Keine generelle Höchstaltersgrenze für öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige

Eine Industrie- und Handelskammer darf in ihrer Satzung keine generelle Höchstaltersgrenze für alle öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen festsetzen.

Keine generelle Höchstaltersgrenze für öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige

In einem jetzt vom Bundesverwaltungsgericht entschiedenen Rechtsstreit war der heute 75 Jahre alte Kläger von der beklagten IHK bis zum Erreichen der in ihrer Sachverständigenordnung vorgesehenen Höchstaltersgrenze von 68 Jahren zum öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen für die Sachgebiete „EDV im Rechnungswesen und Datenschutz“ sowie „EDV in der Hotellerie“ bestellt worden. Diese Bestellung war nach der SVO einmal bis zur Vollendung des 71. Lebensjahres verlängert worden. Seinen Antrag auf weitere Verlängerung der Bestellung um fünf, hilfsweise um vier Jahre lehnte die beklagte Industrie- und Handelskammer mit der Begründung ab, eine Bestellung erlösche nach ihrer Sachverständigenordnung, wenn der Sachverständige das 68. Lebensjahr vollendet habe; sie könne nur einmal verlängert werden, längstens bis zur Vollendung des 71. Lebensjahres.

Der Kläger macht – unter anderem unter Berufung auf die Richtlinie 2000/78/EG des Europäischen Rates vom 27. November 20001 und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz vom 14. August 20062 geltend, die ihm entgegengehaltene Höchstaltersgrenze verstoße gegen das Verbot der Altersdiskriminierung.

Die Klage blieb zunächst sowohl vor dem Verwaltungsgericht München3 wie auch in der Berufungsinstanz vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof4 und zunächst auch beim Bundesverwaltungsgericht5 ohne Erfolg. Nach (damaliger) Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts sei die vorliegende unmittelbare Ungleichbehandlung wegen des Alters gemäß § 10 Satz 1 und 2 AGG gerechtfertigt. Denn der Gesetzgeber habe für die Gewährleistung eines geordneten Rechtsverkehrs durch die Institution öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger die jederzeit verlässliche Leistungsfähigkeit der Sachverständigen sicherstellen und zu diesem Zweck die Möglichkeit eröffnen wollen, durch die Festlegung einer Höchstaltersgrenze potenziell nicht mehr so leistungsfähige Sachverständige auszuschließen.

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Dieses Revisionsurteil des Bundesverwaltungsgerichts ist zwischenzeitlich durch das Bundesverfassungsgericht aufgehoben worden6 aufgehoben worden. Die Aufhebung und Zurückverweisung an das Bundesverwaltungsgericht ist vom Bundesverfassungsgericht wie folgt begründet worden: Die Begründung des Bundesverwaltungsgerichts dafür, dass keine Pflicht zu einer Vorlage an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg bestehe, sei nicht tragfähig, so dass der Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 101 Abs. 1 S 2 GG (Anspruch auf gesetzlichen Richter) verletzt sei. Die – nach der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts ergangene – Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache „Prigge“7 bestätige nachdrücklich, dass die Annahme des Bundesverwaltungsgerichts zur Auslegung von Art. 6 Abs. 1 EGRL 78/2000 keine Stütze in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs finde. Mit diesem Urteil habe der Europäischen Gerichtshof auf eine Vorlage des Bundesarbeitsgerichts inzwischen ausdrücklich klargestellt, dass legitime Ziele im Sinne von Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG, die eine Ungleichbehandlung wegen Alters rechtfertigen könnten, nur solche sozialpolitischer Art sein können.

Nach Aufhebung seiner ersten Entscheidung durch das Bundesverfassungsgericht hat das Bundesverwaltungsgericht nunmehr dem Begehren des Klägers entsprochen:

Die generelle Altersgrenze stellt eine nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz unzulässige Benachteiligung wegen des Alters dar und ist deshalb unwirksam. Das mit der Satzungsregelung verfolgte Ziel, einen geordneten Rechtsverkehr sicherzustellen, ist kein legitimes Ziel nach § 10 AGG, das eine unterschiedliche Behandlung wegen des Alters rechtfertigen könnte. Dazu zählen nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nur sozialpolitische Ziele insbesondere aus den Bereichen Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt und berufliche Bildung. Das Lebensalter steht auch nicht im Sinne von § 8 Abs. 1 AGG in innerem Zusammenhang mit einer besonderen Anforderung an die Art der beruflichen Betätigung; denn die Tätigkeit als Sachverständiger in den Sachgebieten, für die der Kläger seine Bestellung begehrt, stellt keine besonderen Anforderungen, die – bei entsprechender Vorbildung und Erfahrung – nur Jüngere erfüllen könnten. Schließlich wird die Altersgrenze auch nicht durch den in Art. 2 Abs. 5 der europäischen Gleichbehandlungsrichtlinie 2000/78/EG enthaltenen Sicherheitsvorbehalt legitimiert. Die Festlegung der Altersgrenze in der Sachverständigenordnung dient jedenfalls in den Sachgebieten, für die der Kläger seine Bestellung begehrt, insbesondere nicht den Erfordernissen der öffentlichen Sicherheit, der Verhütung von Straftaten oder dem Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.

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Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 1. Februar 2012 – 8 C 24.11

  1. ABl.EU L 303 S.16[]
  2. BGBl. I S. 1997[]
  3. VG München, Urteil vom 11.03.2008 – M 16 K 07.2565[]
  4. BayVGH, Urteil vom 22.01.2009 -22 BV 08.1413[]
  5. BVerwG, Ureil vom 26.01.2011 – 8 C 46.09[]
  6. BVerfG, Beschluss vom 24.10.2011 – 1 BvR 1103/11[]
  7. vgl. EuGH, Urteil vom 13.09.2011 – C-447/09 [Prigge], NJW 2011, 3209[]