Fehlender Zugang zu Akten führen zur Urteilsaufhebung

Die Entscheidungen der Kommission, mit denen diese Geldbußen gegen Solvay wegen wettbewerbswidrigen Verhaltens auf dem Markt für Natriumkarbonat verhängt hat, sind vom Gerichtshof der Europäischen Union für nichtig erklärt worden. Die Urteile des Gerichts sind wegen begangener Rechtsfehler vom Gerichtshof aufgehoben worden.

Fehlender Zugang zu Akten führen zur Urteilsaufhebung

Im hier vom Gerichtshof der Europäischen Union entschiedenen Fall hat die Kommission die Rechte von Solvay auf Zugang zu den Verfahrensakten und auf Anhörung missachtet. Am 13. Dezember 2000 erließ die Kommission Entscheidungen1, mit denen sie Geldbußen gegen zwei auf dem Markt für Natriumkarbonat tätige Gesellschaften verhängte. Natriumkarbonat ist ein Stoff, der hauptsächlich für die Glasherstellung, in der chemischen Industrie für die Herstellung von Waschmitteln und in der Metallbearbeitung verwendet wird. Gegen die belgische Gesellschaft Solvay SA wurden Geldbußen in Höhe von 20 Millionen Euro wegen Missbrauchs ihrer beherrschenden Stellung und in Höhe von 3 Millionen Euro wegen einer Preisabsprache mit einem ihrer Mitbewerber verhängt. Diese Entscheidungen waren inhaltlich im Wesentlichen deckungsgleich mit Entscheidungen der Kommission aus dem Jahr 19902, die vom Gericht – mit Bestätigung durch den Gerichtshof3 im Rechtsmittelverfahren – für nichtig erklärt wurden4, weil sie nicht ordnungsgemäß festgestellt worden waren, d. h. dass die Modalitäten für ihren endgültigen Erlass durch das Kollegium der Mitglieder der Kommission nicht eingehalten worden waren. Solvay erhob beim Gericht zwei verschiedene Klagen auf Nichtigerklärung der von der Kommission im Jahr 2000 erlassenen neuen Entscheidungen oder, hilfsweise, auf Herabsetzung der ihr auferlegten Geldbußen. Sie machte u. a. eine Verletzung des Rechts auf Akteneinsicht geltend, da sie nicht alle Unterlagen habe erhalten können, auf die die Kommission ihre Behauptung des Vorliegens einer Zuwiderhandlung gestützt habe. In der Tat räumte die Kommission ein, bestimmte Akten verlegt zu haben und kein Verzeichnis der in ihnen enthaltenen Unterlagen erstellen zu können, da auch die Inhaltsverzeichnisse der betreffenden Ordner unauffindbar seien. Außerdem brachte Solvay vor, die Kommission habe die neuen Entscheidungen erlassen, ohne ein neues Verwaltungsverfahren zu eröffnen, und damit auch, ohne sie anzuhören. Mit Urteilen vom 17. Dezember 20095 wies das Gericht die Klagen ab, soweit sie die Nichtigerklärung der streitigen Entscheidungen betrafen. Es war u. a. der Ansicht, der Umstand, dass das Unternehmen nicht alle Unterlagen der Ermittlungsakte habe einsehen können, habe es nicht daran gehindert, seine Verteidigung sicherzustellen. Zur Anhörung des Unternehmens wies das Gericht darauf hin, dass die neuen Entscheidungen der Kommission im Wesentlichen gleichlautend mit den Entscheidungen von 1990 seien und die Kommission das Unternehmen deshalb nicht habe erneut anhören müssen. Das Gericht entschied jedoch, dass die ursprünglich 20 Millionen Euro betragende Geldbuße auf 19 Millionen Euro herabzusetzen sei, da die Kommission fälschlicherweise den erschwerenden Umstand eines Wiederholungsfalls zugrunde gelegt habe. Außerdem setzte es auch die zweite Geldbuße mit dem Ursprungsbetrag von 3 Millionen Euro auf 2,25 Millionen Euro herab, weil die Kommission die Dauer der Zuwiderhandlung falsch beurteilt habe. Solvay legte gegen die Urteile des Gerichts Rechtsmittel beim Gerichtshof ein.

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Der Gerichtshof der Europäischen Union weist zunächst darauf hin, dass mit dem Recht auf Akteneinsicht verbunden ist, dass die Kommission dem betroffenen Unternehmen die Möglichkeit geben muss, alle Schriftstücke in der Ermittlungsakte zu prüfen, die möglicherweise für seine Verteidigung erheblich sind. Die Verletzung des Rechts auf Akteneinsicht im Verfahren vor dem Erlass einer Entscheidung kann grundsätzlich deren Nichtigerklärung nach sich ziehen, wenn die Verteidigungsrechte beeinträchtigt worden sind. Im vorliegenden Fall hält der Gerichtshof es nicht für ausgeschlossen, dass Solvay in den verlegten Teilakten von anderen Unternehmen stammende Anhaltspunkte hätte finden können, die es ihr erlaubt hätten, die Fakten anders zu interpretieren als die Kommission, was ihrer Verteidigung hätte dienlich sein können. Er stellt klar, dass es hier nicht um einige fehlende Unterlagen geht, deren Inhalt ausgehend von anderen Quellen hätte nachvollzogen werden können, sondern um ganze Teilakten, die wesentliche Aktenstücke des Verfahrens vor der Kommission hätten enthalten können und möglicherweise auch für die Verteidigung von Solvay erheblich gewesen wären.

Der Gerichtshof gelangt demzufolge zu dem Ergebnis, dass das Gericht einen Rechtsfehler begangen hat, als es in dem Umstand, dass Solvay nicht alle Schriftstücke der Akte einsehen konnte, keine Verletzung der Verteidigungsrechte sah.

Zur Anhörung des Unternehmens vor Erlass einer Entscheidung der Kommission weist der Gerichtshof darauf hin, dass eine solche Anhörung zu den Verteidigungsrechten gehört und deshalb anhand der besonderen Umstände jedes einzelnen Falles zu prüfen ist. Der Gerichtshof stellt klar, dass die Kommission, wenn sie – nach der Nichtigerklärung einer Entscheidung wegen eines Verfahrensfehlers, der ausschließlich die Modalitäten der endgültigen Annahme der Entscheidung durch das Kollegium der Mitglieder der Kommission betrifft – eine neue Entscheidung mit einem im Wesentlichen identischen Inhalt und aufgrund der gleichen Beschwerdepunkte erlässt, keine erneute Anhörung des betroffenen Unternehmens durchführen muss. Er ist jedoch der Ansicht, dass in den vorliegenden Rechtssachen die Frage der Anhörung von Solvay nicht von der Akteneinsicht losgelöst werden kann. Er weist insoweit darauf hin, dass die Kommission Solvay in dem Verwaltungsverfahren, das dem Erlass der ersten Entscheidungen von 1990 vorausging, nicht alle in den Kommissionsakten enthaltenen Unterlagen übermittelt hatte. Ungeachtet dessen und trotz der Bedeutung, die dem Zugang zu den Akten in der Rechtsprechung des Gerichtshofs und des Gerichts beigemessen wird, erließ die Kommission aber gleiche Entscheidungen wie die mangels ordnungsgemäßer Feststellung für nichtig erklärten Entscheidungen, ohne ein neues Verwaltungsverfahren zu eröffnen, in dessen Rahmen sie Solvay nach gewährter Akteneinsicht angehört hätte.

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Der Gerichtshof gelangt zu dem Ergebnis, dass das Gericht einen Rechtsfehler begangen hat, als es die Anhörung von Solvay für den Erlass der neuen Entscheidungen für nicht erforderlich hielt.

Er hebt daher die Urteile des Gerichts auf und entscheidet in der Sache, dass die Entscheidungen der Kommission für nichtig erklärt werden.

Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil vom 25. Oktober – C-109/10 P, Solvay SA / Kommission und C-110/10 P, Solvay SA / Kommission

  1. v. 13.12.2000, 2003/5/EG, Verfahren nach Artikel 81 EG-Vertrag, COMP/33.133 – B: Natriumkarbonat – Solvay, CFK, ABl. 2003, L 10, S. 1, und Entscheidung 2003/6/EG, Verfahren nach Artikel 82 EG-Vertrag, COMP/33.133 – C: Natriumkarbonat – Solvay, ABl. 2003, L 10, S. 10[]
  2. 91/298/EWG vom 19.12.1990, Verfahren nach Artikel 81 EG -IV/33.133 – B: Soda – Solvay und CFK, ABl. 1991, L 152, S. 16 und 91/299/EWG vom 19.12.1990, Verfahren nach Artikel 82 EG, IV/33.133 – C: Soda – Solvay, ABl. 1991, L 152, S. 21[]
  3. EuGH, Urteil vom 06.04.2000, Kommission/Solvay, C-287/95 P und C-288/95 P[]
  4. Urteile des Gerichts vom 29.06.1995, Solvay/Kommission, T-30/91, T-31/91 und T-32/91[]
  5. Urteile des Gerichts vom 17.12.2009, Solvay/Kommission, T-57/01 und T-58/01[]