Prämienanpassung in der privaten Krankenversicherung – und der gesetzliche Schwellenwert

§ 8b Abs. 2 MB/KK 2009 weicht entgegen § 208 Satz 1 VVG zum Nachteil des Versicherungsnehmers von § 203 Abs. 2 Satz 1 VVG ab und ist daher unwirksam. Dies lässt die Wirksamkeit von § 8b Abs. 1 MB/KK 2009 sowie einer Tarifbedingung, wonach beim Vergleich der erforderlichen mit den kalkulierten Versicherungsleistungen eine Abweichung von mehr als 5 % eine Prämienanpassung ermöglicht, unberührt.

Prämienanpassung in der privaten Krankenversicherung – und der gesetzliche Schwellenwert

§ 8b der „Musterbedingungen 2009 – MB/KK 2009 – des Verbandes der privaten Krankenversicherung“ lautet:

§ 8b Beitragsanpassung

  1. Im Rahmen der vertraglichen Leistungszusage können sich die Leistungen des Versicherers z.B. wegen steigender Heilbehandlungskosten, einer häufigeren Inanspruchnahme medizinischer Leistungen oder aufgrund steigender Lebenserwartung ändern. Dementsprechend vergleicht der Versicherer zumindest jährlich für jeden Tarif die erforderlichen mit den in den technischen Berechnungsgrundlagen kalkulierten Versicherungsleistungen und Sterbewahrscheinlichkeiten. Ergibt diese Gegenüberstellung für eine Beobachtungseinheit eines Tarifs eine Abweichung von mehr als dem gesetzlich oder tariflich festgelegten Vomhundertsatz, werden alle Beiträge dieser Beobachtungseinheit vom Versicherer überprüft und, soweit erforderlich, mit Zustimmung des Treuhänders angepasst. […]

    1 Ergibt die Gegenüberstellung nach Absatz 1 Satz 2 bei den Versicherungsleistungen eine Abweichung von mehr als 10 %, werden alle Beiträge dieser Beobachtungseinheit vom Versicherer überprüft und, soweit erforderlich, mit Zustimmung des Treuhänders angepasst; bei einer Abweichung von mehr als 5 % können alle Beiträge dieser Beobachtungseinheit vom Versicherer überprüft und, soweit erforderlich, mit Zustimmung des Treuhänders angepasst werden.

    […]

  2. Von einer Beitragsanpassung kann abgesehen werden, wenn nach übereinstimmender Beurteilung durch den Versicherer und den Treuhänder die Veränderung der Versicherungsleistungen als vorübergehend anzusehen ist.
  3. […]

Für die Prämienanpassung liegt der gesetzlich vorgesehene Schwellenwert der Veränderung der Versicherungsleistungen gemäß § 203 Abs. 2 VVG in Verbindung mit § 155 Abs. 3 Satz 2 VAG beziehungsweise (dem bis zum 31.12.2015 geltenden) § 12b Abs. 2 Satz 2 VAG a.F. bei 10%. Diese gesetzlichen Vorschriften erlauben jedoch eine Herabsetzung des Schwellenwerts in den Allgemeinen Versicherungsbedingungen. Auf dieser Grundlage hat die Versicherungsgesellschaft durch die sich an § 8b MB/KK 2009 (im Folgenden: MB/KK) anschließende Regelung in den Tarifbedingungen den Schwellenwert auf 5 % gesenkt; dieser Wert wurde im vorliegenden Fall nach den Feststellungen des Oberlandesgerichts Köln durch die Veränderung der Versicherungsleistungen bei den hier in Rede stehenden Prämienanpassungen jeweils überschritten.

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Die Regelungen in § 8b MB/KK zu den Voraussetzungen einer Prämienanpassung stehen einer Anwendung des niedrigeren Schwellenwertes für eine Prämienanpassung aus den Tarifbedingungen der Versicherungsgesellschaft nicht entgegen.

Noch zutreffend geht insoweit das Oberlandesgericht Köln1 davon aus, dass § 8b Abs. 2 MB/KK unwirksam ist2. Diese Regelung weicht entgegen § 208 Satz 1 VVG zum Nachteil des Versicherungsnehmers von § 203 Abs. 2 Satz 1 VVG ab3. Während nach der gesetzlichen Vorschrift eine Prämienanpassung zwingend voraussetzt, dass die Veränderung einer für die Prämienkalkulation maßgeblichen Rechnungsgrundlage nicht nur als vorübergehend anzusehen ist, sieht § 8b Abs. 2 MB/KK vor, dass der Versicherer bei einer nur als vorübergehend anzusehenden Veränderung von der Prämienanpassung absehen „kann“, d.h. auch in diesem Fall ist sie nicht ausgeschlossen. Allgemeine Versicherungsbedingungen sind so auszulegen, wie ein durchschnittlicher, um Verständnis bemühter Versicherungsnehmer sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und unter Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs versteht. Dabei kommt es auf die Verständnismöglichkeiten eines Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse und damit auch auf seine Interessen an. In erster Linie ist vom Bedingungswortlaut auszugehen. Der mit dem Bedingungswerk verfolgte Zweck und der Sinnzusammenhang der Klauseln sind zusätzlich zu berücksichtigen, soweit sie für den Versicherungsnehmer erkennbar sind4. Nach dem eindeutigen Wortlaut wird der Versicherungsnehmer dieser Regelung keinen anderen Inhalt entnehmen können als die auch bei nur vorübergehender Veränderung bestehende Möglichkeit einer Prämienanpassung. Für den durchschnittlichen Versicherungsnehmer ist dagegen nicht erkennbar, dass das Wort „kann“ in diesem Zusammenhang als Ausdruck der Verwaltungsrechtssprache zu qualifizieren sein könnte und dem Versicherer daher eine Entscheidung nach pflichtgemäßem Ermessen auferlege5 und daraus folge, dass eine Prämienanpassung ausgeschlossen sei, wenn sachliche Gründe entgegenstünden, zu denen insbesondere das Fehlen einer dauerhaften Äquivalenzstörung gehöre6. Ebenso wenig wird er daraus, dass eine Prämienanpassung gemäß § 8b Abs. 1 Satz 3 MB/KK nur „soweit erforderlich“ erfolgt, darauf schließen, dass es bei einer als nur vorübergehend anzusehenden Veränderung an dieser Erforderlichkeit fehlen könnte7.

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Dies ist daher – ungeachtet dessen, dass häufigere Prämienanpassungen auch der Vermeidung großer Prämiensprünge dienen können8 – als erweiterte Ermächtigung des Versicherers zu einer Beitragserhöhung ein Nachteil für den Versicherungsnehmer, der nach § 208 Satz 1 VVG unzulässig ist. Aus einer Abweichung von halbzwingenden Vorschriften des Versicherungsvertragsgesetzes zum Nachteil des Versicherungsnehmers folgt die Unwirksamkeit nach § 307 BGB9. An die Stelle der unwirksamen Regelung tritt gemäß § 306 Abs. 2 BGB die gesetzliche Vorschrift des § 203 Abs. 2 Satz 1 VVG, so dass bei einer nur als vorübergehend anzusehenden Veränderung einer für die Prämienkalkulation maßgeblichen Rechnungsgrundlage eine Neufestsetzung ausgeschlossen ist.

Entgegen der Ansicht des Oberlandesgerichts Köln hat die Unwirksamkeit von § 8b Abs. 2 MB/KK jedoch nicht zur Folge, dass auch § 8b Abs. 1 MB/KK unwirksam wäre und darüber hinaus – wovon das Oberlandesgericht Köln unausgesprochen ausgeht – die hier maßgebliche Regelung in den Tarifbedingungen der Versicherungsgesellschaft, die auf § 8b Abs. 1 Satz 2 MB/KK Bezug nimmt, nicht mehr anwendbar wäre.

§ 8b Abs. 1 MB/KK weicht nicht zum Nachteil des Versicherungsnehmers von den gesetzlichen Vorschriften über die Prämienanpassung ab.

§ 8b Abs. 1 MB/KK enthält dieselben Voraussetzungen der Prämienanpassung wie § 203 Abs. 2 VVG und erlaubt diese insbesondere nur bei einer Veränderung der Rechnungsgrundlagen, die nicht nur als vorübergehend anzusehen ist10. Von den zwingenden Gesetzesvorschriften soll ersichtlich keine Abweichung vorgenommen werden. Mit der Regelung des § 8b Abs. 1 MB/KK in Verbindung mit den Tarifbedingungen macht der Versicherer allein von der ihm in § 155 Abs. 3 Satz 2 VAG eröffneten Möglichkeit Gebrauch, den Schwellenwert für die Prüfung einer Beitragsanpassung von 10 % auf 5 % abzusenken.

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§ 8b Abs. 1 MB/KK entspricht inhaltlich und teilweise wörtlich den gesetzlichen Prämienanpassungsvorschriften; ein eigenständiger Regelungsgehalt käme diesen Bestimmungen nur dann zu, wenn sie vom Gesetz zugunsten des Versicherungsnehmers abwichen11. Auch ohne dass in seinem Satz 3 die erforderliche Abweichung der zu vergleichenden Rechnungsgrundlagen ausdrücklich als „nicht nur als vorübergehend anzusehen“ bezeichnet wird, entnimmt der durchschnittliche Versicherungsnehmer dieser Regelung, dass sie sich nur auf solche Veränderungen bezieht. Denn der auch für ihn erkennbare Sinnzusammenhang von Abs. 1 und Abs. 2 zeigt, dass eine besondere Regelung für den Ausnahmefall einer Veränderung, die „als vorübergehend anzusehen“ ist, in Abs. 2 enthalten ist. Das bedeutet für ihn im Umkehrschluss, dass die übrigen Fälle einer nicht nur als vorübergehend anzusehenden Veränderung in Abs. 1 geregelt sind, ohne dass dies dort noch ausdrücklich erwähnt werden müsste.

Der Bestand der Regelung in § 8b Abs. 1 MB/KK wird auch durch die Streichung von § 8b Abs. 2 MB/KK nicht beeinträchtigt.

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs können inhaltlich voneinander trennbare, einzeln aus sich heraus verständliche Regelungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen auch dann Gegenstand einer gesonderten Wirksamkeitsprüfung sein, wenn sie in einem äußeren sprachlichen Zusammenhang mit anderen – unwirksamen – Regelungen stehen. Nur wenn der als wirksam anzusehende Teil im Gesamtgefüge des Vertrages nicht mehr sinnvoll, insbesondere der als unwirksam beanstandete Klauselteil von so einschneidender Bedeutung ist, dass von einer gänzlich neuen, von der bisherigen völlig abweichenden Vertragsgestaltung gesprochen werden muss, ergreift die Unwirksamkeit der Teilklausel die Gesamtklausel12. Die inhaltliche Trennbarkeit einer Klausel und damit die Möglichkeit ihrer Zerlegung in einen inhaltlich zulässigen und einen inhaltlich unzulässigen Teil ist immer dann gegeben, wenn der unwirksame Teil der Klausel gestrichen werden kann, ohne dass der Sinn des anderen Teils darunter leidet (sog. bluepenciltest); ob beide Bestimmungen den gleichen Regelungsgegenstand betreffen, ist dabei unerheblich13.

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Nach diesem Maßstab hat die Regelung über die Voraussetzungen einer Prämienanpassung, einschließlich des Erfordernisses einer nicht nur vorübergehenden Veränderung der Rechnungsgrundlagen, auch dann Bestand, wenn die Regelung zu den Folgen einer nur vorübergehenden Veränderung in Absatz 2 unwirksam ist14. Denn der verbleibende Sinn der Regelung wird dadurch nicht beeinträchtigt, sondern ist weiterhin aus sich heraus verständlich und besagt, dass eine Prämienanpassung zwingend eine nicht nur vorübergehende Veränderung der Rechnungsgrundlage erfordert. Dasselbe gilt für die – ebenfalls dem Gesetz folgende – Möglichkeit zur tariflichen Absenkung des Schwellenwertes in Absatz 1, von der in den Tarifbedingungen Gebrauch gemacht wurde.

Bundesgerichtshof, Urteil vom 22. Juni 2022 – IV ZR 253/20

  1. OLG Köln, Urteil vom 22.09.2020 – 9 U 237/19, VersR 2021, 95[]
  2. so auch OLG Karlsruhe, VersR 2022, 421 unter 2 b bb (1), (2) 106 f.]; OLG Schleswig, Urteil vom 13.12.2021 – 16 U 94/21 24 ff.; OLG Rostock, Beschluss vom 08.12.2021 – 4 U 90/21 11 ff.; Waldkirch in Bruck/Möller, VVG 9. Aufl. § 8b MB/KK 2009 Rn.12; PK-VVG/Brömmelmeyer, 4. Aufl. § 203 Rn. 14; Voit in Prölss/Martin, VVG 31. Aufl. § 8b MB/KK 2009 Rn. 2; Rogler, r+s 2020, 647; Werber, VersR 2021, 288, 289; a.A. Boetius, VersR 2021, 101, 102[]
  3. vgl. Klimke in Boetius/Rogler/Schäfer, Rechtshandbuch Private Krankenversicherung § 31 Rn. 91[]
  4. BGH, Urteil vom 26.01.2022 – IV ZR 144/21, VersR 2022, 312 Rn. 10; st. Rspr.[]
  5. so LG Berlin VersR 2021, 829[]
  6. vgl. Boetius, VersR 2021, 101, 102[]
  7. a.A. Boetius aaO[]
  8. vgl. BT-Drs. 12/6959, S. 62 zu § 12b Abs. 2 VAG a.F.[]
  9. vgl. BGH, Urteil vom 02.04.2014 – IV ZR 58/13, r+s 2015, 347 Rn. 22 m.w.N.[]
  10. vgl. auch OLG Stuttgart, MDR 2022, 370, 371 75]; OLG Karlsruhe, VersR 2022, 421 unter 2 b bb (2) (b) 110]; OLG Schleswig, Urteil vom 13.12.2021 – 16 U 94/21 28; a.A. OLG Rostock, Beschluss vom 08.12.2021 – 4 U 90/21 15; PK-VVG/Brömmelmeyer, 4. Aufl. § 203 Rn. 14; Werber, VersR 2021, 288, 289[]
  11. vgl. zu den entsprechenden Vorgängerregelungen in § 12b Abs. 2 VAG a.F. und § 8b MB/KK 94 BGH, Urteil vom 16.06.2004 – IV ZR 117/02, BGHZ 159, 323 unter – II 1 b 12][]
  12. BGH, Urteil vom 31.03.2021 – IV ZR 221/19, BGHZ 229, 266 Rn. 64 m.w.N.[]
  13. BGH, Urteil vom 31.03.2021 aaO m.w.N.[]
  14. vgl. OLG Karlsruhe, VersR 2022, 421 unter 2 b bb (2) (b) 111]; OLG Schleswig, Urteil vom 13.12.2021 – 16 U 94/21 28; LG Oldenburg VersR 2021, 632 Rn. 61; LG Berlin VersR 2021, 829 unter – I 2.01.2 71]; LG Hannover VersR 2021, 626 unter – I 3 a bb 115][]
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