Eine natürliche Person, gegen die die Behörden wegen Insidergeschäften ermitteln, hat das Recht zu schweigen, wenn sich aus ihren Antworten ihre Verantwortlichkeit für eine mit Verwaltungssanktionen strafrechtlicher Natur bewehrte Zuwiderhandlung oder ihre strafrechtliche Verantwortlichkeit ergeben könnte.

Das Recht zu schweigen kann allerdings nicht jede Verweigerung der Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden rechtfertigen; dies gilt etwa für die Weigerung, zu einer Anhörung zu erscheinen, oder für eine Hinhaltetaktik.
Das entschied der Gerichtshof der Europäischen Union jetzt auf ein Vorabentscheidungsersuchen aus Italien:
Am 2. Mai 2012 verhängte die Commissione Nazionale per le Società e la Borsa (Consob) (Nationale Unternehmens- und Börsenaufsichtsbehörde) gegen DB Geldbußen in Höhe von insgesamt 300 000 € wegen einer im Jahr 2009 begangenen Ordnungswidrigkeit in Form von Insidergeschäften. Sie erlegte DB darüber hinaus eine Geldbuße in Höhe von 50 000 € wegen mangelnder Zusammenarbeit auf. Er hatte nämlich den Zeitpunkt der Anhörung, zu der er in seiner Eigenschaft als über den Sachverhalt informierte Person geladen worden war, mehrmals verschoben und sich, als er dort erschien, geweigert, die an ihn gerichteten Fragen zu beantworten.
Nachdem der von DB gegen diese Sanktionen erhobene Einspruch zurückgewiesen worden war, legte er Kassationsbeschwerde bei der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien) ein. Am 16. Februar 2018 richtete dieses Gericht an die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof, Italien) eine inzidente Frage zur Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift des italienischen Rechts (Art. 187quindecies des Decreto legislativo n. 58 – Testo unico delle disposizioni in materia di intermediazione finanziaria, ai sensi degli articoli 8 e 21 della legge 6 febbraio 1996, n. 521, auf deren Grundlage die Geldbuße wegen mangelnder Zusammenarbeit verhängt wurde. Nach dieser Vorschrift wird die Weigerung, fristgemäß den Anfragen der Consob zu entsprechen, bzw. die Verzögerung der Ausübung ihrer Aufsichtsfunktionen mit Sanktionen geahndet, und zwar auch in Bezug auf die Person, der die Consob ein Insidergeschäft zur Last legt.
Die Corte costituzionale hat hervorgehoben, dass nach italienischem Recht die Insidergeschäfte sowohl eine Ordnungswidrigkeit als auch eine Straftat darstellten. Sie hat hinzugefügt, die betreffende Vorschrift sei in Durchführung einer spezifischen Verpflichtung aus Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2003 über Insider-Geschäfte und Marktmanipulation (Marktmissbrauch)2 erlassen worden, der bestimmt, dass die Mitgliedstaaten im Einzelnen festzulegen haben, wie die Verweigerung der Zusammenarbeit im Rahmen von Ermittlungen im Sinne von Art. 12 der Richtlinie zu ahnden ist. Nach Art. 12 muss die zuständige Behörde in diesem Rahmen in der Lage sein, von jedermann Auskünfte anzufordern und, falls notwendig, eine Person vorzuladen und zu vernehmen. Nunmehr wird mit der italinischen Vorschrift Art. 30 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung (EU) Nr. 596/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April 2014 über Marktmissbrauch (Marktmissbrauchsverordnung)3 umgesetzt. Diese Bestimmung schreibt vor, dass für den Fall der Verweigerung der Zusammenarbeit mit einer Ermittlung oder einer Prüfung oder einer in Art. 23 Abs. 2 genannten Anfrage Verwaltungssanktionen festzulegen sind. Nach Art. 23 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung gehört dazu die Befragung einer Person, um Informationen zu erhalten.
Die Corte costituzionale hat den Gerichtshof der Europäischen Union deshalb nach der Vereinbarkeit dieser Rechtsakte mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und insbesondere mit dem Recht zu schweigen befragt.
Im Wege eines solchen Vorabentscheidungsersuchens können die Gerichte der Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof der Europäischen Union Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts oder nach der Gültigkeit einer Handlung der Europäischen Union vorlegen. Der Unionsgerichtshof entscheidet dabei nur über die vorgelegte Rechtsfrage, nicht dagegen über den nationalen Rechtsstreit. Es ist und bleibt vielmehr Sache des nationalen Gerichts, über die Rechtssache im Einklang mit der Entscheidung des Unionsgerichtshofs zu entscheiden. Diese Entscheidung des Unionsgerichtshofs bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden.
Die Große Kammer des Gerichtshofs der Europäischen Union stellte nunmehr fest, dass eine natürliche Person ein durch Art. 47 Abs. 2 und Art. 48 der Grundrechte-Charta geschütztes Recht zu schweigen hat. Der Unionsgerichtshof entschied desweiteren, dass die Richtlinie 2003/6 und die Verordnung Nr. 596/2014 es den Mitgliedstaaten gestatten, dieses Recht im Rahmen von Ermittlungen gegen eine solche Person zu beachten, aus denen sich die Verantwortlichkeit dieser Person für eine mit Verwaltungssanktionen strafrechtlicher Natur bewehrte Zuwiderhandlung oder ihre strafrechtliche Verantwortlichkeit ergeben kann.
Im Licht der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zum Recht auf ein faires Verfahren, wie es in Art. 6 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten verankert ist, hebt der Unionsgerichtshof hervor, dass das Recht zu schweigen, das zum Kern des Begriffs des fairen Verfahrens gehört, u. a. der Verhängung einer Sanktion gegen eine „angeklagte“ natürliche Person wegen deren Weigerung entgegensteht, der zuständigen Behörde gemäß der Richtlinie 2003/6 oder der Verordnung Nr. 596/2014 Antworten zu geben, aus denen sich ihre Verantwortlichkeit für eine mit Verwaltungssanktionen strafrechtlicher Natur bewehrte Zuwiderhandlung oder ihre strafrechtliche Verantwortlichkeit ergeben könnte. Die Rechtsprechung zur Pflicht von Unternehmen, im Rahmen von Verfahren, die zur Verhängung von Sanktionen wegen wettbewerbswidrigen Verhaltens führen können, Informationen zu liefern, die später zum Nachweis ihrer Haftung für ein solches Verhalten herangezogen werden könnten, kann nicht entsprechend angewandt werden, um die Tragweite des Rechts zu schweigen einer natürlichen Person zu bestimmen, der Insidergeschäfte zur Last gelegt werden. Das Recht zu schweigen kann allerdings nicht jede Verweigerung der Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden durch den Betroffenen rechtfertigen; dies gilt etwa für die Weigerung, zu einer von ihnen anberaumten Anhörung zu erscheinen, oder für eine Hinhaltetaktik, um die Durchführung der Anhörung zu verzögern.
Sowohl die Richtlinie 2003/6 als auch die Verordnung Nr. 596/2014 ist einer mit dem Recht zu schweigen vereinbaren Auslegung zugänglich, wonach sie nicht verlangen, dass einer natürlichen Person wegen ihrer Weigerung, der zuständigen Behörde Antworten zu geben, aus denen sich ihre Verantwortlichkeit für eine mit Verwaltungssanktionen strafrechtlicher Natur bewehrte Zuwiderhandlung oder ihre strafrechtliche Verantwortlichkeit ergeben könnte, Sanktionen auferlegt werden. Unter diesen Umständen kann es die Gültigkeit dieser Rechtsakte nicht berühren, dass sie die Verhängung einer Sanktion wegen einer derartigen Weigerung nicht ausdrücklich ausschließen.
Es obliegt den EU-Mitgliedstaaten, dafür zu sorgen, dass gegen eine natürliche Person wegen ihrer Weigerung, der zuständigen Behörde solche Antworten zu geben, keine Sanktionen verhängt werden können.
Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil vom 2. Februar 2021 – C ‑481/19