Entlastung des Vorstands – und dessen Verstoß gegen die Gleichbehandlung aller Aktionäre

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs verstößt ein Beschluss der Hauptversammlung über die Entlastung des Vorstands und des Aufsichtsrats gegen § 120 Abs. 2 Satz 1 AktG und ist deshalb nach § 243 Abs. 1 AktG anfechtbar, wenn durch die Entlastung ein Verhalten gebilligt wird, das einen schwerwiegenden und eindeutigen Gesetzes- oder Satzungsverstoß darstellt1.

Entlastung des Vorstands – und dessen Verstoß gegen die Gleichbehandlung aller Aktionäre

Ein solches Verhalten kann, wovon in der Vorinstanz das Oberlandesgericht Köln im Ausgangspunkt zutreffend ausgegangen ist2, auch in einem Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot des § 53a AktG bestehen.

Die Nichtigkerklärung des Entlastungsbeschlusses kann nicht auf die Begründung gestützt werden, der Vorstand der Beklagten habe bei der Kapitalerhöhung im Herbst 2016 unter Verletzung des § 53a AktG mit der M. GmbH eine Backstop-Vereinbarung geschlossen, ohne sämtlichen Altaktionären durch das vom Oberlandesgericht Köln verlangte Angebots- bzw. Ausschreibungsverfahren dieselbe Möglichkeit einzuräumen. Ein zur Anfechtung berechtigender eindeutiger und schwerwiegender Gesetzesverstoß liegt nur vor, wenn der Vorstand sich über eine zweifelsfreie Gesetzeslage hinweggesetzt hat3.

Eine zweifelsfreie Gesetzeslage liegt dann nicht vor, wenn die Rechtslage, die der Vorstand missachtet haben soll, umstritten ist. Gleiches gilt, wenn es sich bei der betreffenden Gesetzesbestimmung um einen offenen Tatbestand handelt, dessen abstraktbegrifflicher Bedeutungsgehalt zwar geklärt sein mag, bei dessen Anwendung auf den konkreten Einzelfall sich jedoch Wertungsfragen stellen, zu deren Beantwortung verlässliche Maßstäbe in Rechtsprechung und Literatur bislang nicht herausgearbeitet worden sind. Auch in diesem Fall kann von einer zweifelsfreien Gesetzeslage, über die sich die Verwaltung hinwegsetzt und bei der sich eine gleichwohl durch die Hauptversammlung getroffene Entlastungsentscheidung als Ermessensüberschreitung darstellen würde, jedenfalls dann keine Rede sein, wenn Anforderungen nicht eingehalten werden, die weder in der Rechtsprechung oder im Schrifttum aufgestellt werden noch einer gängigen Praxis entsprechen.

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So liegt es hier. Die Frage, ob der Vorstand der Beklagten bei der Kapitalerhöhung im Jahr 2016 gegen das Gleichbehandlungsgebot verstoßen hat, war entgegen der Auffassung des Oberlandesgerichts Köln nicht eindeutig zu beantworten. Das Oberlandesgericht Köln hat angenommen, der Vorstand der Beklagten habe zum einen versäumt, vor dem Abschluss einer Backstop-Vereinbarung mit der M. GmbH das Interesse der Beklagten am Abschluss einer Backstop-Vereinbarung auch mit allen anderen Aktionären allgemein bekannt zu geben, eingehende Angebote abzuwarten, dieselben nach den angebotenen Konditionen zu bewerten und im erforderlichen Umfang anzunehmen (Ausschreibungsverfahren). Zum anderen habe der Vorstand der Beklagten vor dem Abschluss der Backstop-Vereinbarung mit der M. GmbH nicht allen Altaktionären den Abschluss einer Backstop-Vereinbarung und den damit verbundenen Erwerb nicht bezogener Aktien aus der Kapitalerhöhung zu den mit der M. GmbH vereinbarten Konditionen angeboten (gleichmäßiges Angebot einer bestimmten Backstop-Vereinbarung). Ob ein solches Verfahren im Hinblick auf § 53a AktG erforderlich und praktikabel ist, erscheint zweifelhaft, bedarf jedoch keiner Entscheidung. In der Nichtbeachtung dieses Verfahrens läge jedenfalls kein eindeutiger Gesetzesverstoß. Denn solche Anforderungen wurden bisher weder im Schrifttum noch in der oberlandesgerichtlichen Rechtsprechung vertreten. Auch eine allgemeine Praxis, wonach üblicherweise ein Ausschreibungs- und Angebotsverfahren vor Abschluss einer Backstop-Vereinbarung durchgeführt würde, ist nicht ersichtlich. In der Literatur wird zwar zu Recht darauf hingewiesen, dass die Ausgabe nicht bezogener Aktien aus einer Bezugsrechtskapitalerhöhung an einen Altaktionär als Backstop-Investor an § 53a AktG zu messen ist4. Nicht verlangt wird indes, dass der Vorstand eine solche Vereinbarung regelmäßig allen Altaktionären in der vom Oberlandesgericht Köln beschriebenen Weise anzudienen habe.

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Der gefasste Beschluss über die Ermächtigung des Vorstands zur Kapitalerhöhung durfte nicht mit der Begründung für nichtig erklärt werden, die Hauptversammlung der Beklagten habe die ihr gegenüber der Klägerin obliegende Treuepflicht verletzt, weil sie nach dem Verstoß des Vorstands gegen das Gleichbehandlungsgebot bei der Kapitalerhöhung im Jahr 2016 keine Maßnahmen gegen einen erneuten Verstoß des Vorstands beschlossen habe. Eine Verletzung der Treuepflicht lag bereits deshalb nicht vor, weil die Hauptversammlung den vom Oberlandesgericht Köln angenommenen Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot bei der Ausnutzung des genehmigten Kapitals im Jahr 2016 nicht erkennen konnte.

Der Beschluss über die Ermächtigung des Vorstands zur Kapitalerhöhung nach § 202 Abs. 2 AktG kann der Anfechtung nach § 243 Abs. 1 AktG wegen eines Verstoßes der Hauptversammlungsmehrheit gegen die gesellschaftsrechtliche Treuepflicht unterliegen5. Eine treuepflichtwidrige Stimmrechtsausübung setzt voraus, dass die Aktionäre bei der Beschlussfassung die den Vorwurf der Treuepflichtwidrigkeit begründenden Umstände kennen6. Betrachtet man die mitgliedschaftliche Treuepflicht in Richtung auf die Mitaktionäre, hat sie den Inhalt, dass auf die mitgliedschaftlichen Interessen anderer Gesellschafter angemessen Rücksicht zu nehmen ist7. Gegen das Rücksichtnahmegebot kann nur verstoßen, wer zumindest erkennen kann, dass er die Interessen der Mitgesellschafter beeinträchtigt.

Eine Begrenzung des Ermessens der Hauptversammlung dahingehend, dass sie nach einem früheren Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot bei der Ausnutzung eines genehmigten Kapitals Schutzmaßnahmen gegen einen erneuten Verstoß vorsehen muss, scheidet vorliegend bereits deshalb aus, weil der vom Oberlandesgericht Köln angenommene Verstoß gegen § 53a AktG durch den Vorstand der Beklagten für die Teilnehmer der Hauptversammlung vom 24.05.2017 nicht erkennbar war. Die vom Oberlandesgericht Köln aufgestellten Anforderungen wurden weder im Schrifttum oder in der oberlandesgerichtlichen Rechtsprechung vertreten noch bestand eine allgemeine Übung, das vom Oberlandesgericht Köln angenommene Ausschreibungs- und Angebotsverfahren vor Abschluss einer Backstop-Vereinbarung durchzuführen. War der vom Oberlandesgericht Köln angenommene Verstoß des Vorstands indes nicht erkennbar, bestand für die Hauptversammlung kein Anlass, Maßnahmen zur Vermeidung eines „neuerlichen“ Verstoßes zu treffen. Es kann daher dahinstehen, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen es die Treuepflicht überhaupt gebieten kann, dass die Hauptversammlung nach einem Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot bei der Ausnutzung eines genehmigten Kapitals bei einer neuen Ermächtigung des Vorstands Schutzmaßnahmen gegen einen Verstoß vorsehen muss.

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Bundesgerichtshof, Urteil vom 22. September 2020 – II ZR 399/18

  1. BGH, Urteil vom 25.11.2002 – II ZR 133/01, BGHZ 153, 47, 51 Macrotron; Urteil vom 18.10.2004 – II ZR 250/02, BGHZ 160, 385, 388 Thyssen-Krupp; Beschluss vom 09.11.2009 – II ZR 154/08, ZIP 2009, 2436 f.; Urteil vom 10.07.2012 – II ZR 48/11, BGHZ 194, 14 Rn. 9 Fresenius; Beschluss vom 07.02.2012 – II ZR 253/10, ZIP 2012, 515[]
  2. OLG Köln, Urteil vom 15.11.2018 – 18 U 182/17[]
  3. vgl. BGH, Beschluss vom 09.11.2009 – II ZR 154/08, ZIP 2009, 2436 f.; Urteil vom 10.07.2012 – II ZR 48/11, BGHZ 194, 14 Rn. 23 Fresenius; Beschluss vom 07.02.2012 – II ZR 253/10, ZIP 2012, 515[]
  4. Schlitt/Schäfer, CFL 2011, 410, 416; Singhof, Festschrift Uwe H. Schneider, 2011, S. 1261, 1271; KK-AktG/Ekkenga, 3. Aufl., § 186 Rn. 255; Ekkenga/Jaspers in Ekkenga, Handbuch der AG-Finanzierung, 2. Aufl., Kap 4. Rn. 271; Herfs in Habersack/Mülbert/Schlitt, Unternehmensfinanzierung am Kapitalmarkt, 4. Aufl., § 5 Rn.05.51, Rn.05.112; MünchHdbGesR IV/Scholz, 5. Aufl., § 57 Rn. 110; vgl. auch BeckOGK AktG/Servatius, Stand: 1.07.2020, § 186 Rn. 28[]
  5. vgl. BGH, Urteil vom 01.02.1988 – II ZR 75/87, BGHZ 103, 184, 193 ff. Linotype; Urteil vom 20.03.1995 – II ZR 205/94, BGHZ 129, 136, 142 ff. Girmes; Urteil vom 05.07.1999 – II ZR 126/98, BGHZ 142, 167, 169 ff.[]
  6. vgl. BGH, Urteil vom 25.11.2002 – II ZR 49/01, BGHZ 153, 32, 43 f.[]
  7. BGH, Urteil vom 01.02.1988 – II ZR 75/87, BGHZ 103, 184, 195 Linotype; Urteil vom 20.03.1995 – II ZR 205/94, BGHZ 129, 136, 143 f. Girmes; Urteil vom 05.07.1999 – II ZR 126/98, BGHZ 142, 167, 170[]
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