Anwaltliche Belehrungspflichten bei einer vom Gericht empfohlenen Berufungsrücknahme

Der Berufungsanwalt darf dem Anraten, das Rechtsmittel zurückzunehmen, nicht folgen, ohne dass sein Mandant über die Möglichkeiten der Prozessordnung, gegen die vorläufige Auffassung des Gerichts sprechende tatsächliche und rechtliche Gesichtspunkte in der Instanz oder durch ein Rechtsmittel zur Geltung zu bringen, so aufgeklärt worden ist, dass er die wägbaren Prozessaussichten beurteilen kann. Der Rechtsanwalt muss seinen Mandanten angesichts einer empfohlenen Berufungsrücknahme über die wägbaren Prozessaussichten auch dann uneingeschränkt aufklären, wenn die Empfehlung auf dem mitgeteilten Beratungsergebnis eines Kollegialgerichts beruht.

Anwaltliche Belehrungspflichten bei einer vom Gericht empfohlenen Berufungsrücknahme

Den Mandatspflichten widerspricht die Annahme, der Rechtsanwalt dürfe der Anregung eines Kollegialgerichts zur Rechtsmittelrücknahme dann nicht folgen, wenn diese unvertretbar erscheine und der Rechtsweg noch nicht erschöpft sei1. Ein solcher Rechtssatz findet sich in der Rechtsprechung einzelner Oberlandesgerichte im Zusammenhang mit der anwaltlichen Stellungnahme zu gerichtlichen Vergleichsvorschlägen2 oder – wie hier – der gerichtlichen Empfehlung, die Berufung zurückzunehmen3. Der Bundesgerichtshof hat einen solchen Grundsatz bisher weder aufgestellt noch gebilligt. Er widerspricht vielmehr verschiedenen Aussagen seiner Rechtsprechung, an denen festzuhalten ist.

Den Berufungsanwalt trifft die Pflicht, eine vom Gericht im Verlauf der Instanz vertretene Rechtsansicht im Interesse seines Mandanten zu überprüfen, selbst wenn sie durch Nachweise von Rechtsprechung und Schrifttum belegt ist4. Eine solche Rechtsansicht erscheint dann nicht unvertretbar, kann aber trotzdem von Haus aus unrichtig oder überholt sein. Kommt ein solcher Fehler des Gerichts in Betracht, muss der Prozessanwalt die Möglichkeiten der Verfahrensordnung nutzen, um die zu Gunsten seines Mandanten sprechenden tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte so umfassend zur Geltung zu bringen, wie die Umstände es zulassen. Der Schutz des Mandanten gebietet es, dass diese Tatsachen und Argumente bei der gerichtlichen Entscheidung berücksichtigt werden können5.

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Unterbleibt eine solche Einwirkung auf das Gericht, weil der Mandant einer Rücknahme des Rechtsmittels zustimmt, so handelt der Prozessanwalt nur dann pflichtmäßig, wenn er zuvor den Mandanten zutreffend über die verbleibenden Möglichkeiten aufgeklärt hat, in der Instanz oder durch ein Rechtsmittel den Prozess zu einem günstigeren Ende zu bringen. Der Mandant muss gerade in einer solchen kritischen Lage die wägbaren Prozessaussichten beurteilen können.

Es entlastet den Rechtsanwalt in seiner Rechtsprüfung und Aufklärung des Mandanten auch nicht, dass ein mit drei Berufsrichtern besetztes Kollegialgericht die Erfolgsaussicht des eingelegten Rechtsmittels nach einer Beratung verneint hat. Die aus der Notarhaftung bekannten Grundsätze zur Entschuldigung eines Verhaltens, welches ein Kollegialgericht als objektiv rechtmäßig erachtet hat, können auf die Anwaltshaftung schon im Ansatz nicht übertragen werden. Das ist gesicherte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs6, von der abzurücken kein Anlass besteht.

Bundesgerichtshof, Urteil vom 11. April 2013 – IX ZR 94/10

  1. so aber OLG Bremen, Urteil vom 12.04.2010 – 3 U 78/09[]
  2. vgl. OLG Frankfurt, NJW 1988, 3269, 3270[]
  3. vgl. OLG Oldenburg, Urteil vom 01.06.2001 – 6 U 6/01, redaktioneller Leitsatz mit Anmerkung Borgmann abgedruckt in BRAKMitt.2001, 290[]
  4. BGH, Urteil vom 18.12.2008 – IX ZR 179/07, WM 2009, 324 Rn. 13 f[]
  5. vgl. BGH, aaO Rn. 8[]
  6. vgl. BGH, Urteil vom 31.10.1985 – IX ZR 175/84, WM 1986, 199, 202 f unter II.4.; vom 27.03.2003 – IX ZR 399/99, WM 2003, 1146, 1149 unter II.2. b[]
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