Preisregulierung bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln – und die holländische Versandapotheke

Vor dem Bundesverfassungsgericht blieb jetzt die Verfassungsbeschwerde einer niederländischen Internetapotheke gegen die Preisregulierung bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln gemäß § 78 Abs. 1 Satz 4 Arzneimittelgesetz ohne Erfolg.

Preisregulierung bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln – und die holländische Versandapotheke

Die niederländische Apotheke liefert die Arzneimittel hauptsächlich auf Bestellung über Fernkommunikationsmittel (Post, Telefon, Internet) per Kurierdienst an Kunden. Bei der Abgabe verschreibungspflichtiger Arzneimittel gewährt sie deutschen Kunden sogenannte Boni. Die Beschwerdeführerin macht sich insoweit zunutze, dass sie in den Niederlanden nur Höchstpreise zu beachten hat, wohingegen sich der Abgabepreis bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln in Deutschland nach der Arzneimittelpreisverordnung richtet.

Ermächtigungsgrundlage der Arzneimittelpreisverordnung ist § 78 Abs. 1 AMG. Dieser wurde mit Wirkung vom 26.10.2012 durch Art. 1 Nr. 62 des Zweiten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften vom 19.10.20121 um einen weiteren, vierten Satz ergänzt, der bestimmt, dass die auf der Grundlage von Satz 1 erlassene Arzneimittelpreisverordnung auch für Arzneimittel gilt, die gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 Nummer 1a in den Geltungsbereich dieses Gesetzes verbracht werden. § 73 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1a AMG betrifft den Versand eines Arzneimittels an den Endverbraucher von einer Apotheke in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder einem anderen Verkehrsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum.

Hiergegen richtete sich die Verfassungsbeschwerde, die nun vom Bundesverfassungsgericht nicht zur Entscheidung angenommen wurde.

Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts war die Verfassungsbeschwerde unzulässig, da die Internet-Apotheke die von ihr behauptete Verletzung ihrer Rechte nicht substantiiert dargelegt habe (§ 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG, § 92 BVerfGG):

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Eine substantiierte Begründung erfordert, dass der Beschwerdeführer die Möglichkeit einer Verletzung seiner Grundrechte oder grundrechtsähnlichen Rechte hinreichend deutlich aufzeigt2. Rügt er eine Grundrechtsverletzung in einer Fallgestaltung, zu der einschlägige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vorliegt, muss er sich mit dieser auseinandersetzen, um in seinem Fall die Möglichkeit eines Grundrechtsverstoßes ausreichend darzutun3.

In der Beschwerdeschrift findet eine nähere Auseinandersetzung mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine Einschränkung der Grundrechte nicht statt. Zwar können die Grundrechte nur durch solche Normen eingeschränkt werden, die formell und materiell verfassungsgemäß sind4. Insofern sind auch die Regelungen der Art. 70 ff. und Art. 76 ff. GG zu beachten. Die von der Beschwerdeführerin behauptete Verletzung einer Notifizierungspflicht gegenüber der Europäischen Kommission gründet sich dagegen nicht auf Verfassungsrecht, insbesondere nicht auf die Art. 70 ff. beziehungsweise Art. 76 ff. GG und hätte – da dem Unionsrecht kein Geltungsvorrang vor nationalem Recht zukommt – nicht die Nichtigkeit des § 78 Abs. 1 Satz 4 AMG zur Folge. Selbst wenn man einen derartigen Verstoß unterstellt, bliebe die Norm ein den Grundrechtsvorbehalt ausfüllendes Gesetz5.

Auch auf die Vereinbarkeit der Arzneimittelpreisregulierung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und die hierzu bestehende reichhaltige Rechtsprechung6 geht die Verfassungsbeschwerde nicht ein. Dagegen würde der thematisierte Verstoß gegen die Warenverkehrsfreiheit nach Art. 34 AEUV, für sich genommen, nicht zu einem Verstoß gegen materielles Verfassungsrecht führen.

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Vor diesem Hintergrund kann offen bleiben, ob die Verfassungsbeschwerde auch unbegründet ist. Allerdings spricht manches dafür, dass gegen das Zweite Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften hinsichtlich der Änderung des § 78 Abs. 1 Satz 4 AMG keine verfassungsrechtlichen Bedenken bestehen und dass die mit ihm verbundene Beschränkung von Art. 12 Abs. 1 beziehungsweise Art. 2 Abs. 1 GG weder formell noch materiell zu beanstanden ist.

Grundrechtlich geschützte Interessen können nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Regelfall nur durch Normen eingeschränkt werden, die ihrerseits formell und materiell mit der Verfassung übereinstimmen7. Insoweit kann, wer durch eine Norm in seinen Grundrechten beeinträchtigt wird, auch rügen, dass die Bestimmungen des Grundgesetzes über die Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeiten und das Verfahren nicht eingehalten worden sind8. Ebenfalls kann gerügt werden, dass eine Norm nicht mit den obersten Grundwerten der freiheitlich demokratischen Grundordnung in Einklang stehe oder den ungeschriebenen elementaren Verfassungsgrundsätzen und Grundentscheidungen des Grundgesetzes widerspreche9.

Dagegen ergeben sich aus dem Unionsrecht keine formellen oder materiellen Anforderungen an nationale Gesetze, deren Verletzung ihre Gültigkeit in Frage stellen könnte. Eine Verletzung von Unionsrecht kann daher grundsätzlich auch nicht mit der Verfassungsbeschwerde gerügt werden. Da dem Unionsrecht nur ein Anwendungs, kein Geltungsvorrang vor nationalem Recht zukommt, zieht ein Verstoß gegen Unionsrecht nach deutschem Recht weder ohne weiteres einen Verstoß gegen das Grundgesetz nach sich noch führt er zur Nichtigkeit der nationalen Regelung. Genügt sie den innerstaatlichen Rechtsvorschriften, bleibt sie ein grundrechtliche Schutzbereiche wirksam beschränkendes Gesetz auch dann, wenn sie gegen Unionsrecht verstößt5.

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Etwas anderes folgt auch nicht aus dem Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit, der dem Verfassungsauftrag zur Verwirklichung eines vereinten Europas entspringt10. Zwar verpflichtet der Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes11 deutsche Stellen auch verfassungsrechtlich zur Einhaltung des Unionsrechts12. Sie müssen Verstöße gegen das Unionsrecht daher vermeiden, soweit dies im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung und Anwendung des nationalen Rechts möglich ist13.

Dies führt jedoch nicht dazu, dass das Unionsrecht selbst zum verfassungsrechtlichen Maßstab würde. Seine Geltung und Anwendung in Deutschland beruhen – in Übereinstimmung mit Art. 23 Abs. 1 GG – vielmehr auf dem mit dem Zustimmungsgesetz zu den Verträgen erteilten Rechtsanwendungsbefehl, dem selbst keine Verfassungsqualität zukommt (Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Satz 3 GG; vgl. BVerfGE 22, 293, 296; 31, 145, 173 f.; 37, 271, 277 f., 301; 75, 223, 244; 89, 155, 190; 123, 267, 398, 400, 402; 129, 78, 99). Dies kann nicht unter Rückgriff auf den Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit überspielt werden14.

Nach diesen Maßstäben dürfte § 78 Abs. 1 Satz 4 AMG den Anforderungen der Verfassung an grundrechtsbeschränkende Gesetze genügen.

Das Zweite Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften vom 19.10.2012 ist kompetenzgemäß und verfahrensgerecht erlassen worden. Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes ergibt sich aus Art. 74 Nr.19 GG. Die Verfahrensvorschriften der Art. 76 bis Art. 78 GG sind eingehalten. Der Bundestag hat das Gesetz beschlossen, der Bundesrat ihm gemäß Art. 78 GG zugestimmt. Die von der Beschwerdeführerin behauptete Verletzung einer Notifizierungspflicht gründet sich auf Unionsrecht und hat für die formelle Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes keine Bedeutung.

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An der materiellen Vereinbarkeit des § 78 Abs. 1 Satz 4 AMG mit dem Grundgesetz dürften ebenfalls keine Zweifel bestehen. Das Bundesverfassungsgericht hat in der Preisregulierung durch die seit dem 1.01.1978 geltende Arzneimittelpreisverordnung keinen Verfassungsverstoß gesehen15. Auch hat es festgestellt, dass eine geordnete Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln die vorrangige Aufgabe des Apothekers ist, hinter der das Streben nach Gewinn zurückzutreten hat16. Warum sich für die mit § 78 Abs. 1 Satz 4 AMG bewirkte ausdrückliche Erstreckung der Arzneimittelpreisverordnung auf Arzneimittel, die erst in den Geltungsbereich des Grundgesetzes verbracht werden, insoweit eine andere verfassungsrechtliche Bewertung ergeben sollte, ist nicht ersichtlich. Ob dies auch für die unionsrechtliche Bewertung unter dem Blickwinkel von Art. 34 AEUV gilt, ist für das vorliegende Verfahren hingegen ohne Belang.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 4. November 2015 – 2 BvR 282/13

  1. BGBl I S. 2192[]
  2. vgl. BVerfGE 6, 132, 134; 89, 155, 171; 108, 370, 386 f.[]
  3. vgl. BVerfGE 101, 331, 346; 130, 76, 110[]
  4. vgl. nur BVerfGE 6, 32, 37 ff.; 96, 10, 21; 121, 317, 369; 130, 131, 142[]
  5. vgl. BVerfGE 31, 145, 174 f.; 82, 159, 191; 110, 141, 154 f.; 115, 276, 299 f.; stRspr[][]
  6. vgl. nur BVerfGE 17, 232, 238 ff.; 53, 96, 98; BVerfG, Beschluss vom 20.12 1990 – 1 BvR 1418/90, 1 BvR 1442/90, juris; Beschluss vom 19.09.2002 – 1 BvR 1385/01[]
  7. vgl. BVerfGE 6, 32, 37 ff.; 96, 10, 21; 121, 317, 369; 130, 131, 142; stRspr[]
  8. vgl. BVerfGE 6, 32, 41; 72, 175, 187 ff.; 95, 193, 214; stRspr[]
  9. vgl. BVerfGE 6, 32, 41; 54, 143, 144; stRspr[]
  10. vgl. BVerfGE 123, 267, 346 f. unter Verweis auf die Präambel und Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG[]
  11. vgl. BVerfGE 123, 267, 354; 126, 286, 303; 129, 124, 172[]
  12. vgl. BVerfGE 129, 124, 172[]
  13. vgl. BVerfGE 127, 293, 334[]
  14. vgl. Kaiser/Schübel-Pfister, Der ungeschriebene Verfassungsgrundsatz der Europarechtsfreundlichkeit, in: Emmenegger/Wiedmann, Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 2011, S. 545, 566[]
  15. vgl. BVerfG, Beschluss vom 20.12 1990 – 1 BvR 1418/90, 1 BvR 1442/90 10 ff.; Beschluss vom 19.09.2002 – 1 BvR 1385/01 23 f.; hierzu Rehmann, AMG, 4. Aufl.2014, § 78 Rn. 3; Hofmann, in: Klügel/Müller/Hofmann, AMG, 1. Aufl.2012, § 78 Rn. 28; Dettling, APR 2008, S. 10, 13[]
  16. vgl. BVerfGE 17, 232, 238 ff.; 53, 96, 98[]
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