In der Berufsunfähigkeitsversicherung kann die bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit auch auf der Diagnose einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren (ICD-10:F45.41) beruhen. Anders als bei der Diagnose einer somatoformen Schmerzstörung (ICD-10:F43.4) ist dafür der Nachweis eines psychischen Konflikts oder einer psychosozialen Belastungssituation nicht erforderlich.

Mit dieser Begründung hat aktuell das Oberlandesgericht Frankfurt am Main einem Versicherungsnehmer, der Simulationsvorwürfen ausgesetzt war, eine monatliche Berufsunfähigkeitsrente zugesprochen.
Der Versicherungsnehmer hatte eine Berufsunfähigkeitsversicherung abgeschlossen. Er war zu diesem Zeitpunkt als Flugzeugabfertiger tätig. Das Arbeitsverhältnis endete wegen zunehmender gesundheitlicher Beschwerden des Versicherungsnehmers mit einem Aufhebungsvertrag. Die beklagte Versicherung lehnte Leistungen aus der Berufungsunfähigkeitsversicherung ab. Das erstinstanzlich hiermit befasste Landgericht Wiesbaden hatte die Klage auf Leistung nach Einholung einer Vielzahl von Gutachten zurückgewiesen, da keine eine Berufsunfähigkeit begründende somatische oder psychische Erkrankung festzustellen sei1. Die geklagten Beschwerden entsprächen nicht den objektiven Befunden; auf psychiatrischem Gebiet sei offengeblieben, ob ein bewusstseinsnaher, willentlicher Prozess vorliege oder aber unbewusste Mechanismen die Schmerzverarbeitung bestimmten.
Die hiergegen eingelegte Berufung des Versicherungsnehmers hatte vor dem OLG Frankfurt Erfolg; nach Einholung eines internistisch-rheumatologischen Gutachtens verurteilte das Oberlandesgericht die Versicherungsgesellschaft zur Leistung aus der Berufungsunfähigkeitsversicherung:
Nach aufwendiger Diagnostik, so das OLG, seien zwar sowohl eine rheumatische Erkrankung als auch eine Fibromyalgie ausgeschlossen worden. Es seien vom Sachverständigen aber auf somatischen Gebiet objektiv nachweisbare Beeinträchtigungen in einem Umfang von 40 % festgestellt worden (u.a. arthrotische Veränderungen an den Fingern sowie dem Daumensattelgrundgelenk). Hieran anknüpfend sei der Sachverständige für psychosomatische Medizin zu der überzeugenden Feststellung einer „chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren“ gelangt, die zu Leistungseinbußen von deutlich mehr als 50 % im zuletzt ausgeübten Beruf führten. Im Gegensatz zur „chronischen Schmerzstörung“, die allein in erster Instanz als Diagnose diskutiert worden sei, setze die Diagnose einer „chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren“ nicht die Feststellung eines psychischen Konflikts oder einer psychosozialen Belastungssituation voraus. Die Diagnose der „chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren“ sei erst im Jahr 2009 in den Diagnoseschlüssel (ICD-10) eingeführt worden, da häufig ein psychischer Konflikt oder eine psychosoziale Belastungsstörung lediglich nicht eruierbar seien, hierdurch jedoch die Diagnosestellung gefährdet sei. Dies zeige auch der vorliegende Fall nachdrücklich auf. Der Versicherungsnehmer sei Simulationsvorwürfen ausgesetzt gewesen. Diese hätten jedoch nach umfangreicher Diagnostik durch den Sachverständigen als erfahrenem Facharzt für Psychosomatik überzeugend ausgeräumt werden können.
Nach § 1 (1) a) der „Allgemeinen Bedingungen für die Berufsunfähigkeitsversicherung mit einem generellen Verzicht auf die abstrakte Verweisbarkeit“ (im Folgenden: AVB-BU) hat die Versicherungsgesellschaft die Zahlung einer monatlichen Rente zugesagt, wenn der Versicherte während der Dauer der Versicherung zu mindestens 50 % berufsunfähig wird.
Vollständige Berufsunfähigkeit liegt nach § 2 (1) a), b) AVB-BU vor, wenn der Versicherte infolge Krankheit, Körperverletzung, Gebrechen oder Schwäche der geistigen oder körperlichen Kräfte, die ärztlich nachzuweisen sind, voraussichtlich mehr als 6 Monate außerstande sein wird, seinen zuletzt ausgeübten Beruf auszuüben, oder schon 6 Monate ununterbrochen infolge von Krankheit, Körperverletzung, Gebrechen oder Schwäche der geistigen oder körperlichen Kräfte außer Stande war, seinen zuletzt ausgeübten Beruf auszuüben, wobei dieser Zustand von Beginn an als vollständige Berufsunfähigkeit gilt. Teilweise Berufsunfähigkeit liegt vor, wenn die vorstehend genannten Voraussetzungen nur in einem bestimmten Grad vorliegen (§ 2 (2) AVB-BU).
Maßstab für die Beurteilung der Berufsunfähigkeit ist der zuletzt in gesunden Tagen ausgeübte Beruf (§ 3 (1) AVB-BU).
Abzustellen war vorliegend auf die Tätigkeit des Versicherungsnehmers als Teamleiter im Ramp Service, da dies die letzte in gesunden Tagen ausgeübte Tätigkeit darstellte. Die Abordnung des Versicherungsnehmers in den Servicepool und die in der Folge ausgeübten Tätigkeiten erfolgten auf Empfehlung des Betriebsarztes seiner ehemaligen Arbeitgeberin aus gesundheitlichen Gründen. Wie das Schreiben der X1 GmbH vom 19.12.2002 belegt, wurden in den Servicepool Mitarbeiter mit vorübergehenden körperlichen Einschränkungen verbunden mit der Erwartung aufgenommen, dass sie nach einer Erholungszeit wieder ihrer ursprünglichen Tätigkeit nachgehen könnten. Es handelte sich insofern um einen leidensbedingten Wechsel der Tätigkeit auf ärztliches Anraten. Dies belegt auch die ärztliche Stellungnahme des Betriebsarztes vom 16.03.2004, der leidensbedingt eine weitere Verwendung für drei Monate im Servicepool empfahl.
Die Ausgestaltung der zuletzt als Teamleiter im Ramp Service ausgeübte Tätigkeit ergibt sich aus den Feststellungen im landgerichtlichen Urteil. Danach stehen die anfallenden Tätigkeiten ihrer Art, ihrem Umfang und ihrer Häufigkeit nach so konkret fest, dass sie für einen Außenstehenden nachvollziehbar sind2. Die Arbeitsbeschreibung vermittelt eine zuverlässige Beurteilungsgrundlage für die Begutachtung durch einen Sachverständigen.
Nach der in zweiter Instanz durchgeführten Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Oberlandesgerichts fest, dass der Versicherungsnehmer aufgrund einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren seit Februar 2010 in seinem Beruf als Teamleiter im Ramp Service bedingungsgemäß berufsunfähig ist.
Zwar hat der Sachverständige E, der über eine herausragende Sachkunde als Inhaber des Lehrstuhls für Innere Medizin mit dem Schwerpunkt Rheumatologie der I verfügt, festgestellt, dass nach Auswertung sämtlicher zur Verfügung stehender objektiver Befunde niemals die Voraussetzungen für die Diagnose einer rheumatisch entzündlichen Erkrankung vorlagen. Dies hat er im Einzelnen in seinem schriftlichen Gutachten vom 09.05.2016 und im Rahmen dessen mündlicher Erläuterung vor dem Oberlandesgericht überzeugend dargelegt.
Der Sachverständige hat eine umfassende Diagnostik betrieben. Er hat den Versicherungsnehmer am 14.09.2015 untersucht, eine Anamnese erhoben, klinische Untersuchungen durchgeführt und auch eine umfangreiche apparative Diagnostik vorgenommen. Im Ergebnis zeigten sich weder im Labor noch bei bildgebenden Verfahren Anzeichen für eine entzündlich rheumatische Gelenkerkrankung. Es fanden sich lediglich im Bereich der Finger und des Daumensattelgelenks arthrotische Veränderungen. Zusätzlich stellte er im Bereich des (unfallgeschädigten) rechten Knies eine retropatellare Gleitwegstörung sowie eine Bewegungseinschränkung des Hüftgelenks links fest. Gelenkspaltverschmälerungen im Bereich der PIP- und DIP-Gelenke (Fingergelenke), die von Vorgutachtern als Zeichen einer Rheumaerkrankung gewertet wurden, fand er in den aktuell von ihm gefertigten Röntgenbildern hingegen nicht, wobei er nachvollziehbar dargelegt hat, dass derartige Verschmälerungen nicht nachträglich verschwinden können. Zusätzlich hat er darauf hingewiesen, dass die kleinen Fingergelenke – erst recht ein einzelnes Fingergelenk – eine atypische Gelenklokalisation darstellen, da Rheuma bei den großen Gelenken auftritt und Gelenkschwellungen über einen längeren Zeitpunkt bestehen oder zumindest wiederholt auftreten. Auch eine undifferenzierte Oligoarthritis hat er unter Hinweis auf den nur grenzwertig marginalen Sonografiebefund in 2004, der keine Hypervaskularisation aufgewiesen hat, ausgeschlossen; gleiches gilt für die von J angenommene Osteoporoseerkrankung, da der Sachverständige im Rahmen der von ihm durchgeführten Knochendichtemessung den schlechten Vorbefund nicht bestätigen konnte, ein solcher Befund sich aber ohne spezielle Osteoporosebehandlung, die beim Versicherungsnehmer nicht stattgefunden hat, nicht bessern kann.
Wie der Sachverständige weiter ausgeführt hat, liegt bei dem Versicherungsnehmer auch mit Sicherheit keine Fibromyalgie vor, da sich diese dem rheumatischen Formenkreis zuzuordnende Krankheit des Muskelskelettsystems insbesondere durch Schmerzen des Weichteilgewebes, nicht aber – wie vom Versicherungsnehmer beklagt – durch Schmerzen an den Gelenken auszeichnet und der Versicherungsnehmer darüber hinaus auch nur äußerst wenige vegetative Symptome im SS-Score (Symptom Severity Score) aufwies.
Den Grad der Berufsunfähigkeit hat der Sachverständige in Hinblick auf die von ihm festgestellten objektiven Befunde mit 20 % – unter Berücksichtigung einer möglicherweise vorliegenden Bewegungseinschränkung der Schulter – allenfalls mit 30 % bewertet. Wie er nachvollziehbar dargestellt hat, fällt hierbei insbesondere das femoropatellare Schmerzsyndrom für die konkret zuletzt ausgeübte Tätigkeit ins Gewicht, da das Anheben von schweren Gegenständen, auch ein tiefes in die Hocke gehen, für den Versicherungsnehmer mit Einschränkungen verbunden ist. Die schwerwiegendste Beeinträchtigung resultiert jedoch mit Blick auf die konkrete Tätigkeit des Versicherungsnehmers aus der Rizarthrose. Die Greiffunktion an sich ist zwar nicht beeinträchtigt, aber sie ist mit Schmerzen verbunden, auch wenn der Versicherungsnehmer zum Zeitpunkt der Untersuchung keine Schmerzen in den Daumen angegeben hat. Zu einer abschließenden Bewertung sah der Sachverständige sich jedoch letztlich nicht in der Lage, da hierzu – wie er nachvollziehbar begründet hat – noch weitere nicht in sein Fachgebiet fallende Gesichtspunkte zu berücksichtigen sind. Der Sachverständige hat insoweit auf Folgendes hingewiesen: Ausgehend von den rein objektiv feststellbaren Befunden könne es sein, dass ein „robuster“ Mensch bei einer wie vom Versicherungsnehmer ausgeübten Tätigkeit keinerlei Schmerzen empfinde. Umgekehrt sei es aber auch möglich, dass man bei einer derartigen Berufsausübung – wenn bestimmte psychische Konstellationen hinzukämen – schmerzgeplagt sei. Zwar habe der Versicherungsnehmer über besonders ausgeprägte Schmerzen geklagt und hierbei keinesfalls bewusst falsche Angaben gemacht. Ob jedoch die Schmerzempfindung bei dem Versicherungsnehmer so weit im Vordergrund stehe, dass eine Berufsunfähigkeit von 50 % anzunehmen sei, hänge vom Hinzutreten psychischer Faktoren ab, deren Beurteilung nicht in sein Fachgebiet fiele. Dies könne nur ein Schmerztherapeut oder Psychiater beurteilen. Wie der Sachverständige weiter überzeugend erläutert hat, gibt es zwar Verletzungen, die zwangsläufig zu Schmerzen führen, die Schmerzinterpretation im muskuloskelettalen Bereich unterliegt jedoch einer sehr großen Varianz.
Anknüpfend an diese aus somatischer Sicht überzeugend dargelegten Befunde hat das Oberlandesgericht das psychosomatisch- psychotherapeutische Gutachten von H eingeholt, der zusätzlich die psychischen Faktoren des vom Versicherungsnehmer geklagten Schmerzgeschehens beurteilt hat.
H, der als Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie und Direktor der Klinik1 der I und K über ein herausragendes Fachwissen und ein ebensolches Erfahrungswissen verfügt, hat in seinem Gutachten vom März 2021 die Erkrankung des Versicherungsnehmers überzeugend als „chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren“ im Sinne des International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD-10:F45.41) eingeordnet, die sich aus diesem Krankheitsbild ergebenden Beeinträchtigungen festgestellt und die hieraus konkret resultierenden Leistungseinbußen in Hinblick auf die Tätigkeit als Teamleiter im Ramp Service nachvollziehbar mit einem deutlich über 50 % liegenden Grad der Berufsunfähigkeit bewertet. Diese Bewertung beruht auf einer Gesamtschau seiner ausgesprochen ausführlichen Anamneseerhebungen nebst ergänzenden Testungen sowie seiner klinischen Beobachtung des Versicherungsnehmers während der Anamneseerhebung und einer Auswertung der in der Gerichtsakte befindlichen Gutachten.
Wie der Sachverständige ausgeführt hat, hat er an die somatischen Erkrankungen, wie sie sich aus den gutachterlichen Feststellungen von E ergeben, angeknüpft. Er hat insofern zugrunde gelegt, dass an beiden Händen eine Rizarthrose sowie eine Polyarthrose der PIP-Gelenke sowie eine Bewegungseinschränkung im Hüftgelenk vorlag und eine femoropatellare Arthrose im rechten Knie bestand. Wie der Sachverständige weiter ausgeführt hat, sind diese objektiven Befunde zwar geeignet, Schmerzen auszulösen, erklären aber nicht vollständig das Ausmaß der vom Versicherungsnehmer geklagten Schmerzen, und zwar auch nicht unter Berücksichtigung der Tatsache, dass jede Schmerzwahrnehmung eine subjektive Komponente aufweist und deshalb individuell unterschiedlich ausgeprägt sein kann. Vorliegend habe sich jedoch eine große Diskrepanz gezeigt zwischen den vom Versicherungsnehmer geklagten Beschwerden und den Beschwerden, die man bei dem objektiv feststellbaren Befund erwarten könnte, so dass sich die Frage der Simulation gestellt habe, die im Ergebnis aber eindeutig zu verneinen sei. Begründet hat der Sachverständige Letzteres nachvollziehbar mit der Ausgestaltung des täglichen Lebens seitens des Versicherungsnehmers und seinem Verhalten in der Begutachtungssituation. Der Versicherungsnehmer, der seit ca. zehn Jahren oder länger in ärztlicher Behandlung ist, nimmt Opioide und andere Rheumamittel in recht hoher Dosierung ein, die mit erheblichen Nebenwirkungen im Hinblick auf seine kognitiven Fähigkeiten einhergehen, wobei der Umfang der Behandlung bzw. Medikation – insbesondere seit seiner schmerztherapeutischen Behandlung Anfang 2007 – im Einzelnen in den Vorgutachten dokumentiert ist. Sein gesamtes Leben zeigt eine ganz starke Reduktion auf den Schmerz, wie sich plastisch an dem von ihm geschilderten Tagesablauf ablesen lässt, der von einem großen Schonungsverhalten und starker sozialer Isolation geprägt ist. Er benutzt einen Gehstock, ist ständig erschöpft, muss sich ausruhen und ist in seinem Alltag weitgehend mit der Schmerzbekämpfung beschäftigt. Seine Beschwerdeschilderung war ausweislich der in der Gerichtsakte befindlichen Gutachten konsistent, wobei gerade die fehlende Modulation in der Beschwerdeschilderung auf die Mitwirkung eines psychischen Faktors hinwies. Während der Begutachtung hat er sich – wie bereits in vorangegangenen Begutachtungen – eher zurückhaltend, mürrisch und misstrauisch verhalten und ganz sicher nicht versucht, sich die Gutachter gewogen zu machen. Nachdem der Sachverständige ihn zu einer erneuten Untersuchung einbestellt hatte, wollte er dem zunächst nicht mehr Folge leisten.
Gestützt wurde die Einschätzung des Sachverständigen zur Frage der Simulation darüber hinaus durch das Ergebnis des d2-R-Tests, bei dem es sich um einen Aufmerksamkeits- und Konzentrationstest handelt, der aber auch aussagekräftig für Simulationstendenzen ist und vorliegend keine Anzeichen für Simulation ergab. Des Weiteren sprachen auch die Beobachtungen von Frau L gegen Simulationstendenzen anlässlich des von ihr durchgeführten Tests mit Wortlisten, bei welchen der Versicherungsnehmer eine gute Mitarbeit zeigte. In der Zusammenschau von Testpsychologie und klinischem Bild ist – wie vom Sachverständigen ausgeführt – daher zwar von einem Verdeutlichungsbestreben, nicht aber von bewusster Aggravation oder gar Simulation auszugehen.
Vor diesem Hintergrund hat der Sachverständige die von ihm gestellte Diagnose einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren nachvollziehbar begründet. Der Versicherungsnehmer erfüllt sämtliche Diagnosekriterien:
Im Vordergrund des klinischen Bildes stehen – seit mindestens sechs Monaten – bestehende Schmerzen in einer oder mehreren anatomischen Regionen, die ihren Ausgangspunkt in einem physiologischen Prozess oder einer körperlichen Störung haben. Für Schweregrad, Exazerbation oder Aufrechterhaltung kommen psychische Faktoren eine wichtige Rolle zu. Der Schmerz verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leiden und Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen, wobei der Schmerz nicht absichtlich erzeugt oder vorgetäuscht wird.
Wie der Sachverständige erläutert hat, ist die Diagnose nach dem ICD-10:F45.41 erst 2009 bzw.2010 in den ICD aufgenommen worden. Dies erfolgte vor dem Hintergrund, dass die dort ebenfalls verortete „somatoforme Schmerzstörung“ (ICD-10:F43.4) einen psychischen Konflikt oder eine psychosoziale Belastungssituation voraussetzt und häufig eine solche Konflikt- oder Belastungssituation lediglich nicht eruiert werden konnte, hierdurch aber die Diagnosestellung gefährdet war. Auch der vorliegende Fall zeichne sich dadurch aus, dass eine bestimmte Schmerzreaktion aufgrund objektiver Befunde durchaus plausibel sei, der Umfang der geklagten Symptome jedoch weit darüber hinausgehe und auf eine psychische Beteiligung hinweise, ohne dass es gelungen sei, eine psychische Konfliktsituation oder psychosoziale Belastungssituation nachzuweisen. Die Kriterien einer somatoformen Schmerzstörung nach dem ICD-10: F43.4 erfülle der Versicherungsnehmer daher nicht. Der Alexithymiegrad des Versicherungsnehmers und seine sehr begrenzte Introspektionsfähigkeit hätten eine tiefergreifende Exploration und Aufdeckung des emotionalen Konflikts verhindert. Der Versicherungsnehmer sei jedoch im Rahmen einer maladaptiven Kognition komplett auf das Beschwerdebild – nämlich seine Schmerzen – fixiert, wie die Schilderung seines Tagesablaufs zeige. Nach Erläuterung des Beweismaßes (§ 286 ZPO) seitens des Oberlandesgerichts – dass der „psychische Faktor“ im Rahmen der chronischen Schmerzstörung des Nachweises mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bedarf – hat der Sachverständige überzeugend ausgeführt, dass für ihn auf der Grundlage seines ärztlichen Fachwissens und seiner ärztlichen Erfahrung die Diagnose der „chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren“ außer Zweifel steht. Selbstverständlich sei auch er – ebenso wie D in seinem Gutachten vom 26.09.2011 – der Frage nachgegangen, ob bei dem Versicherungsnehmer ein bewusstseinsnaher, willentlicher Prozess vorliege oder aber unbewusste Mechanismen bei der Schmerzverarbeitung und der Darstellung seines Leidens eine Rolle spielten, was nach Abwägung aller Gesamtumstände im Ergebnis eindeutig zu verneinen sei. Das Gesamtverhalten des Versicherungsnehmers sei für ihn zunächst nur unbefriedigend zu erklären gewesen. Anhaltspunkte für eine Persönlichkeitsstörung ergaben sich nach der durchgeführten Testung (SKID II) nicht, so dass auch die von D erörterte Konversionsneurose ausschied. Es zeigten sich jedoch in der von L durchgeführten neuropsychologischen Zusatzuntersuchung Einschränkungen der kognitiven Fähigkeiten, die auf eine mögliche dementielle Entwicklung hinwiesen. Bereits in dem von der Psychologin M durchgeführten MoCA-Test, der kognitive Defizite aufspürt, erzielte der Versicherungsnehmer ein schlechtes Testergebnis (19 Punkte); ab 18 Punkten und weniger deutet das Testergebnis auf eine dementielle Entwicklung hin. Die von L durchgeführte standardisierte Testbatterie zur Diagnose kognitiver Defizite (CERAD) zeigte auf, dass der Versicherungsnehmer in sehr vielen Bereichen und nicht nur vereinzelt schlechte Testergebnisse erzielte. Wie L nachvollziehbar erläutert hat, decken die von ihr durchgeführten Testverfahren einen breiten kognitiven Bereich ab und belegten, dass bei dem Versicherungsnehmer insgesamt – und nicht nur in einzelnen Bereichen – ein kognitives Problem besteht. Wie der Sachverständige dargelegt hat, kommt dieser Verdachtsdiagnose einer dementiellen Entwicklung zwar keine Bedeutung für die hier vorzunehmende Leistungsbeurteilung zu und bedarf daher auch nicht der abschließenden Klärung im vorliegenden Rechtsstreit, die festgestellten kognitiven Einbußen erklären jedoch die Dissonanz zwischen dem Krankheitsverständnis des Versicherungsnehmers, der seit Jahren zum Arzt geht und Medikamente gegen seine „Rheumaerkrankung“ einnimmt, obwohl E eindeutig festgestellt und objektiviert hat, dass eine solche Erkrankung nicht vorliegt.
Soweit D im Übrigen die Auffassung vertrat, dass eine zuverlässige Diagnosestellung auf seinem Fachgebiet als Psychiater nicht möglich sei, war dies bereits deshalb nicht überzeugend, weil er als einzige Alternative zur Konversionsneurose eine „somatoforme Schmerzstörung (ICD-10:F45.4)“ in Betracht gezogen hat und insofern auf den fehlenden Nachweis einer psychosozialen Belastungssituation oder inneren Konfliktsituation abgestellt hat. Eine „chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren“ findet in seinem Gutachten indes überhaupt keine Erwähnung. Das Oberlandesgericht folgt daher den überzeugenden Feststellungen von H, der als Psychosomatiker zudem über eine deutlich überlegene Sachkunde verfügt.
In Bezug auf die maßgeblichen Anforderungen des zuletzt in gesunden Tagen ausgeübten Berufs als Teamleiter im Ramp Service hat der Sachverständige im Einzelnen nachvollziehbar und überzeugend dargelegt, dass sich insgesamt eine schwergradige Beeinträchtigung ergibt, die eine deutlich über 50 % liegende Berufsunfähigkeit begründet. Der Versicherungsnehmer ist in seiner Konzentration, Flexibilität und Stimmungslage stark eingeschränkt. In Hinblick auf seine Anpassungsfähigkeit, der Fähigkeit zur Strukturierung des Arbeitsvorganges, seinem Durchhaltevermögen, seiner Durchsetzungs, Kommunikations- und Gruppenfähigkeit bestehen zumindest mittelgradige Einschränkungen. Rückschauend und unter Ausblendung des weiteren Verlaufs vermochte der Sachverständige festzustellen, dass ein solcher Zustand bereits seit Februar 2010 besteht. Der Sachverständige hat sich insoweit nachvollziehbar auf die von der Psychiaterin B bereits im Gutachten vom 22.02.2010 auf der Grundlage der von ihr erhobenen Anamnese getroffenen Feststellungen bezogen, die mit den Angaben des Versicherungsnehmers hinsichtlich eines seit Jahren gleichbleibenden Schmerzzustandes übereinstimmen. Bereits Frau B hatte eine Leistungsfähigkeit für die Tätigkeit als Flugabfertiger verneint, auch wenn sie im Übrigen die Voraussetzungen einer Erwerbsunfähigkeit nicht als gegeben erachtet hat. Dass jedenfalls ab dem Zeitpunkt der Untersuchung durch Frau B am 3.02.2010 valide die hier in Frage stehende Chronifizierung ex ante festzustellen ist, ist nachvollziehbar. Sie hat die sich auf psychiatrischem Fachgebiet ergebenden Einschränkungen als eingeschliffen erachtet und ist von einem chronifizierten Krankheitsbild ausgegangen.
Das Oberlandesgericht folgt danach insgesamt den sorgfältig und in jeder Hinsicht überzeugend begründeten Feststellungen des Sachverständigen H, der zugleich die Einwendungen der Privatgutachterin N in ihrer Stellungnahme vom 07.05.2021 umfassend ausgeräumt hat.
Die Stellungnahme von N entbehrt bereits einer sorgfältigen Auseinandersetzung mit den konkret in Rede stehenden Diagnosen. Des Weiteren hat sich der Sachverständige gerade mit der Frage einer bewussten Ausgestaltung der Beschwerden umfassend und überzeugend auseinandergesetzt. Die von der Privatgutachterin erhobenen Einwände gegen die Validität der durchgeführten Testverfahren liegen ebenfalls neben der Sache, wie die detaillierten Erläuterungen durch die Psychologinnen M und L in der mündlichen Verhandlung vor dem Oberlandesgericht ergaben. Hinsichtlich des d2-R-Tests hat die Psychologin M überzeugend dargelegt, dass dem Versicherungsnehmer 13 Fehler unterlaufen sind, obwohl er den Test mit einem unterdurchschnittlich niedrigen Tempo absolvierte. Der Versicherungsnehmer erzielte nur einen Prozentrang von „eins“, d.h. dass nur 1 % der Norm-Stichprobe ein schlechteres Ergebnis aufwies. Des Weiteren handelt es sich bei den von L – einer promovierten Psychologin – durchgeführten Testbatterien um Standardtestverfahren, die global auf kognitive Defizite abzielen, auf jeden Fall aber auch speziell auf eine Alzheimer-Erkrankung hinweisende Punkte berücksichtigen. Dass mit diesen Testverfahren allein nicht der Nachweis einer Alzheimer-Erkrankung geführt werden kann, versteht sich von selbst. Gegenteiliges ergibt sich auch nicht aus dem Gutachten von L. Die durchgeführten Testverfahren bewegten sich auch keinesfalls auf dem von der Privatgutachterin behaupteten einfachsten Niveau, wie die Schilderungen der Psychologin L (Wortlisten in drei Durchgängen /Benennung von mindestens 20 Tiernamen in einer Minute) vor dem Oberlandesgericht belegten. Der Mini-Mental-Status Test wurde nicht durchgeführt, wie der fehlende Eintrag in der Tabelle auf Seite 3 des Gutachtens zur neuropsychologischen Zusatzuntersuchung belegt. In den Trail Making Tests A /B (Nr. 10, 11 der Tabelle) erzielte der Versicherungsnehmer schlechte Ergebnisse, die erhebliche Abweichungen vom Normbereich belegten und kongruent mit den anderen zuvor erreichten Testergebnissen waren, wie von Frau L bei ihrer Anhörung im Einzelnen dargelegt. Wie sie weiter erläutert hat, sind sämtliche Testergebnisse, die in der Tabelle auf Seite 3 ihres Gutachtens eine Abweichung von der Null-Achse von -1 aufweisen, bereits als auffällig und von der Norm abweichend zu bewerten. Dass es dem Sachverständigen H nicht darauf ankam, eine Alzheimer-Erkrankung zu diagnostizieren und die Testverfahren lediglich dazu dienten, bestehende kognitive Defizite als Erklärung für das subjektive Krankheitsverständnis des Versicherungsnehmers aufzudecken, hat der Sachverständige im Einzelnen erläutert.
Danach liegt bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit vor, so dass die Versicherungsgesellschaft zur Zahlung einer Berufsunfähigkeitsrente an den Versicherungsnehmer ab dem 1.03.2010 verpflichtet ist. Der Anspruch ist mit Ablauf des Monats entstanden, in dem die Berufsunfähigkeit eingetreten ist (§ 1 (3) AVB-BU).
Oberlandesgericht Frankfurt am Main, Urteil vom 23. Februar 2022 – 7 U 199/12
- LG Wiesbaden, Urteil vom 06.07.2012 – 1 O 9/06[↩]
- vgl. hierzu BGH, Urteil vom 22.09.2004 – IV ZR 200/03, VersR 2005, 676[↩]
Bildnachweis:
- OLG Frankfurt a.M. – Zuhörerbereich: OLG Frankfurt a.M.