Der abgelöste Sachverständige

Die Frage, ob das Berufungsgericht die sachlichen Voraussetzungen für die Beauftragung eines anderen Sachverständigen nach § 412 Abs. 1 ZPO zu Recht als gegeben angesehen hat, unterliegt nicht der Nachprüfung durch das Revisionsgericht.

Der abgelöste Sachverständige

Das Recht der Prozessparteien, die Ladung des gerichtlichen Sachverständigen zur mündlichen Erläuterung seines Gutachtens zu verlangen, bezieht sich nicht auf einen früheren – gleichsam „abgelösten“ – Sachverständigen, dessen Gutachten der Tatrichter für ungenügend erachtet und deshalb zum Anlass genommen hat, gemäß § 412 Abs. 1 ZPO einen anderen Sachverständigen zu beauftragen.

Die Anordnung der Beauftragung eines anderen Sachverständigen steht gemäß § 412 Abs. 1 ZPO (in Verbindung mit § 144 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 ZPO) im pflichtgemäßen Ermessen des Tatrichters1.

Die vorherige Anhörung des bisherigen Sachverständigen ist nicht geboten. Wenngleich es häufig zweckmäßig sein wird, vor der Beauftragung eines anderen Sachverständigen den Versuch zu unternehmen, bestehende Zweifel oder Lücken durch ein Ergänzungsgutachten oder eine mündliche Anhörung des bislang beauftragten Sachverständigen zu beheben2, ist es dem Tatrichter nicht versagt, sogleich einen anderen Sachverständigen zu beauftragen3, insbesondere dann, wenn die weitere Anhörung des bisherigen Sachverständigen keinen Aufklärungserfolg verspricht4. Demgemäß kann das Berufungsgericht auch ohne vorherige Anhörung des erstinstanzlichen Sachverständigen einen anderen Sachverständigen beauftragen, wenn es das Gutachten des erstinstanzlichen Sachverständigen für ungenügend erachtet. Zwar darf das Berufungsgericht nicht von dem Gutachten eines erstinstanzlich beauftragten gerichtlichen Sachverständigen oder der Würdigung dieses Gutachtens durch das erstinstanzliche Gericht abweichen, ohne die hierzu erforderliche Sachkunde darzulegen, die in der Regel – mangels eigener Sachkunde des (Berufungs-)Gerichts – nur durch entsprechende weitere sachverständige Beratung gewonnen werden kann5. So liegt es aber nicht, wenn das Berufungsgericht ohne vorherige Anhörung des erstinstanzlichen Sachverständigen einen anderen Sachverständigen beauftragt, weil es gewichtige Zweifel am erstinstanzlichen Sachverständigengutachten hegt. Das Berufungsgericht setzt sich bei dieser Verfahrensweise nicht ohne eigene Sachkunde und unter Verzicht auf sachkundige Beratung über das erstinstanzliche Gutachten und dessen Würdigung durch das Vordergericht hinweg, sondern verfolgt hiermit das Ziel, über einen anderen Sachverständigen weitergehende und bessere Sachkunde vermittelt zu bekommen. Neben der Anhörung des bisherigen Sachverständigen (§ 411 Abs. 3 ZPO) ist die Beauftragung eines anderen Sachverständigen (§ 412 Abs. 1 ZPO) ein taugliches Mittel, um Unklarheiten, Unvollständigkeiten und Zweifel auszuräumen und der damit verbundenen Pflicht zur weitergehenden Aufklärung nachzukommen6. Will sich der Tatrichter zur weiteren Aufklärung des letzteren Mittels bedienen, so handelt er nicht schon deshalb verfahrensfehlerhaft, weil er vor der Beauftragung eines anderen Sachverständigen auf die Anhörung des bisherigen Sachverständigen verzichtet.

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Abgesehen davon unterliegt die Frage, ob das Berufungsgericht die sachlichen Voraussetzungen für die Beauftragung eines anderen Sachverständigen nach § 412 Abs. 1 ZPO zu Recht als gegeben angesehen hat, nicht der Nachprüfung durch das Revisionsgericht. Durch eine solche Maßnahme wird die Erkenntnisgrundlage des Tatrichters erweitert und werden Verfahrensrechte der Prozessparteien nicht beeinträchtigt. Anders als das Unterbleiben der gebotenen Beauftragung eines anderen Sachverständigen7 stellt die etwa unnötige Beauftragung eines anderen Sachverständigen keinen mit der Revision rügefähigen Verfahrensfehler dar. Dies entspricht der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, wonach im Revisionsverfahren nicht zu prüfen ist, ob das Berufungsgericht das Vorliegen der Voraussetzungen für eine erneute Tatsachenfeststellung nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO zu Unrecht angenommen hat8.

Zwar darf der Tatrichter den Streit zwischen mehreren sachverständigen Gutachtern nicht dadurch entscheiden darf, dass er ohne einleuchtende und logisch nachvollziehbare Begründung einem von ihnen den Vorzug gibt; vorhandene weitere Aufklärungsmöglichkeiten müssen genutzt werden, wenn sie sich anbieten und Erfolg versprechen9.

Diesen Anforderungen hat in dem aktuellen Fall das Berufungsgericht nach Ansicht des Bundesgerichtshof aber genügt. Es hat aufgrund von gewichtigen Zweifeln am erstinstanzlichen Gutachten, die es in seinem Urteil näher dargelegt hat, einen anderen Sachverständigen beauftragt. Dieser hat sich in seinem Gutachten auftragsgemäß mit den Ausführungen des erstinstanzlichen Sachverständigen auseinandergesetzt. Er ist von Seiten des Berufungsgerichts und der Prozessparteien, insbesondere des Klägers, sodann mehrfach mit seinen Abweichungen vom erstinstanzlichen Sachverständigengutachten konfrontiert worden und hat hierzu im Einzelnen Stellung genommen, und zwar sowohl in schriftlichen Ergänzungsgutachten als auch während seiner mündlichen Befragung vor dem Berufungsgericht. Hiernach hat das Berufungsgericht unter eingehender Würdigung der Ausführungen des erstinstanzlichen Gutachters die Schadensberechnung des von ihm beauftragten zweiten Sachverständigen für überzeugend(er) angesehen und seiner Entscheidung zu Grunde gelegt.

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Dabei war das Berufungsgericht nicht verpflichtet, den erstinstanzlichen Gutachter zu laden; ohne Rechtsfehler hat es von dieser Ladung abgesehen. Die Ladung des erstinstanzlichen Gutachters war hier nicht schon deshalb geboten, weil das Gericht auf Antrag einer Partei unabhängig von § 411 Abs. 3 ZPO grundsätzlich verpflichtet ist, den (gerichtlichen) Sachverständigen zur mündlichen Erläuterung seines Gutachtens zu laden. Diese Pflicht besteht auch dann, wenn das Gericht das vorliegende schriftliche (Ergänzungs-)Gutachten für ausreichend und überzeugend hält und selbst keinen Bedarf für eine mündliche Erläuterung sieht. Denn die Partei hat zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) nach §§ 397, 402 ZPO einen Anspruch darauf, dass sie dem Sachverständigen die Fragen, die sie zur Aufklärung der Sache für erforderlich hält, zur mündlichen Beantwortung vorlegen kann10. Diese Pflicht erstreckt sich jedoch nicht auf einen früheren Sachverständigen, dessen Gutachten der Tatrichter für ungenügend erachtet und deshalb zum Anlass genommen hat, gemäß § 412 Abs. 1 ZPO einen anderen Sachverständigen zu beauftragen. Das Recht der Partei auf Ladung und Befragung des Sachverständigen dient dem Zweck der Wahrung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs in Bezug auf die sachverständige Beratung des Tatrichters als eine bedeutsame Grundlage der richterlichen Sachentscheidung. Hat das Gericht gemäß § 412 Abs. 1 ZPO einen anderen Sachverständigen beauftragt, so nimmt dieser anstelle des bisherigen Sachverständigen die Stellung des sachverständigen Beraters ein; dementsprechend beziehen sich die Frage- und Anhörungsbefugnisse der Prozessparteien auch (nur) auf seine – des „neuen“ Sachverständigen – Begutachtung. Die Parteien haben das Recht, die Ladung des nunmehr beauftragten, „neuen“ Sachverständigen zu verlangen. In Bezug auf den früheren, gleichsam „abgelösten“ Sachverständigen steht ihnen ein solcher Anspruch demgegenüber nicht zu, da dieser nicht mehr die Funktion eines sachverständigen Beraters des Gerichts innehat.

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Unbeschadet dessen hat der Tatrichter den früheren Sachverständigen allerdings dann zu laden, wenn und soweit dies zur weiteren Sachaufklärung, insbesondere zur Behebung von Lücken oder Zweifeln, erforderlich ist (§ 286 Abs. 1 ZPO).

Bundesgerichtshof, Urteil vom 4. November 2010 – III ZR 45/10

  1. BGH, Urteil vom 16.03.1999 – VI ZR 34/98, NJW 1999, 1778 f.[]
  2. siehe BGH, Urteil vom 18.05.2009 – IV ZR 57/08, NJW-RR 2009, 1192, 1193 Rn. 7; Zöller/Greger aaO § 412 Rn. 1; Musielak/Huber aaO § 412 Rn. 1; PG/Katzenmeier, ZPO, 2. Aufl., § 412 Rn. 1[]
  3. siehe BGH, Urteil vom 10.12.1991 – VI ZR 234/90, NJW 1992, 1459 f m.w.N.; Musielak/Huber aaO m.w.N.[]
  4. Zöller/Greger aaO[]
  5. siehe BGH, Urteile vom 08.06.1993 – VI ZR 192/92, NJW 1993, 2380, 2381; und vom 21.01.1997 – VI ZR 86/96, NJW 1997, 1446; siehe auch BGH, Urteile vom 21.06.2001 – III ZR 313/99, NJW 2001, 3054, 3056; vom 09.05.1989 – VI ZR 268/88, NJW 1989, 2948 f m.w.N.; und vom 12.01.2001 – V ZR 420/99, NJW-RR 2001, 732, 733; Zöller/ Greger aaO § 402 Rn. 7a; Musielak/Huber aaO § 411 Rn. 10[]
  6. siehe dazu etwa BGH, Urteile vom 06.03.1986 – III ZR 245/84, NJW 1986, 1928, 1930; vom 10.12.1991, aaO; und vom 15.06.1994 – IV ZR 126/93, NJW-RR 1994, 1112[]
  7. vgl. dazu Zöller/Greger aaO § 412 Rn. 4; PG/Katzenmeier aaO § 412 Rn. 6[]
  8. BGH, Urteil vom 09.03.2005 – VIII ZR 266/03, BGHZ 162, 313, 318 f.[]
  9. siehe BGH, Urteile vom 04.03.1980 – V ZR 6/79, VersR 1980, 533; vom 23.09.1986 – VI ZR 261/85, NJW 1987, 442; vom 20.07.1999 – X ZR 121/96, NJW-RR 2000, 44, 46; vom 24.09.2008 – IV ZR 250/06, NJW-RR 2009, 35 Rn. 11 m.w.N.; vom 03.12.2008 – IV ZR 20/06, NJW-RR 2009, 387, 388 Rn. 8; und vom 18. Mai 2009 aaO[]
  10. ständige Rechtsprechung, siehe etwa BGH, Urteile vom 05.07.2007 – III ZR 240/06, BGHZ 173, 98, 101 Rn. 10; und vom 07.10.1997 – VI ZR 252/96, NJW 1998, 162, 163 m.w.N.; sowie Beschlüsse vom 05.09.2006 – VI ZR 176/05, NJW-RR 2007, 212 Rn. 2; vom 22.05.2007 – VI ZR 233/06, NJW-RR 2007, 1294 Rn. 3, m.w.N.; und vom 14.07.2009 – VIII ZR 295/08, NJW-RR 2009, 1361, 1362 Rn. 10; Zöller/Greger aaO § 411 Rn. 5a; Musielak/Huber aaO § 411 Rn. 7, 9 – jeweils m.w.N.[]
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Wenn das Gericht dem Sachverständigen folgt…

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