Auffahrunfall – und die Entkräftung des Anscheinsbeweises

Der gegen den Auffahrenden grundsätzlich sprechende Anscheinsbeweis ist entkräftet, wenn der Vorausfahrende im unmittelbaren örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Unfall vorher den Fahrstreifen gewechselt hat. Der zeitliche Zusammenhang zwischen dem Spurwechsel und dem Auffahren ist selbst dann noch nicht unterbrochen, wenn sich vorausfahrende Fahrstreifenwechsler zum Zeitpunkt der Kollision etwa fünf Sekunden auf dem Fahrstreifen des Auffahrenden befunden hat. Der Anscheinsbeweis zu Lasten eines von hinten auf ein in die Vorfahrtstraße einbiegendes Fahrzeugs setzt voraus, dass beide Fahrzeuge so lange in einer Spur hintereinander hergefahren sind, dass sie sich auf die vorangegangenen Fahrbewegungen hätten einstellen können.

Auffahrunfall – und die Entkräftung des Anscheinsbeweises

Wenn sich der Unfallhergang nach Beweisaufnahme als unaufklärbar darstellt, wirkt zu Lasten beider Unfallbeteiligten nur die Betriebsgefahr ihrer Fahrzeuge, was zu einer Quote von 50% zu 50% führt.

Im Rahmen der bei einem Verkehrsunfall zweier Kraftfahrzeuge erforderlichen Abwägung gemäß § 17 Absatz 1 StVG ist auf die Umstände des Einzelfalles abzustellen, insbesondere darauf, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder anderen Teil verursacht worden ist. Bei der Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensanteile der Fahrer der beteiligten Fahrzeuge sind unter Berücksichtigung der von beiden Fahrzeugen ausgehenden Betriebsgefahr nur unstreitige bzw. zugestandene und bewiesene Umstände zu berücksichtigen. Jeder Halter hat dabei die Umstände zu beweisen, die dem anderen zum Verschulden gereichen und aus denen er für die nach § 17 Absatz 1 u. 2 StVG vorzunehmende Abwägung für sich günstige Rechtsfolgen herleiten will1.

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Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 286 ZPO) berechtigt das Gericht, die im Prozess gewonnenen Erkenntnisse grundsätzlich nach seiner individuellen Einschätzung zu bewerten, wobei der Richter lediglich an die Denk- und Naturgesetze und sonstigen Erfahrungssätze gebunden ist2. Ein Verstoß gegen diese Grundsätze ist nicht erkennbar. Im Übrigen steht die Wiederholung der Beweisaufnahme außerdem gem. §§ 529, 531 ZPO nicht mehr in reinem Ermessen des Berufungsgerichts. Sie ist im Sinne eines gebundenen Ermessens vielmehr nur dann zulässig, wenn konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der erstinstanzlichen Feststellungen begründen und eine gewisse – nicht notwendig überwiegende – Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass im Fall einer Beweiserhebung die erstinstanzlichen Feststellungen keinen Bestand mehr haben werden, sich also ihre Unrichtigkeit herausstellt3. Es genügt nicht, wenn der Kläger seine Beweiswürdigung anstelle derjenigen des Landgerichts setzt.

Nach § 7 Abs. 5 StVO darf in allen Fällen ein Fahrstreifen nur gewechselt werden, wenn eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Dass der Kläger hier im zeitlichen Zusammenhang mit dem Unfall einen Fahrstreifenwechsel vorgenommen hat, ist zwischen den Parteien unstreitig. Wegen der hohen Anforderungen des § 7 Abs. 5 StVO käme es insoweit kraft Anscheinsbeweises grundsätzlich zu einer Vollhaftung des Spurwechslers und die Betriebsgefahr des Auffahrenden tritt vollständig zurück. Hierbei fehlt insoweit der gegen den Auffahrenden sprechende und den Anscheinsbeweis begründende typische Geschehensablauf4. Denn dieser ist entkräftet, wenn der Vorausfahrende wie hier im unmittelbaren örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Unfall den Fahrstreifen gewechselt hat, wobei der rechtliche Zusammenhang zwischen dem Spurwechsel und dem Auffahren noch nicht unterbrochen ist, wenn sich der Unfall ereignet, nachdem sich der Fahrstreifenwechsler etwa fünf Sekunden im Fahrstreifen des Auffahrenden befunden hat5.

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Für die parallele Fallgestaltung eines von hinten auf ein in die Vorfahrtstraße einbiegendes Fahrzeug setzt die Annahme eines Anscheinsbeweises etwa voraus, dass beide Fahrzeuge so lange in einer Spur hintereinander hergefahren sind, dass sie sich auf die vorangegangenen Fahrbewegungen hätten einstellen können6.

Ein Abstand von 10 bis 20 Metern lässt im Übrigen die Kausalität des Fahrstreifenwechsels für die Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs nicht entfallen.

Stellt sich der Unfallhergang hiernach trotz Beweisaufnahme als unaufklärbar dar, wirkt zu Lasten beider Unfallbeteiligten nur die Betriebsgefahr ihrer Fahrzeuge, was zu einer Quote von 50 % zu 50 % führt7.

Schleswig -Holsteinisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 7. Oktober 2022 – 7 U 51/22

  1. vgl. BGH, NZV 1996, S. 231[]
  2. vgl. Zöller/Greger, ZPO, 34. Aufl. § 286, Rn. 13[]
  3. vgl. Zöller/Heßler, a.a.O. § 529, Rn. 3[]
  4. vgl. OLG München, Urteil vom 23.03.2022 – 10 U 7411/21 e, BeckRS 2022, 6219, Rn. 16 bei Beck-online[]
  5. vgl. KG, Beschluss vom 06.05.2010 – 12 U 144/09, NJW-RR 2011, 28[]
  6. vgl. KG, Urteil vom 26.08.2004 – 12 U 195/03, BeckRS 2008, 14416[]
  7. vgl. OLG Frankfurt a. M., Urteil vom 09.10.2012 – 22 U 109/11, NJW-RR 2013, 664[]