In einer aktuellen Entscheidung hatte sich der Bundesgerichtshofs zu befassen mit der Frage der Erkennbarkeit des Willens des Berufungsklägers zur Fortsetzung des Verfahrens als Voraussetzung für die Gewährung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist ohne Antrag gemäß § 236 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 ZPO.

In dem hier vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall hatte der Beklagte (Berufungskläger) die Berufungsbegründungsfrist versäumt. Die Versäumung der Begründungsfrist durch den Beklagten war jedoch entschuldbar im Sinne von § 233 ZPO, weil sie durch die fehlerhaften Hinweise des Berufungsgerichts auf die Unterbrechung des Verfahrens gemäß § 244 ZPO verursacht wurde1. Hierauf konnte der Beklagte ohne weitere Nachprüfung vertrauen.
Der Beklagte hat keinen Wiedereinsetzungsantrag gestellt hat, ihm war jedoch nach Ansicht des Bundesgerichtshofs Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die versäumte Berufungsbegründungsfrist von Amts wegen gemäß § 236 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 ZPO zu gewähren.
Eine Nachholung der versäumten Prozesshandlung gemäß § 236 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 1 ZPO war vorliegend entbehrlich, weil diese, wenn auch verspätet, bereits vor Beginn der Wiedereinsetzungsfrist vorgenommen worden war2.
Das Berufungsgericht, das Oberlandesgericht Stuttgart3, hat dennoch eine Wiedereinsetzung gemäß § 236 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 ZPO abgelehnt, weil der Beklagte innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist des § 234 Abs. 1 ZPO untätig geblieben sei und damit für das Gericht nicht – wie erforderlich – erkennbar geworden sei, ob das Verfahren fortgesetzt werden solle. Diese Bewertung hält der rechtlichen Überprüfung nicht stand:
Es kann dahinstehen, ob und in welchem Umfang die Entscheidung, ob Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 236 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 ZPO zu gewähren ist, im – nur einer beschränkten Nachprüfung des Revisionsgerichts unterliegenden – Ermessen des Gerichts liegt4 26/86, BRAKMitt.1987, 90, 91; BAG, NJW 1989, 2708; s. demgegenüber etwa Musielak/Grandel aaO § 236 Rn. 8; Zöller/Greger, ZPO, 29. Aufl., § 236 Rn. 5)). Nachprüfbar ist in jedem Fall, ob das Berufungsgericht im Rahmen seines Ermessens alle wesentlichen festgestellten Tatsachen berücksichtigt hat5.
Letzteres ist vorliegend nicht der Fall. Das vom Berufungsgericht zur Begründung seiner Entscheidung herangezogene Erfordernis der Erkennbarkeit des Fortsetzungswillens der Partei, die die Frist versäumt hat, entspricht zwar der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und des Bundesarbeitsgerichts6. Der Fortsetzungswille des Beklagten war jedoch aufgrund der besonderen Umstände des Falles auch ohne seine erneute Bekräftigung für das Berufungsgericht ohne weiteres erkennbar. Eine Gefahr, dem Säumigen die Wiedereinsetzung aufzudrängen7, bestand nicht. Vielmehr ließen sämtliche Handlungen des Beklagten, insbesondere die vermeintlich fristgerecht am letzten Tag der verlängerten Begründungsfrist eingereichte Berufungsbegründung, auf den erforderlichen Fortsetzungswillen schließen. Da ein Wiedereinsetzungsgrund offensichtlich gegeben war, konnte die Versäumung der Begründungsfrist allein an dem Fortsetzungswillen keine vernünftigen Zweifel wecken. Angesichts der sehr zurückhaltenden Formulierung des Berufungsgerichts in seinem Hinweis vom 18.01.2012 war eine Reaktion des Beklagten hierauf nicht geboten. Aus ihrem Fehlen konnte nicht auf seinen mangelnden Fortsetzungswillen geschlossen werden. Eher konnte der Beklagte darauf vertrauen, zunächst eine weitere Mitteilung des Berufungsgerichts über das Ergebnis der angekündigten Prüfung zu erhalten, bevor ernsthaft von einer Versäumung der Berufungsbegründungsfrist auszugehen war.
Es war mithin ermessensfehlerhaft, zur Feststellung des Fortsetzungswillens noch ein erkennbares Zeichen und Tätigwerden des Beklagten zu erwarten. Die Voraussetzungen einer Wiedereinsetzung gemäß § 236 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 ZPO lagen vielmehr auch ohne eine solche Bekräftigung seines Fortsetzungswillens vor.
Dem Beklagten ist somit Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist zu gewähren. Diese Entscheidung kann das Revisionsgericht selbst treffen8. Die Wiedereinsetzung hat zur Folge, dass das angefochtene Urteil, durch das die Berufung als unzulässig verworfen worden ist, gegenstandslos wird9. Zur Klarstellung ist das Berufungsurteil dennoch aufzuheben10. Zugleich ist die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 ZPO).
Bundesgerichtshof, Versäumnisurteil vom 17. Januar 2013 – III ZR 168/12
- vgl. zum Gerichtsfehler als Ursache für die Fristversäumung BGH, Beschluss vom 16.10.2003 – IX ZB 36/03, WM 2003, 2478, 2479; MünchKomm-ZPO/Gehrlein, 4. Aufl., § 233 Rn. 48[↩]
- vgl. hierzu BGH, Urteil vom 26.01.1978 – VII ZB 20/77, VersR 1978, 449; MünchKomm-ZPO/Gehrlein aaO § 236 Rn. 14; Musielak/Grandel, ZPO, 9. Aufl., § 236 Rn. 6[↩]
- OLG Stuttgart, Urteil vom 24.04.2012 – 12 U 113/11[↩]
- vgl. BGH, Beschluss vom 29.09.1986 – AnwZ ((B[↩]
- vgl. BGH, Beschluss vom 15.01.1992 – XII ZB 135/91, NJW 1992, 1513 für die Ermessensvorschrift des § 3 ZPO; allgemein: MünchKomm-ZPO/Krüger, 4. Aufl., § 546 Rn. 14[↩]
- BGH, Beschluss vom 29.09.1986 aaO; BAG aaO S. 2709; MünchKomm-ZPO/Gehrlein, aaO, § 236 Rn. 16; Musielak/Grandel aaO Rn. 8[↩]
- vgl. BAG aaO[↩]
- BGH, Beschluss vom 08.10.1992 – V ZB 6/92, VersR 1993, 713, 714[↩]
- BGH, Beschlüsse vom 08.10.1986 – VIII ZB 41/84, BGHZ 98, 325, 328 mwN und vom 08.10.1992 aaO[↩]
- BGH, Beschluss vom 08.10.1992, juris Rn. 6, insoweit in VersR 1993, 713 nicht abgedruckt[↩]
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