuG, Urteile vom 12.07.2011, Hitachi u.a./Kommission (T‑112/07), Toshiba/Kommission (T‑113/07), Fuji Electric Co. Ltd/Kommission (T‑132/07) und Mitsubishi Electric/Kommission (T‑133/07).[↩]