Der abgelehnte Befangenheitsantrag – und der "gesetzliche Richter"

101 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleistet den Einzelnen das Recht auf den gesetzlichen Richter und garantiert damit auch, dass Rechtsuchende im Einzelfall vor Richtern stehen, die unabhängig und unparteilich sind und die Gewähr für Neutralität und Distanz gegenüber den Verfahrensbeteiligten bieten1.

Der abgelehnte Befangenheitsantrag – und der "gesetzliche Richter"

Um dies zu gewährleisten, muss der Gesetzgeber in materieller Hinsicht dafür Vorsorge treffen, dass die Richterbank im Einzelfall nicht mit Richtern besetzt ist, die dem zur Entscheidung anstehenden Streitfall nicht mit der professionellen Distanz eines Unbeteiligten und Neutralen gegenüberstehen. Er muss daher Regelungen vorsehen, die es ermöglichen, Richtern, die im Einzelfall nicht die Gewähr der Unparteilichkeit oder Unvoreingenommenheit bieten, von der Ausübung des Amtes auszuschließen2.

Dem ist der Gesetzgeber mit den §§ 41 ff. ZPO nachgekommen.

Eine „Entziehung“ des gesetzlichen Richters im Sinne von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG aufgrund der Auslegung und Anwendung der gesetzlichen Regelungen über die Richterablehnung kann nicht in jeder fehlerhaften Rechtsanwendung gesehen werden; andernfalls müsste jede fehlerhafte Handhabung des einfachen Rechts zugleich als Verfassungsverstoß gelten. Die Grenzen zum Verfassungsverstoß sind erst überschritten, wenn die Auslegung und Anwendung des maßgeblichen einfachen Rechts willkürlich oder offensichtlich unhaltbar ist oder wenn die richterliche Entscheidung Bedeutung und Tragweite von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG grundlegend verkennt3.

Das gilt auch, wenn ein Ablehnungsgesuch infolge fehlerhafter Anwendung des einfachen Rechts zurückgewiesen wird4

Ob die Entscheidung eines Gerichts auf Willkür, also auf einem Fall grober Missachtung oder grober Fehlanwendung des Gesetzesrechts, beruht oder ob sie darauf hindeutet, dass ein Gericht die Bedeutung und Tragweite des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG grundlegend verkannt hat, kann nur anhand der besonderen Umstände des Einzelfalls beurteilt werden5.

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An diesem – zurückgenommenen – Maßstab gemessen verletzt der hier angegriffene Beschluss des Saarländischen Oberlandesgerichts6 den Beschwerdeführer nicht in seinem Anspruch auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, auch wenn die Anwendung des Fachrechts nicht in jeder Hinsicht unbedenklich ist:

Das Oberlandesgericht hat im rechtlichen Ausgangspunkt verfassungsrechtlich beanstandungsfrei § 42 Abs. 2 ZPO dahingehend ausgelegt, dass die Besorgnis der Befangenheit dann vorliegt, wenn ein objektiver Grund vorliegt, der die ablehnende Partei bei vernünftiger Betrachtung befürchten lassen muss, die abgelehnten Richter werden nicht unparteiisch entscheiden. Ohne Verstoß gegen Verfassungsrecht hat es für maßgeblich gehalten, ob vom Standpunkt des Ablehnenden aus genügende objektive Gründe vorliegen, die bei vernünftiger Betrachtung die Befürchtung wecken können, die Abgelehnten stünden der Sache nicht unvoreingenommen gegenüber. Zutreffend hat es angenommen, dass es nicht darauf ankomme, ob die abgelehnten Richter sich selbst für befangen halten. Die Auslegung des Oberlandesgerichts, sachlich fehlerhafte Entscheidungen oder der ablehnenden Partei ungünstige Rechtsauffassungen oder Verfahrensverstöße seien für sich genommen nicht für das Vorliegen einer Befangenheit bedeutsam, hält ebenfalls verfassungsrechtlicher Prüfung stand. Gleiches gilt für die nahezu in der gesamten Zivilrechtsprechung geteilte Auffassung, die Grenze zur Besorgnis der Befangenheit sei erst dort erreicht, wo das Vorgehen der abgelehnten Richter rechtliche Vorgaben in einer Weise überschritten, die den Eindruck einer sachwidrigen Benachteiligung vermittelten7. Das könne der Fall sein, wenn die Handhabung der Verfahrensweise der Abgelehnten einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage entbehre, sodass sich der betroffenen Partei der Eindruck aufdränge, die Fehlerhaftigkeit beruhe auf einer unsachlichen Einstellung gegenüber der betroffenen Partei oder auf Willkür. Mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG steht es in Einklang, dass das Oberlandesgericht eine derart fehlerhafte Handhabung des Verfahrens dann annehmen will, wenn es zu einer Häufung von Verfahrensverstößen oder anderen Verhaltensweisen der abgelehnten Richter kommt, die in ihrer Gesamtheit einen Grund für die Besorgnis der Befangenheit bilden können, was vor allem bei schweren Verstößen gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör oder auf ein faires Verfahren in Frage komme.

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Die Anwendung von § 42 Abs. 2 ZPO auf das Befangenheitsgesuch des Beschwerdeführers im angegriffenen Beschluss ist zwar nicht gänzlich frei von Bedenken. Sie erweist sich aber nicht als willkürlich. Auch hat das Oberlandesgericht die Bedeutung und die Tragweite der Garantie des gesetzlichen Richters im Ergebnis nicht grundlegend verkannt.

Soweit das Oberlandesgericht eine offensichtlich sachfremde oder willkürliche Vorgehensweise durch den Erlass der einstweiligen Anordnung vom 09.11.2020 ohne Abwarten der Stellungnahmefrist mit der Begründung verneint hat, es fehle an Anhaltspunkten für ein bewusstes Außerachtlassen der Frist, könnte dabei aus dem Blick geraten sein, dass es für die Beurteilung der Besorgnis der Befangenheit nicht auf die Sicht der abgelehnten Richterin und des abgelehnten Richters ankommt. Unter Berücksichtigung des Gesamtzusammenhangs der Gründe des Beschlusses vom 30.06.2022 lässt sich daraus aber nicht ableiten, dass das Oberlandesgericht den zuvor zutreffend bestimmten Maßstab des § 42 Abs. 2 ZPO aus dem Blick verloren hätte. Die fehlenden Anhaltspunkte für eine bewusste Missachtung der Frist hat das Oberlandesgericht noch erkennbar als Gesichtspunkt für das Gewicht des Verfahrensfehlers gewertet. Ausgehend von der beanstandungsfreien Rechtsauffassung des Oberlandesgerichts, dass es auf eine offensichtlich sachfremde oder willkürliche Verfahrensweise ankommt, bedeutet die Berücksichtigung in diesem Sinne noch keine grundlegende Verkennung der Bedeutung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.

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Entsprechendes gilt auch insoweit, als das Oberlandesgericht eine Besorgnis der Befangenheit nicht auf die Annahme besonderer Eilbedürftigkeit und die getroffene Sachentscheidung vom 09.11.2020, das Aufenthaltsbestimmungsrecht auf die Mutter zu übertragen, gestützt hat. Zwar hat der 6. Zivilsenat unter Mitwirkung seiner im hier gegenständlichen Unterhaltsverfahren abgelehnten Mitglieder gegen die Empfehlungen der im einstweiligen Sorgerechtsverfahren fachlich Beteiligten entschieden. Schon daraus folgten Zweifel an der Vereinbarkeit mit Verfassungsrecht8. Das Oberlandesgericht hat aber nach den für die Entscheidung über das Ablehnungsgesuch anzuwenden Maßstäben in noch vertretbarer Weise angenommen, dass angesichts des vom 06. Zivilsenat zu Grunde gelegten wahrscheinlichen Erfolges der im einstweiligen Sorgerechtsverfahren erhobenen Beschwerde der Mutter ein längerer Verbleib der Tochter bei den Großeltern väterlicherseits und in einem – offenbar – bilingualen Kindergarten deren Rückkehr in den mütterlichen Haushalt erschwert hätte. Für Sorgerechtsentscheidungen an vorhandene Bindungen oder ein drohendes Abbrechen von Bindungen sowie die daraus resultierenden Auswirkungen auf das betroffene Kind anzuknüpfen, ist im rechtlichen Ausgangspunkt nicht zu beanstanden9. Ob die vom 06. Zivilsenat getroffene vorläufige Sorgerechtsentscheidung einer Prüfung an dem Elternrecht des Beschwerdeführers aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG Stand gehalten hätte, konnte wegen der Erledigungserklärung des Beschwerdeführers nicht mehr geprüft werden. Jedenfalls lässt die – vom Oberlandesgericht im Zusammenhang mit der Bedeutung einer möglichen Diskriminierung des Beschwerdeführers getroffene – Wertung, das Abstellen auf mögliche Auswirkungen eines längeren Verbleibs der Tochter im Haushalt der Großeltern sei „nachvollziehbar“, angesichts der bei Sorgerechtsentscheidungen an sich sachgerechten Anknüpfung an die Bindungen des Kindes nicht den Schluss zu, es habe § 42 Abs. 2 ZPO insoweit in einer die Bedeutung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG grundlegend v Weise angewendet.

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Das Oberlandesgericht hat den Anspruch des Beschwerdeführers auf den gesetzlichen Richter auch nicht dadurch verletzt, dass es entgegen der Bewertung durch diesen selbst und in einem von ihm vorgelegten Rechtsgutachten eine Diskriminierung (vgl. Art. 3 Abs. 3 GG) sowie eine darauf gestützte Besorgnis der Befangenheit verneint hat. Bei Anwendung des hier geltenden zurückgenommenen Prüfungsmaßstabs konnte das Oberlandesgericht ohne Willkür und ohne die Bedeutung und Tragweite des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG grundlegend zu verkennen, annehmen, dass mit den vom Beschwerdeführer als diskriminierend erachteten Ausführungen des 6. Zivilsenats über die Anmeldung der Tochter in einem deutsch-amerikanischen Kindergarten sowie deren Einbindung in ein „anglo-deutsch geprägtes familiäres Umfeld“ in der Sache auf die Auswirkungen mehrfacher Veränderungen im Lebensumfeld und in den Bindungen der Tochter abgestellt werden sollte. Diese Deutung entfernt sich nicht derart weit von einem möglichen Verständnis des Beschlusses des 6. Zivilsenats, dass damit eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG einherginge. Durfte das Oberlandesgericht ohne Verstoß gegen Verfassungsrecht einen diskriminierenden Charakter der beanstandeten Passage verneinen, konnte sich daraus insoweit auch kein ausreichender Anhaltspunkt für eine Besorgnis der Befangenheit ergeben. Ob die Entscheidung des 6. Zivilsenats vom 09.11.2020 den Beschwerdeführer in seinem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG verletzte, wofür Anhaltspunkte bestehen9, ist nicht Gegenstand des hier vorliegenden Verfahrens.

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Bei Anlegen des zurückgenommenen Prüfungsmaßstabs liegt eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht darin, dass das Oberlandesgericht auch das gegen den abgelehnten Richter gerichtete Gesuch für unbegründet erklärt hat. Dem Beschwerdeführer ist zuzugeben, dass vor allem das Veranlassen einer einstweiligen Anordnung bereits vor Ablauf der von der früheren Vorsitzenden gewährten Stellungnahmefrist und kurz nach der vorübergehenden Übernahme des Vorsitzes durch den abgelehnten Richter im Hinblick auf die gebotene Unvoreingenommenheit nicht ohne Bedenken sind. Gleiches gilt für ein möglicherweise durch ihn zu verantwortendes Fehlen einer Dokumentation von Kommunikation mit der Verfahrensbevollmächtigten der Mutter im Verfahren 6 UF 153/20 im November 2020. Angesichts der völlig unterschiedlichen Verfahrensgegenstände und der nicht völlig identischen Beteiligten in dem vorgenannten Sorgerechtsverfahren einerseits sowie dem hier gegenständlichen Unterhaltsverfahren andererseits ist es jedoch noch nicht willkürlich, dass das Oberlandesgericht angenommen hat, es sei dem vorbefassten Richter grundsätzlich zuzutrauen, den neuen Fall ausschließlich nach sachlichen Kriterien zu lösen. Das entspricht im fachrechtlichen Ausgangspunkt der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu § 42 Abs. 2 ZPO10. Die Anwendung dieses Maßstabs durch das Oberlandesgericht geht hier trotz des nicht unbedenklichen Verhaltens des abgelehnten Richters nicht mit einer grundlegenden Verkennung der Bedeutung des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter einher.

Soweit der Beschwerdeführer sich in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) sowohl durch den Beschluss vom 30.06.2022 als auch den vom 22.09.2022 verletzt sieht, zeigt er die Möglichkeit einer solchen Verletzung nicht in einer den Anforderungen von § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG genügenden Weise auf. Letztlich beanstandet er insoweit, dass das Oberlandesgericht die zahlreichen von ihm für eine Besorgnis der Befangenheit vorgebrachten Umstände anders als er rechtlich gewürdigt hat. Das betrifft aber nicht das durch Art. 103 Abs. 1 GG Gewährleistete.

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Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 16. Februar 2023 – 1 BvR 1883/22

  1. vgl. BVerfGE 133, 168 <202 Rn. 62> m.w.N.; siehe auch BVerfG, Beschluss vom 21.11.2018 – 1 BvR 436/17, Rn. 17; Beschluss vom 01.07.2021 – 2 BvR 890/20, Rn. 14[]
  2. vgl. BVerfGE 21, 139 <145 f.> 89, 28 <36> stRspr[]
  3. vgl. BVerfGE 82, 286 <299>, 87, 282 <284 f.> stRspr[]
  4. vgl. BVerfG, Beschluss vom 01.07.2021 – 2 BvR 890/20, Rn. 15 m.w.N.[]
  5. vgl. BVerfG, Beschluss vom 21.11.2018 – 1 BvR 436/17, Rn.19; Beschluss vom 05.05.2021 – 1 BvR 526/19, Rn. 22 jeweils m.w.N.[]
  6. Saarl. OLG, Beschluss vom 30.06.2022 – 5 AR 3/22[]
  7. vgl. dazu BGH, Beschluss vom 22.06.2021 – AnwZ (B) 3/20, Rn. 7 m.w.N.[]
  8. vgl. BVerfG, Beschluss vom 29.12.2020 – 1 BvR 2562/20, Rn. 11[]
  9. vgl. BVerfG, Beschluss vom 15.11.2022 – 1 BvR 1667/22, Rn. 21[][]
  10. vgl. BGH, Beschluss vom 18.12.2014 – IX ZB 65/13, Rn. 11 f.; Beschluss vom 20.09.2016 – AnwZ (Brfg) 61/15 u.a., Rn. 8 und 13[]

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