Ist ein Blinder oder stark Sehbehinderter an einem (Zivil-)Prozess beteiligt, so müssen Prozessunterlagen – trotz seines Verlangens – nur dann nicht in Blindenschrift zugänglich gemacht werden, wenn die Vermittlung durch den Rechtsanwalt gleichwertig ist

Aus dem Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG folgt der Auftrag, Menschen mit Behinderung so zu stellen, dass ihnen gleichberechtigte Teilhabe wie Menschen ohne Behinderung ermöglicht wird. Eine anwaltlich vertretene Person kann bei übersichtlichem Streitstoff grundsätzlich auf die Kenntnisvermittlung durch ihren Rechtsanwalt verwiesen werden. Die Fürsorgepflicht des Gerichts erfordert es aber, die Prozessunterlagen gleichwohl in Blindenschrift zugänglich zu machen, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Vermittlung durch den Rechtsanwalt nicht gleichwertig mit der unmittelbaren Kenntnis ist.
Der Ausganssachverhalt[↑]
Der Beschwerdeführer beantragte in einem zivilgerichtlichen Berufungsverfahren, die Prozessunterlagen auch in Blindenschrift zu erhalten. Das Landgericht Dresden wies den Antrag zurück1. Die – vom Landgericht zugelassene – Rechtsbeschwerde blieb vor dem Bundesgerichtshof ebenfalls ohne Erfolg2 ohne Erfolg. Eine blinde oder sehbehinderte Person habe keinen Anspruch aus § 191a GVG in der bis zum 30.06.2014 gültigen Fassung (im Folgenden: § 191a GVG a.F.) in Verbindung mit § 4 Abs. 1 der Verordnung zur barrierefreien Zugänglichmachung von Dokumenten für blinde und sehbehinderte Personen im gerichtlichen Verfahren (ZMV) auf Zugänglichmachung der Dokumente des gerichtlichen Verfahrens in einer für sie wahrnehmbaren Form, wenn sie in dem Verfahren – wie hier der Beschwerdeführer – durch einen Rechtsanwalt vertreten werde und der Streitstoff so übersichtlich sei, dass er ihr durch den Rechtsanwalt gut vermittelt werden könne.
Mit seiner gegen die gerichtlichen Entscheidungen gerichteten Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art.20 Abs. 3, von Art. 3 Abs. 3 Satz 2, Art.19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG.
Die Entscheidung des Bundesverfassunggsgerichts[↑]
Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, da ihr weder grundsätzliche Bedeutung zukommt, noch ihre Annahme zur Durchsetzung der Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg. Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG ist durch die angegriffenen Entscheidungen nicht verletzt.
Benachteiligungsverbot[↑]
Das Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG erschöpft sich nicht in der Anordnung, Menschen mit und ohne Behinderung rechtlich gleich zu behandeln. Vielmehr kann eine Benachteiligung auch vorliegen, wenn die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung im Vergleich zu derjenigen nicht behinderter Menschen durch gesetzliche Regelungen verschlechtert wird, die ihnen Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten vorenthalten, welche anderen offenstehen3.
Gesetzgeber und Rechtsprechung sind daher gefordert, bei Gestaltung und Auslegung der Verfahrensordnungen der spezifischen Situation einer Partei mit Behinderung so Rechnung zu tragen, dass ihre Teilhabemöglichkeit der einer nichtbehinderten Partei gleichberechtigt ist. Entsprechende Vorgaben enthält auch Art. 13 Abs. 1 der UN-Behindertenrechtskonvention4, die in Deutschland Gesetzeskraft hat (Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13.12 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen sowie zu dem Fakultativprotokoll vom 13.12 2006 zum Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen5) und als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte herangezogen werden kann6.
Umsetzung im Zivilprozess[↑]
Diesen Maßstäben werden die angegriffenen Entscheidungen im Ergebnis gerecht. Es ist zumindest dann mit Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG vereinbar, eine sehbehinderte Partei für den Zugang zu den Prozessunterlagen auf eine Vermittlung durch ihren Rechtsanwalt zu verweisen, wenn der Streitstoff übersichtlich ist und keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass seine Vermittlung durch den Rechtsanwalt nicht in einer Art und Weise erfolgt, die der unmittelbaren Zugänglichmachung gleichwertig ist. Danach ist es im konkreten Fall verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass dem Beschwerdeführer wegen seiner anwaltlichen Vertretung die Prozessunterlagen nicht in Blindenschrift übermittelt wurden.
Mit dem Wortlaut des – mit Wirkung zum 1.07.2014 allerdings insoweit geänderten – § 191a Abs. 1 GVG a.F. steht eine Beschränkung des Anspruchs auf Zugänglichmachung bei rechtsanwaltlicher Vertretung und einem übersichtlichen Streitgegenstand im Einklang, wenn der Anspruch der blinden oder sehbehinderten Person auf Zugänglichmachung dort unter die Voraussetzung gestellt wird, dass dies zur Wahrnehmung ihrer Rechte im Verfahren erforderlich ist. Auch der unverändert fortgeltende – § 4 Abs. 1 ZMV begrenzt, wenn auch weniger weitgehend, den Anspruch auf Zugänglichmachung. Danach besteht ein solcher Anspruch, soweit der berechtigten Person dadurch der Zugang zu den ihr zugestellten oder formlos mitgeteilten Dokumenten erleichtert und sie in die Lage versetzt wird, eigene Rechte im Verfahren wahrzunehmen7.
Der rechtliche Ausgangspunkt des Bundesgerichtshofs, wonach bei einer anwaltlichen Vertretung der nach § 191a Abs. 1 GVG a.F. berechtigten Person ein Anspruch auf Zugänglichmachung ausgeschlossen sein kann, ist mit Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG vereinbar. Eine gleichberechtigte Teilhabe am Prozess setzt nicht zwingend voraus, dass der sehbehinderten Partei die Prozessunterlagen in Blindenschrift vorliegen müssen. Ist der Streitstoff übersichtlich und die Partei anwaltlich vertreten, so ist grundsätzlich die Annahme gerechtfertigt, dass ihr der Prozessgegenstand ohne Informationsverlust und ohne eine Beschränkung ihrer Teilhabemöglichkeit von ihrem Rechtsanwalt vermittelt wird, zumal ihre Unterrichtung zu dessen Pflichten gehört (§ 675 Abs. 1 BGB i.V.m. § 666 BGB, § 11 BORA).
Die aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG folgende Verantwortung der Gerichte für die gleichberechtigte Teilhabemöglichkeit einer Person mit Behinderung endet – über die Entscheidung des Bundesgerichtshofs hinaus – aber nicht damit, dass sie durch einen Rechtsanwalt vertreten wird. Einem Verlangen auf Zugänglichmachung des Prozessstoffs ist daher weitergehend auch dann zu entsprechen, wenn dem Gericht im konkreten Fall Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Vermittlung trotz der Beschränktheit des Streitstoffs nicht in einer Art und Weise erfolgt, die der unmittelbaren Zugänglichmachung gleichwertig ist. Entsprechende Anhaltspunkte können von der berechtigten Person oder ihrem Rechtsanwalt dem Gericht gegenüber dargelegt werden, sich aber unabhängig davon auch aus eigener Wahrnehmung des Gerichts ergeben.
Damit ist – über die angegriffene Entscheidung des Bundesgerichtshofs hinaus – zugleich der Möglichkeit einer sehbehinderten Person zur Überwachung ihres Prozessbevollmächtigten, die der Bundesrat als Grund für die Streichung des im Entwurf des Bundesministeriums der Justiz noch vorgesehenen Erfordernisses einer Antragstellung durch den Prozessbevollmächtigten angeführt hat8, in angemessener Weise Rechnung getragen. Solange der sehbehinderten Partei durch ihren Rechtsanwalt der Prozessstoff vermittelt wird, hat sie in gleicher Weise wie eine nichtbehinderte Partei die Möglichkeit zur Kontrolle seiner Tätigkeit. Kommt ihr Prozessbevollmächtigter der Pflicht zur Kenntnisverschaffung hingegen nicht in ausreichender Weise nach, kann sie dies dem Gericht gegenüber vortragen und (erneut) die Zugänglichmachung der Prozessunterlagen verlangen; bei entsprechenden Anhaltspunkten muss das Gericht im Rahmen seiner Fürsorgepflicht dies von selbst veranlassen.
Die Entscheidung, ob von einer unmittelbaren Zugänglichmachung der Prozessunterlagen abgesehen werden kann, obliegt grundsätzlich den Fachgerichten und ist einer nur eingeschränkten Kontrolle durch das Verfassungsgericht zugänglich. Im Ausgangsfall begegnet sie keinen Bedenken. Nach den Feststellungen des Landgerichts war der Streitstoff so übersichtlich, dass er dem Beschwerdeführer durch seinen Rechtsanwalt gut vermittelbar war. Wenn Landgericht und Bundesgerichtshof daher davon ausgegangen sind, dass eine Zugänglichmachung der Prozessunterlagen auch in einer für den Beschwerdeführer unmittelbar wahrnehmbaren Form nicht erforderlich war, ist dies nicht zu beanstanden. Anhaltspunkte für eine gleichwohl nur unzureichende Kenntnisvermittlung durch seinen Prozessbevollmächtigten sind nicht ersichtlich und werden von dem Beschwerdeführer auch nicht dargelegt. Sein allgemeiner Hinweis, dass er nicht die gleiche Möglichkeit wie eine Partei ohne Behinderung gehabt habe, die Tätigkeit seines Bevollmächtigten zu überwachen, genügt insoweit nicht.
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 10. Oktober 2014 – 1 BvR 856/13
- LG Dresden, Beschluss vom 23.05.2012 – 8 S 596/11[↩]
- BGH, Beschluss vom 10.01.2013 – I ZB 70/12, NJW 2013, 1011[↩]
- vgl. BVerfGE 96, 288, 302 f.; 99, 341, 357; 128, 138, 156[↩]
- United Nations Treaty Series, vol. 2515, p. 3[↩]
- vom 21.12 2008, BGBl II S. 1419[↩]
- vgl. BVerfGE 111, 307, 317 f.; 128, 282, 306[↩]
- vgl. BSG, Beschluss vom 04.02.2014 – B 3 P 4/13 BH, BeckRS 2014, 66675 Rn. 3; Beschluss vom 18.06.2014 – B 3 P 2/14 B 15, Jacobs, in: Stein/Jonas, ZPO, 22. Aufl.2011, § 191a GVG Rn. 6; Kissel/Mayer, GVG, 7. Aufl.2013, § 191a Rn. 9; Lückemann, in: Zöller, ZPO, 30. Aufl.2014, § 191a Rn. 2; Zimmermann, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 4. Aufl.2013, § 191a GVG Rn. 6; Diemer, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 7. Aufl.2013, § 191a GVG Rn. 2; Meyer-Goßner, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 57. Aufl.2014, § 191a GVG Rn. 1; Wickern, in: Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl.2010, § 191a GVG Rn. 5[↩]
- vgl. BR-Drs. 915/06, S. 3; BR-Drs. 915/06 (Beschluss), S. 2[↩]