Das Vollstreckungsgericht muss bei der Durchführung des Zwangsversteigerungsverfahrens unter Abwägung der Interessen der Beteiligten dem Umstand Rechnung tragen, dass die Fortführung des Zwangsversteigerungsverfahrens den Erfolg der Behandlung einer lebensbedrohlichen Erkrankung des Schuldners gefährdet.

Die Gefährdung des unter dem Schutz des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG stehenden Lebens des Schuldners durch die Versteigerung oder die Fortsetzung des Verfahrens ist ein im Zuschlagsbeschwerdeverfahren nach § 100 Abs. 1, 3 i.V.m. § 83 Nr. 6 ZVG von Amts wegen zu berücksichtigender Umstand1. Das bedeutet zwar nicht, dass die Zwangsversteigerung ohne Weiteres einstweilen einzustellen oder aufzuheben wäre, wenn die Fortführung des Verfahrens mit einer konkreten Gefahr für Leben und Gesundheit des Schuldners oder eines nahen Angehörigen verbunden ist2. Vielmehr ist zur Wahrung der ebenfalls grundrechtlich geschützten Interessen des Vollstreckungsgläubigers und des Erstehers zu prüfen, ob der Lebensgefährdung auch anders als durch eine Einstellung oder Aufhebung der Zwangsversteigerung wirksam begegnet werden kann3. Das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit verpflichtet die Vollstreckungsgerichte aber dazu, das Verfahren so durchzuführen, dass den verfassungsrechtlichen Schutzpflichten Genüge getan wird. Kann das Leben des Schuldners durch eine Vollstreckungsmaßnahme in Gefahr geraten, weil dieser unfähig ist, aus eigener Kraft oder mit zumutbarer fremder Hilfe die Konfliktsituation situationsangemessen zu bewältigen, muss das Vollstreckungsgericht diesen Umstand beachten und ihm bei der Durchführung des Verfahrens Rechnung tragen4. Das gilt nicht nur bei der Gefahr eines Suizids des Schuldners, sondern auch für den hier zu beurteilenden Fall, dass die Fortführung des Zwangsversteigerungsverfahrens den Erfolg der Behandlung einer lebensbedrohlichen Erkrankung des Schuldners gefährdet.
Diesen Anforderungen ist das Beschwerdegericht im Ergebnis nicht gerecht geworden.
Die Schuldner haben geltend gemacht, der Erfolg der Krebsbehandlung des Schuldners werde durch die Fortführung des Zwangsversteigerungsverfahrens gefährdet. Diesem Einwand ist das Beschwerdegericht, sachlich richtig, durch Einholung eines Gutachtens der den Schuldner behandelnden Ärzte nachgegangen. Die tatrichterliche Würdigung dieses Gutachtens ist zwar im Rechtsbeschwerdeverfahren nur eingeschränkt überprüfbar, in diesem Rahmen aber zu beanstanden.
Die Gutachterin kommt zu dem Ergebnis, die Fortführung des Zwangsversteigerungsverfahrens gefährde den Behandlungserfolg. Diese Einschätzung stützt sie darauf, dass der durch die Versteigerung drohende Verlust von Existenz und Wohnung die bei dem Schuldner ohnehin vorhandenen Depressionssymptome verstärke und den Krankheits- und Heilungsverlauf ungünstig beeinflusse. Diese Einschätzung der Gutachterin ist angreifbar, was die Gläubigerin zutreffend einwendet. Durch das vorliegende Zwangsversteigerungsverfahren werden weder die Existenzgrundlage noch die Wohnung der Schuldner bedroht. Versteigert werden soll ein Teileigentumsrecht der Schuldner in Bo. , nicht das Restaurant des Schuldners in Be. oder die Wohnung der Schuldner in N. . Das mag im Endergebnis dazu führen, dass der Behandlungserfolg durch das Verfahren nicht gefährdet ist.
Das Beschwerdegericht hat seine Entscheidung aber nicht auf diesen Gesichtspunkt gestützt. Es hat die Gefährdung des Behandlungserfolgs vielmehr dem allgemeinen Lebensrisiko des Schuldners zugeordnet und die Auffassung vertreten, dieser Gesichtspunkt könne eine Einstellung oder Aufhebung der Zwangsvollstreckung von vornherein nicht rechtfertigen. Das wird dem verfassungsrechtlichen Gebot des Lebensschutzes nicht gerecht. Eine lebensbedrohliche Erkrankung trifft den Schuldner zwar schicksalhaft. Dass ihre erfolgreiche Behandlung durch ein Zwangsversteigerungsverfahren ernsthaft gefährdet oder verhindert wird, lässt sich aber durch eine entsprechende Verfahrensgestaltung vermeiden. Das Vollstreckungsgericht hat dann die Maßnahmen zu ergreifen, die unter angemessener Berücksichtigung der Interessen des Gläubigers möglich sind, und beispielsweise das Zwangsversteigerungsverfahren vorübergehend einzustellen. In diese Prüfung ist das Beschwerdegericht rechtsfehlerhaft nicht mehr eingetreten.
Bundesgerichtshof, Beschluss vom 21. Juli 2011 – V ZB 48/10
- BGH, Beschlüsse vom 24.11.2005 – V ZB 99/05, NJW 2006, 505, 507 und vom 09.06.2011 – V ZB 319/10, WuM 2011, 475 Rn. 8[↩]
- BGH, Beschluss vom 04.05.2005 – I ZB 10/05, BGHZ 163, 66, 73; BGH, Beschluss vom 15.07.2010 – V ZB 1/10, NJW-RR 2010, 1649, 1650 f. Rn. 11 f.[↩]
- BGH, Beschlüsse vom 07.10.2010 – V ZB 82/10, NJW-RR 2011, 421, 422 Rn. 29 und vom 09.06.2011 – V ZB 319/10, aaO[↩]
- BGH, Beschlüsse vom 07.10.2010 – V ZB 82/10, NJW-RR 2011, 421, 422 Rn. 26[↩]
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