Mit dem Vorliegen eines Gehörsverstoßes in einem Schadensersatzprozess hatte sich aktuell der Bundesgerichtshof zu befassen:

In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass Art. 103 Abs. 1 GG dann verletzt ist, wenn der Tatrichter Angriffs- oder Verteidigungsmittel einer Partei in offenkundig fehlerhafter Anwendung einer Präklusionsvorschrift zu Unrecht für ausgeschlossen erachtet hat1.
Nach den tatbestandlichen Feststellungen des erstinstanzlich mit dem vorliegenden Streitfall befassten Landgerichts Chemnitz war der Vortrag des Klägers zum Verdienstausfallschaden in erster Instanz unstreitig2. Diese tatbestandlichen Feststellungen erbringen gemäß § 314 Satz 1 ZPO Beweis für das Vorbringen der Parteien am Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz3. Das Oberlandesgericht Dresden4 hat erstmals in der mündlichen Berufungsverhandlung darauf hingewiesen, dass es das Bestreiten der Beklagten in zweiter Instanz berücksichtigen werde. Es hätte den daraufhin gehaltenen schriftsätzlichen Vortrag des Klägers nicht gemäß §§ 525, 296 Abs. 2 ZPO als verspätet zurückweisen dürfen.
Das Landgericht hat festgestellt, dass die Ausführungen des Klägers zum Verdienstausfallschaden in erster Instanz unbestritten geblieben sind. In den Entscheidungsgründen des erstinstanzlichen Urteils heißt es:
„Diese Umstände hätten bis zur Klageerhebung im September 2017 einen Gesamteinkommensverlust von 99.348,30 € zur Folge gehabt. Hiervon klagt der Kläger die Hälfte der Summe, 49.674,15 €, ein. Gegen diese Darlegungen haben sich die Beklagten nicht verwahrt, sie sind der Meinung, dem Kläger stünde überhaupt kein Anspruch zu, weil er den Unfall allein verschuldet habe.“
„Der Kläger hat seinen Verdienstausfall in der Klageschrift zum Klageantrag zu 1) ausführlich und unbestritten dargelegt.“
Obwohl sich diese Passagen in den Entscheidungsgründen des erstinstanzlichen Urteils finden, handelt es sich um tatbestandliche Feststellungen, deren Unrichtigkeit grundsätzlich nur im Berichtigungsverfahren nach § 320 ZPO geltend gemacht werden kann5. Diese Feststellungen stehen auch nicht im Widerspruch zu einer weiteren Passage im erstinstanzlichen Urteil, die lautet: „Die Beklagten berufen sich auf Verjährung und bestreiten die Unfallfolgen.“ Denn hier wird nur ein allgemeines Bestreiten festgestellt, das sich – wie sich aus den oben zitierten Passagen ergibt – gerade nicht auf den Vortrag des Klägers zur Höhe des Verdienstausfallschadens bezieht. Die Beweiskraft des Tatbestands wird im Streitfall auch nicht durch das Sitzungsprotokoll nach § 314 Satz 2 ZPO entkräftet6. Eine Berichtigung des Tatbestands nach § 320 ZPO ist nicht beantragt worden.
Vor diesem Hintergrund war das in der Berufungsbegründung enthaltene Bestreiten der Höhe des Verdienstausfallschadens durch die Beklagten als neues Verteidigungsmittel zu behandeln, das nur unter den Voraussetzungen des § 531 Abs. 2 ZPO zuzulassen ist. Das Berufungsgericht hat, ohne auf die Voraussetzungen des § 531 Abs. 2 ZPO einzugehen, den Parteien erstmals in der mündlichen Berufungsverhandlung mitgeteilt, dass es das Bestreiten der Beklagten berücksichtige und angesichts dessen ein Beweisantritt des Klägers zum Verdienstausfall fehle. Nach der Zulassung eines neuen Verteidigungsmittels nach § 531 Abs. 2 ZPO muss das Gericht dem Gegner jedoch ermöglichen, hierzu Stellung zu nehmen7. Dies hat das Berufungsgericht verkannt. Als Reaktion auf die Ausführungen des Berufungsgerichts hat der Kläger mit Schriftsätzen vom 12.02.und 4.04.2022 weiter vorgetragen. Diesen Vortrag hätte das Berufungsgericht nicht als verspätet gemäß §§ 525, 296 Abs. 2 ZPO zurückweisen dürfen.
Die Gehörsverletzung ist auch erheblich. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Berufungsgericht, hätte es berücksichtigt, dass die Zurückweisung des Vortrags des Klägers in den Schriftsätzen vom 12.02.und 4.04.2022 nach §§ 525, 296 Abs. 2 ZPO verfahrensfehlerhaft war, zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre.
Bundesgerichtshof, Beschluss vom 1. August 2023 – VI ZR 191/22
- vgl. BGH, Beschluss vom 03.03.2015 – VI ZR 490/13, NJW-RR 2015, 1278 Rn. 7 mwN[↩]
- LG Chemnitz, Urteil vom 29.01.2021 – 2 O 1169/17[↩]
- vgl. BGH, Urteil vom 22.12.2015 – VI ZR 101/14 48[↩]
- OLG Dresden, Urteil vom 20.05.2022 – 1 U 336/21[↩]
- vgl. BGH, Urteil vom 22.12.2015 – VI ZR 101/14 50; BGH, Urteil vom 13.07.2000 – I ZR 49/98, NJW 2001, 448, 449 21 mwN[↩]
- vgl. zu den Voraussetzungen BGH, Urteil vom 22.12.2015 – VI ZR 101/14[↩]
- vgl. Göertz in Anders/Gehle, ZPO, 81. Aufl., § 531 Rn. 26, § 530 Rn. 16; Zöller/Heßler, ZPO, 34. Aufl., § 530 Rn. 25, 16[↩]
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