Streitwertbemessung in Vergabeverfahren – und die durchlaufenden Posten

Grundlage für die Streitwertbemessung ist die Bruttoangebotssumme einschließlich sogenannter „durchlaufender Posten“.

Streitwertbemessung in Vergabeverfahren – und die durchlaufenden Posten

Dies entschied jetzt der Bundesgerichtshof auf eine Divergenzvorlage des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts1, die die Streitwertfestsetzung in einem Nachprüfungsbeschwerdeverfahren gemäß §§ 171 ff. GWB betrifft. Dem Verfahren liegt eine Auftragsbekanntmachung zur Vergabe von Verkehrsleistungen im Schienenpersonennahverkehr bestehend aus den Losen Ost, Nord und Ost-West des Akku-Netzes Schleswig-Holstein zugrunde. Die Leistungen im Los Ost sind ab Dezember 2022 und die Leistungen in den Losen Nord und Ost-West ab Dezember 2023 zu erbringen. Die Vertragslaufzeit endet für alle Lose am 8.12.2035, wobei der Auftraggeber jeweils die Vertragsdauer einseitig um bis zu zwei weitere Fahrplanjahre verlängern kann. Die Antragstellerin gab Angebote für alle Lose ab, die nach dem Vergabevermerk indes sämtlich nicht zu berücksichtigen waren. Die Anträge der Antragstellerin auf Nachprüfung hat die Vergabekammer zurückgewiesen. Dagegen hat die Antragstellerin sofortige Beschwerde eingelegt (§ 171 GWB). Mit Beschluss vom 05.07.2021 hat das OLG Schleswig die aufschiebende Wirkung der sofortigen Beschwerde hinsichtlich des Loses Nord verlängert (§ 173 Abs. 1 Satz 3 GWB). Daraufhin hat die Antragstellerin die sofortige Beschwerde hinsichtlich der Lose Ost und Ost-West zurückgenommen. Das OLG Schleswig hat die Entscheidung der Vergabekammer insoweit aufgehoben, als der Nachprüfungsantrag betreffend Los Nord zurückgewiesen worden ist und die Antragsgegner verpflichtet, das Vergabeverfahren insoweit fortzusetzen.

Mit Beschluss vom 18.11.2021 hat das OLG Schleswig die Sache wegen der Streitwertfestsetzung für das Beschwerdeverfahren nach § 179 Abs. 2 GWB dem Bundesgerichtshof vorgelegt. Nach Ansicht der Antragstellerin bemisst sich das wirtschaftliche Interesse des Eisenbahnverkehrsunternehmens nach der Gesamtvergütung, mithin den Fahrgeldeinnahmen und Zuschüssen des Auftraggebers wegen der auftretenden Defizite, jedoch ohne „durchlaufende Positionen“ wie Infrastrukturentgelte, Fahrzeugmiete und Instandhaltungsentgelte. In Übereinstimmung mit den Antragsgegnern möchte der vorlegende Vergabesenat diese Positionen bei der Streitwertbemessung dagegen einbeziehen. Daran sieht er sich durch die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte Düsseldorf2, München3 und Rostock4 gehindert.

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Die Vorlage ist nach den dafür geltenden Maßgaben5 zulässig. In der Sache trifft die Auffassung des vorlegenden Vergabesenats zu.01. Gemäß § 50 Abs. 2 GKG beträgt der Streitwert im Verfahren über die Beschwerde gegen die Entscheidung der Vergabekammer (§ 171 GWB) einschließlich des Verfahrens über einen Antrag nach § 173 Abs. 1 Satz 3 GWB 5 Prozent der Bruttoauftragssumme. Bruttoauftragssumme in diesem Sinn ist die Bruttoangebotssumme des Antragstellers6. Zutreffend geht das OLG Schleswig auf dieser Grundlage davon aus, dass das wirtschaftliche Interesse des Antragstellers an dem Auftrag sich bei der Vergabe von Dienstleistungen im Schienenverkehr im Ausgangspunkt nach der über die Laufzeit des Vertrags erhaltenen Gegenleistung, mithin den Fahrgeldeinnahmen und den vom Auftraggeber zur Defizitvermeidung gezahlten Zuschüssen auf der Grundlage des Angebots bemisst7.02. Bei einem Vertrag über die Erbringung von Verkehrsleistungen im Schienenpersonennahverkehr sind der Streitwertbemessung alle Positionen zugrunde zu legen, die in der Angebotssumme enthalten sind. Die in der Literatur und der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte streitige Frage, ob sogenannte „durchlaufende Posten“ dabei auszunehmen sind, ist zu verneinen.

Nach einer Ansicht sind „reine Durchlaufposten“ wie etwa die Infrastrukturkosten (Trassenentgelte und Stationsentgelte) nicht zu berücksichtigen, weil sie keine Gegenleistung für die Durchführung des Schienenverkehrs darstellten. Die Infrastrukturentgelte müsse der Auftragnehmer an die Netzbetreiber abführen, er bekomme diese aber vom Auftraggeber erstattet. Die Erstattungsbeiträge seien damit kostenneutrale durchlaufende Posten, die sich in der Kalkulation des Bieters nicht auswirkten. Sie seien eine Gegenleistung des Auftraggebers für die Nutzung der Infrastruktur. Der Bieter reiche die Entgelte sozusagen nur im Auftrag des Auftraggebers an die Dritten weiter. Insofern unterschieden sich die Infrastrukturentgelte auch von anderen durchlaufenden Posten wie etwa der Umsatzsteuer8.

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Nach Ansicht des vorlegenden Vergabesenats des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts ist dagegen die Bruttoangebotssumme Grundlage für die Streitwertbemessung, ohne dass durchlaufende Posten herausgerechnet werden dürften9.

Nach dem Wortlaut, Sinn und Zweck und der Gesetzeshistorie von § 50 Abs. 2 GKG trifft letzteres zu.

§ 50 Abs. 2 GKG stellt nach dem klaren Wortlaut auf die Bruttoauftragssumme ab. Das beinhaltet alle Angebotspositionen einschließlich der Umsatzsteuer. Der Gesetzgeber hat das anlässlich der Neufassung der Vorschrift durch das Kostenrechtsmodernisierungsgesetz ausdrücklich klargestellt10. Die Begründung dafür ist, dass der Bieter die Mehrwertsteuer in sein Angebot aufnehmen muss, damit sie Vertragsinhalt wird und er durch die Einnahme des entsprechenden Betrags seiner Pflicht zur Zahlung der entstehenden Umsatzsteuer nachkommen kann. Daher entspricht das wirtschaftliche Interesse des Bieters der Bruttoangebotssumme11. Gleiches gilt für die Abgeltung nach Nr. 7.1 des Verkehrsvertrags. Die als Gegenleistung für die Erbringung der Dienstleistungen nach dem Verkehrsvertrag zu zahlende und unter anderem die Fahrzeugkosten und die Infrastrukturentgelte berücksichtigende Abgeltung wird Vertragsinhalt, damit das Eisenbahnverkehrsunternehmen durch die Einnahme der entsprechenden Beträge seinen gegenüber dem Eisenbahninfrastrukturunternehmen und dem Fahrzeugvorhalter bestehenden Verpflichtungen aus den Verträgen über die Fahrzeugmiete und die Infrastrukturnutzung (Nr. 7.01.1. iVm Nr. 4.01.1. und Nr. 7.4 des Verkehrsvertrags) nachkommen kann. Das wirtschaftliche Interesse des Bieters erstreckt sich daher auch auf diese Beträge.

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Eine Auslegung von § 50 Abs. 2 GKG dahin, dass der Streitwertbemessung stets die Bruttoangebotssumme zugrunde zu legen ist, entspricht auch dem Sinn und Zweck der Regelung. Sie dient der Vereinfachung und Pauschalierung, weil die Gewinnerwartung des Antragstellers nur schwer zu ermitteln ist12. Die Nichtberücksichtigung von bestimmten Angebotspositionen mit der Begründung, dass sie Kosten decken sollen, die dem Eisenbahnverkehrsunternehmen zur Erbringung seiner Leistungen entstehen, widerspricht dem Sinn und Zweck der Regelung, weil der überwiegende Teil eines für die Erbringung von Dienstleistungen zu zahlenden Entgelts regelmäßig der Kostendeckung dient. Aus diesem Grund ist nach § 50 Abs. 2 GKG (gerade) von einer pauschalierten Gewinnerwartung von 5 Prozent der Bruttoauftragssumme auszugehen. Nichts Anderes gilt für die im Verkehrsvertrag als „durchlaufend“ bezeichneten und bei der Abgeltung berücksichtigten Fahrzeug- und Infrastrukturkosten. Auch ihre Nichtberücksichtigung bei der Streitwertbemessung widerspricht dem gesetzgeberischen Ziel der Vereinfachung.

Der Begriff des „durchlaufenden Postens“ kann verschiedene Bedeutungen haben. Allgemein wird er verwendet, wenn Mittel nicht endgültig in einem Vermögen verbleiben sollen, sondern zur Deckung von anderweitigen Kosten oder Forderungen bestimmt sind13, oder umgekehrt, Kosten wirtschaftlich nicht bei einer Person verbleiben, sondern eine anderweitige Erstattung oder Kostenabwälzung erfolgt14.

Danach erfordert bereits die Frage, welche Angebotspositionen Kosten enthalten, die in diesem Sinne als „durchlaufend“ angesehen werden können, eine aufwendige Prüfung und Beurteilung des umfangreichen Vertragswerks. Beispielhaft sei hier nur darauf hingewiesen, dass das Eisenbahnverkehrsunternehmen nach Nr. 7.07.1 des Verkehrsvertrags im Grundsatz die sich aus der Bereitstellung und Nutzung der Eisenbahninfrastruktur ergebenden Risiken zu tragen hat, gemäß Nr. 7.04.1 Absatz 4 etwaige Minderungen vereinnahmt und es gemäß Nr. 7.04.1 Absatz 5 zur Vereinbarung von Anreizsystemen kommen kann, die nicht durchlaufende Bonus- und Maluszahlungen zur Folge haben können. So werden die Infrastrukturkosten in Nr. 7.04.4 des Verkehrsvertrags denn auch als „weitgehend durchlaufend“ charakterisiert. Die Ausnahme der „durchlaufenden Fahrzeug- und Infrastrukturkosten“ von der Streitwertbemessung würde daher – wie die vorliegende Fallkonstellation anschaulich zeigt – zu einem erheblichen Aufwand und zu Abgrenzungsschwierigkeiten führen, die der Gesetzgeber durch die vereinfachende und pauschalierende Regelung des § 50 Abs. 2 GKG gerade verhindern wollte.

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Das gilt auch, soweit gemäß § 50 Abs. 2 GKG zur Vereinfachung die dem Angebot zugrundeliegende Gewinnerwartung nicht zu ermitteln ist, sondern pauschal mit 5 Prozent der Bruttoangebotssumme angesetzt wird. Grund und Rechtfertigung für eine Ausnahme könnte nämlich nur die Kalkulations- und Erfolgsneutralität der durchlaufenden Posten sein, weil das ein geringeres wirtschaftliches Interesse des Bieters belegen würde. Die Ermittlung einer solchen Erfolgsneutralität stößt aber – wie der vorliegende Fall zeigt – auf Schwierigkeiten, die dem gesetzgeberischen Ziel der Vereinfachung entgegenstehen. So könnte zwar der Umstand, dass nach Nr. 7.01.1 in Verbindung mit Nr. 8.03.6 des Verkehrsvertrags die vereinbarte Vertragsstrafe auf der Grundlage des in Nr. 7.01.1 definierten Ausgleichsbetrags ohne Berücksichtigung der Infrastrukturkosten zu bemessen ist, für eine Erfolgsneutralität der Infrastrukturkosten sprechen. Dem steht aber entgegen, dass das Eisenbahnverkehrsunternehmen das Risiko für die vertragsgemäße Durchführung des in Nr. 2 des Verkehrsvertrags beschriebenen Betriebsprogramms mit der in Nr. 3 genannten Qualität unter Verwendung der in Nr. 4 geregelten Fahrzeuge trägt. Dass die im Verkehrsvertrag als durchlaufend bezeichneten erheblichen Kosten erfolgsneutral sind, kann vor diesem Hintergrund nicht angenommen werden15. Es verbleibt insoweit jedenfalls eine erhebliche Unsicherheit, der durch die pauschalierende Regelung des § 50 Abs. 2 GKG nach ihrem Sinn und Zweck Rechnung getragen werden soll.

Nach dem Ausgeführten sind schließlich keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass das Kostenrisiko aufgrund der Berücksichtigung der Infrastrukturentgelte zu dem mit dem Verfahren angestrebten wirtschaftlichen Erfolg derart außer Verhältnis steht, dass die Anrufung der Gerichte nicht mehr sinnvoll erscheinen könnte16.

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Der Bundesgerichtshof hat den Streitwert gemäß § 179 Abs. 2 Satz 2 GWB, § 50 Abs. 2, § 39 Abs. 2 GKG und KV 1220 ff. auf 30 Mio. € festgesetzt. Auch unter Berücksichtigung der Loslimitierung und des im Hinblick auf die Ungewissheit der Vertragsverlängerung vorzunehmenden Abschlags17 ergibt sich bei der Berechnung von 5 Prozent der nach den obigen Ausführungen zu bestimmenden Bruttoangebotssumme, die jedenfalls 600 Mio. € übersteigt, ein Wert, der deutlich über dem Höchstwert gemäß § 39 Abs. 2 GKG liegt.

Bundesgerichtshof, Beschluss vom 29. November 2022 – XIII ZB 64/21

  1. Schleswig-Holsteinisches OLG, Beschluss vom 18.11.2021 – 54 Verg 5/21[]
  2. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 27.09.2006 – VII-Verg 36/06[]
  3. OLG München, Beschluss vom 12.08.2008 – Verg 6/08[]
  4. OLG Rostock, VergabeR 2014, 209, 227[]
  5. BGH, Beschluss vom 18.03.2014 – X ZB 12/13, NZBau 2014, 452 Rn. 3 f. – Bioabfallvergärungsanlage[]
  6. vgl. BGH, NZBau 2014, 452 Rn. 7 – Bioabfallvergärungsanlage; Hertwig in Hertwig, Praxis des Vergaberechts, 7. Aufl., Teil 3 Rn. 436; Zinger, NZBau 2020, 695[]
  7. vgl. BGH, Beschluss vom 19.07.2011 – X ZB 4/10, NZBau 2011, 629 Rn. 3 f. – S-Bahn-Verkehr Rhein/Ruhr II; BGH, NZBau 2014, 452 Rn. 7 ff. – Bioabfallvergärungsanlage[]
  8. OLG München, Beschluss vom 12.08.2008 – Verg 6/08 15; Zinger, NZBau 2020, 695, 696 f.[]
  9. ebenso OLG Naumburg, VergabeR 2013, 949, 950[]
  10. vgl. Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Kostenrechts vom 11.11.2003, BT-Drs. 15/1971, S. 155 f. unter Verweis auf BayObLG, NZBau 2003, 694, 695[]
  11. BayObLG, ebenda[]
  12. vgl. Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Rechtsgrundlagen für die Vergabe öffentlicher Aufträge vom 03.12.1997, BT-Drs. 13/9340, S. 23 zur Vorgängervorschrift des § 12a GKG aF; Toussaint in BeckOK Kostenrecht, Stand 1.07.2022, § 50 GKG Rn. 22[]
  13. BGH, Urteile vom 08.11.1965 – VIII ZR 236/64, NJW 1966, 250 92]; vom 29.11.1993 – II ZR 107/92, WM 1994, 63 19]; vom 16.11.2007 – IX ZR 194/04, WM 2008, 173 42][]
  14. BGH, Beschluss vom 12.06.2006 – II ZB 21/05, NJW-RR 2007, 285 9] – Mehrwertsteuer für die zum Vorsteuerabzug berechtigte Partei; BGH, Urteile vom 21.10.2003 – X ZR 66/01, NZBau 2004, 34 10]; vom 21.09.2021 – KZR 88/20, WM 2022, 1850 Rn. 56 – Trassenentgelte II; vom 14.12.2021 – XIII ZR 1/21, NVwZ-RR 2022, 533 Rn. 41 – Sanktion bei Meldepflichtverstoß[]
  15. vgl. auch BGH, Urteil vom 21.09.2021 – KZR 88/20, WM 2022, 1850 Rn. 57 – Trassenentgelte II[]
  16. vgl. BVerfG, Beschluss vom 06.12.2006 – 1 BvR 2085/03, WM 2007, 712 62] – Schienenpersonennahverkehr[]
  17. BGH, NZBau 2014, 452 Rn. 13 – Bioabfallvergärungsanlage[]
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