Beiziehung von Strafakten im Zivilprozess

Gemäß § 432 Abs. 1 ZPO in Verbindung mit § 474 Abs. 1, § 479 Abs. 4 Sätze 2 und 3 StPO steht einer Partei grundsätzlich die Möglichkeit zur Verfügung, in einem anhängigen Zivilprozess (Teile von) Ermittlungs- beziehungsweise Strafakten beiziehen zu lassen. Nach § 474 Abs. 1 StPO ist den Gerichten grundsätzlich Akteneinsicht zu gewähren.

Beiziehung von Strafakten im Zivilprozess

Grundrechten der anderen Partei oder Dritter, insbesondere deren Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung nach Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG, kann dadurch Rechnung getragen werden, dass das Gericht nach Erhalt der angeforderten Akte unter Berücksichtigung von deren schutzwürdigen Interessen abwägt und so prüft, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang Informationen aus ihr im Zivilverfahren verwertet werden können; der Zugang zu den Informationen aus der beigezogenen Akte ist gegebenenfalls angemessen zu beschränken.

Maßgeblich für die Vorlagepflicht Dritter gemäß § 429 Satz 1 HS. 1, § 432 Abs. 3 ZPO ist, ob die beweisführungsbelastete Partei im Verhältnis zu ihnen einen Vorlegungsanspruch hat. Ob die Gegenpartei in Ermangelung der Voraussetzungen der §§ 422 f ZPO nicht zur Vorlage einer Urkunde verpflichtet ist, ist demgegenüber in Bezug auf Dritte nicht von Bedeutung.

Zieht ein Gericht eine Strafakte nicht bei, kann dies in entscheidungserheblicher Weise den Anspruch einer Partei aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzen.

Der Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG als grundrechtsgleiches Recht soll sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. In diesem Sinne gebietet Art. 103 Abs. 1 GG die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge. Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots verstößt – auch bei Kenntnisnahme des Vorbringens durch den Tatrichter – dann gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze mehr findet1. Das ist hier der Fall.

Weiterlesen:
Zurückverweisung durch das Berufungsgericht

In dem hier entschiedenen Fall hat es das Oberlandesgericht Nürnberg2 mit Recht als erheblich angesehen, ob und in welchem Umfang beziehungsweise wie oft die Beklagte unberechtigte Barabhebungen vom Postbankkonto des Klägers an Geldautomaten vornahm, wofür der Kläger die Darlegungs- und Beweislast zu tragen hat. Es hat jedoch den den formalen Anforderungen der §§ 430, 432 ZPO genügenden Beweisantrag des Klägers, den „Sonderband Bankauskunft“ der Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft beizuziehen, in dem sich Auszüge der Konten der Beklagten und ihres Sohnes für den Zeitraum von November 2014 bis Mai 2015 befinden, mit einer Begründung abgelehnt, die im Prozessrecht keine Stütze mehr findet.

Gemäß § 432 Abs. 1 ZPO in Verbindung mit § 474 Abs. 1, § 479 Abs. 4 Sätze 2 und 3 StPO steht einer Partei grundsätzlich die Möglichkeit zur Verfügung, in einem anhängigen Zivilprozess (Teile von) Ermittlungs- beziehungsweise Strafakten beiziehen zu lassen3. Die Beiziehung der Akten ist zulässig, wenn und soweit sich eine Partei unter Angabe der erheblichen Aktenteile auf diese Akten bezogen hat4. § 474 Abs. 1 StPO legt die Gewährung von Akteneinsicht an Gerichte als Regelfall fest; nach dem Willen des Gesetzgebers5 ist den Gerichten grundsätzlich Akteneinsicht zu gewähren6. Grundrechte der anderen Partei oder Dritter, insbesondere deren Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung nach Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG, stehen der Aktenbeiziehung und der Einsichtnahme in die beigezogene Akte durch die Gerichte in aller Regel nicht entgegen. Diesen Grundrechten kann vielmehr dadurch Rechnung getragen werden, dass im konkreten Fall das Gericht nach Erhalt der angeforderten Ermittlungs- oder Strafakte unter Berücksichtigung der schutzwürdigen Interessen der anderen Partei und gegebenenfalls Dritter abwägt und so prüft, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang Informationen aus ihr im Zivilverfahren verwertet werden können7; der Zugang zu den Informationen aus der beigezogenen Akte ist gegebenenfalls angemessen zu beschränken8.

Weiterlesen:
Beweislastumkehr bei groben Behandlungsfehlern

Ausgeschlossen ist ein Beweisantritt nach § 432 Abs. 1 ZPO nach Absatz 2 der Vorschrift, wenn der Beweisführer die Urkunde nach den gesetzlichen Vorschriften ohne Mitwirkung des Gerichts zu beschaffen imstande ist. Dieser Ausschlusstatbestand ist jedoch nicht erfüllt. Der Kläger hatte einen Antrag auf Einsichtnahme in den Sonderband „Bankauskunft“ der Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft Regensburg gestellt, der von dieser zurückgewiesen wurde. Hiergegen stellte der Kläger Antrag auf gerichtliche Entscheidung zum Amtsgericht Regensburg, den dieses mit der (Haupt)Begründung zurückwies, die Einsicht in den Sonderband sei zur Durchsetzung der Interessen des Klägers nicht erforderlich.

Dahinstehen kann, ob sich auch aus Absatz 3 der Vorschrift ein Ausschlusstatbestand ergeben kann9. Denn dass ein materiellrechtlicher Vorlegungsanspruch „gegen die Behörde“ besteht, wie es nach § 432 Abs. 3 ZPO erforderlich ist10, ist nicht auszumachen, und zudem hat der Kläger eine Verpflichtung zur Vorlegung nicht auf § 422 ZPO gestützt.

Somit bestehen grundsätzlich keine Hindernisse für eine Aktenbeiziehung nach § 432 Abs. 1 ZPO in Verbindung mit § 474 Abs. 1, § 479 Abs. 4 Sätze 2 und 3 StPO; der vorstehend unter Buchstaben aa beschriebene Anwendungsbereich dieser Vorschriften ist eröffnet. Dass die Voraussetzungen der §§ 422 f ZPO im Verhältnis zur Beklagten nicht vorliegen, ist ohne Belang.

Die demgegenüber vom Berufungsgericht – und soweit ersichtlich von niemandem sonst – vertretene Auffassung, die Vorschriften der §§ 422 f ZPO würden umgangen, wenn die Staatsanwaltschaft unabhängig von den Voraussetzungen dieser Bestimmungen zur Vorlage der in ihrem Besitz befindlichen Unterlagen durch das Zivilgericht aufgefordert werden könnte, weswegen die beantragte Anforderung des „Sonderbandes Bankauskunft“ abzulehnen sei, findet im Prozessrecht keine Stütze. Die Beschränkung der Vorlagepflicht der nicht beweisbelasteten Partei auf die Fälle der §§ 422 f ZPO ist Folge der Beweisführungslast ihres Gegners. Wäre die diese Last nicht tragende Partei gezwungen, ohne die besonderen Voraussetzungen der §§ 422 f ZPO in ihrem Besitz befindliche Urkunden vorzulegen, würde die Beweisführungslast zu ihrem Nachteil verkehrt, denn es besteht der Grundsatz, dass keine Partei gehalten ist, dem beweis(führungs)belasteten Gegner für seinen Prozesssieg das Material zu verschaffen, über das er nicht schon von sich aus verfügt11. Diese Erwägung trifft jedoch nicht zu im Verhältnis zu Dritten, die sich im Besitz einer Urkunde befinden. Maßgeblich für die Vorlagepflicht Dritter gemäß § 429 Satz 1 Halbsatz 1, § 432 Abs. 3 ZPO ist deshalb allein, ob die beweisführungsbelastete Partei im Verhältnis zu ihnen einen Vorlegungsanspruch hat. Ob die Gegenpartei in Ermangelung der Voraussetzungen der §§ 422 f ZPO nicht zur Vorlage einer Urkunde verpflichtet ist, ist demgegenüber in Bezug auf Dritte nicht von Bedeutung.

Weiterlesen:
Gerichtsstandsbestimmung bei Streitgenossen

Die (einschränkungslose) Ablehnung des Beweisantrags erweist sich auch nicht als richtig, weil ihm mangels durchgreifenden rechtlichen Interesses des Klägers keine Folge zu leisten wäre.

Da der Kläger vor Gericht zivilrechtliche Ansprüche gegen die Beklagte geltend macht, hat er grundsätzlich ein rechtliches Interesse an der Erlangung der mit der Aktenbeiziehung hierfür verfolgten Informationen12. Dem Grundrecht der Beklagten und ihres Sohnes auf informationelle Selbstbestimmung kann im konkreten Fall etwa dadurch Rechnung getragen werden, dass die Einsichtnahme des Klägers in den Sonderband der Ermittlungsakte nach Maßgabe der obigen Ausführungen auf (etwaige) zwischen dem 15.11.2014 und dem 31.05.2015 vorgenommene Einzahlungen auf die im Beweisantrag genannten Konten beschränkt und die Ermittlungsakte nur in diesem Umfang im vorliegenden Zivilverfahren verwertet wird.

Das rechtliche Interesse des Klägers kann nicht damit in Abrede gestellt werden, dass bloße Ausforschung betrieben würde beziehungsweise eine von vornherein aussichtslose Klage vorläge13. Denn das Berufungsgericht hat es bereits nach dem seinerzeitigen Sach- und Streitstand schon „für nicht unwahrscheinlich“ gehalten, „dass die Beklagte in der Zeit vom 15.11.2014 bis 19.04.2015 mehr Barabhebungen vom Postbankkonto des Klägers vorgenommen hat, als sie im Zivilverfahren zugibt“.

Das Berufungsurteil beruht auf dem Verfahrensfehler. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht bei einer Beweisaufnahme entsprechend den gesetzlichen Regeln des Urkundenbeweises eine dem Kläger günstigere Entscheidung getroffen hätte14. Denn wenn ein zeitlicher und größenordnungsmäßiger Zusammenhang zwischen den vom Postbankkonto des Klägers erfolgten Barabhebungen und Einzahlungen auf Konten der Beklagten oder deren Sohnes besteht, kann dies ein Indiz für die unrechtmäßige Abhebung und Verwendung der entsprechenden Beträge durch die Beklagte darstellen. Das gilt auch bezüglich der Frage, ob die vom Kläger geltend gemachte Forderung (auch) auf deliktische, Vorsatz voraussetzende Anspruchsgrundlagen gestützt werden kann – und bejahendenfalls auszusprechen ist, dass jene auf vorsätzlich begangener unerlaubter Handlung im Sinne des § 302 Nr. 1 InsO beruht.

Weiterlesen:
Das auf einzelne Fragen beschränkte Rechtsmittel

Unbeachtlich ist indessen, dass die Staatsanwaltschaft Regensburg die betreffenden Unterlagen nicht für ausreichend gehalten hat, um den hinreichenden Tatverdacht gegen die Beklagte zu begründen, und dass das dortige Amtsgericht in seinem abschlägigen Beschluss betreffend die Gewährung der Einsicht in den „Sonderband Bankauskunft“ durch den Kläger ausgeführt hat, die erteilten Bankauskünfte der Sparkasse der Beklagten seien so rudimentär, dass sich keine weiteren Erkenntnisse erzielen ließen. Ob die in dem Sonderband enthaltenen Unterlagen ergiebig für das Beweisthema sind, unterliegt der eigenständigen Würdigung durch das Zivilgericht.

Das angefochtene Urteil konnte daher vom Bundesgerichtshof nicht aufrechterhalten werden. Es war aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Da die Sache nicht zur Endentscheidung reif ist, musste sie zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden (§ 563 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 ZPO). 

Bundesgerichtshof, Urteil vom 16. März 2023 – III ZR 104/21

  1. stRspr, zB BGH, Beschluss vom 07.06.2018 – III ZR 210/17, WM 2018, 1252 Rn. 4; BGH, Beschlüsse vom 02.11.2021 – IX ZR 39/20, NJW-RR 2022, 69 Rn. 5; und vom 11.01.2022 – VIII ZR 33/20, WM 2022, 347 Rn. 13 f; jew. mwN[]
  2. OLG Nürnberg, Urteil vom 09.07.2021 – 15 U 2897/19[]
  3. vgl. BVerfG, [Kammer]Beschluss vom 12.11.2021 – 1 BvR 576/19 9[]
  4. vgl. BVerfG, NJW 2014, 1581 Rn. 22; BGH, Urteil vom 12.11.2003 – XII ZR 109/01, NJW 2004, 1324, 1325[]
  5. vgl. Regierungsentwurf des Strafverfahrensänderungsgesetzes 1999, BT-Drs. 14/1484, S. 26[]
  6. vgl. OLG Hamm, BB 2014, 526, 527 und 529[]
  7. vgl. BVerfG aaO Rn. 24 ff und 29[]
  8. vgl. BVerfG, NJW 2007, 1052[]
  9. dafür zB Feskorn in Zöller, ZPO, 34. Aufl., § 432 Rn. 2; Huber in Musielak/Voit, ZPO, 19. Aufl., § 432 Rn. 4; Seiler in Thomas/Putzo, ZPO, 43. Aufl., § 432 Rn. 1; Krafka in BeckOK-ZPO [1.12.2022], § 432 Rn. 3; Förster in Kern/Diehm, ZPO, 2. Aufl., § 432 Rn. 2; dagegen zB Ahrens in Wieczorek/Schütze, ZPO, 4. Aufl., § 432 Rn. 2; Preuß in Prütting/Gehrlein, ZPO, 14. Aufl., § 432 Rn. 2[]
  10. Förster aaO; Ahrens aaO[]
  11. vgl. BGH, Urteile vom 11.06.1990 – II ZR 159/89, VersR 1990, 1254, 1255; und vom 17.10.1996 – IX ZR 293/95, NJW 1997, 128, 129; siehe auch Schreiber in MünchKomm-ZPO, 6. Aufl., § 422 Rn. 1[]
  12. vgl. LG Kassel, NZV 2003, 437[]
  13. vgl. BGH, Beschluss vom 14.07.2015 – KVR 55/14, NJW 2015, 3648 Rn. 32[]
  14. vgl. BVerfG, [Kammer]Beschluss vom 09.07.1993 – 2 BvR 859/92 29[]
Weiterlesen:
Der Zivilprozess - und die Verletzung des allgemeinen Justizgewährungsanspruchs

Bildnachweis: