Der Produktfehler bei der Hüftprothese

Mit dem Vorliegen eines Produktfehlers bei einem gebrochenen Keramikinlay einer Hüftendoprothese hatte sich aktuell der Bundesgerichtshof zu befassen:

Der Produktfehler bei der Hüftprothese

In dem dieser Entscheidung zugrunde liegenden Fall nimmt eine Patientin die Herstellerin nach dem Bruch des Keramikinlays ihrer Hüfttotalendoprothese auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens in Anspruch. Der Patientin wurde am 10.08.2007 in einer Klinik eine von der beklagten Herstellerin hergestellte Hüfttotalendoprothese implantiert. Die Pfanne dieser Prothese bestand aus einem Keramikinlay aus dem Material F. mit dem Durchmesser 36 mm. Das Inlay war bei einer Lieferantin der Herstellerin produziert und bei der Herstellerin bzw. in einem Zulieferbetrieb durch Mitarbeiter der Herstellerin in eine Metallummantelung (sog. Hütchen) eingepresst worden. Die Prothese wurde am 25.07.2011 in der Klinik ausgewechselt, nachdem das Keramikinlay in dem Hütchen gebrochen war.

Das erstinstanzlich hiermit befasste Landgericht Potsdam hat unter anderem nach Einholung eines Gutachtens des Sachverständigen B. und dessen Anhörung die Klage abgewiesen1. Das Brandenburgische Oberlandesgericht hat nach Anhörung des Sachverständigen B. und Einholung eines Gutachtens des Sachverständigen K. und dessen Anhörung die Berufung der Patientin zurückgewiesen2. Die hiergegen gerichtete vom Brandenburgischen Oberlandesgericht zugelassene Revision der Patientin wies der Bundesgerichtshof als unbegründet zurück:

Der Patientin steht der geltend gemachte Anspruch auf materiellen und immateriellen Schadensersatz weder nach §§ 1, 3, 8, 9 ProdHaftG noch nach § 823 Abs. 1 BGB zu.

Das Brandenburgische Oberlandesgericht hat rechtsfehlerfrei angenommen, dass die Patientin nicht nachgewiesen hat, dass das von der Herstellerin hergestellte, der Patientin im Jahr 2007 implantierte und im Jahr 2011 nach einem Bruch des Keramikinlays ausgetauschte Produkt im Sinne des § 3 Abs. 1 ProdHaftG fehlerhaft war.

Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 ProdHaftG ist der Hersteller eines Produkts verpflichtet, demjenigen, dessen Körper oder Gesundheit durch den Fehler eines Produkts verletzt wird, den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen. Nach § 3 Abs. 1 ProdHaftG hat ein Produkt einen Fehler, wenn es nicht die Sicherheit bietet, die unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere seiner Darbietung, des Gebrauchs, mit dem billigerweise gerechnet werden kann, und des Zeitpunkts, in dem es in den Verkehr gebracht wurde, berechtigterweise erwartet werden kann. Die Sicherheit, die berechtigterweise erwartet werden kann, ist vor allem unter Berücksichtigung des Verwendungszwecks und der objektiven Merkmale und Eigenschaften des in Rede stehenden Produkts sowie der Besonderheiten der Benutzergruppe, für die es bestimmt ist, zu beurteilen3. Abzustellen ist also nicht auf die subjektive Sicherheitserwartung des jeweiligen Benutzers, sondern objektiv darauf, ob das Produkt diejenige Sicherheit bietet, die die in dem entsprechenden Bereich herrschende Verkehrsauffassung für erforderlich hält. Die nach § 3 Abs. 1 ProdHaftG maßgeblichen Sicherheitserwartungen beurteilen sich grundsätzlich nach denselben objektiven Maßstäben wie die Verkehrspflichten des Herstellers im Rahmen der deliktischen Haftung gemäß § 823 Abs. 1 BGB. Deshalb kann auch hier zwischen Fabrikations, Konstruktions- und Instruktionsfehlern, die im Rahmen der deliktischen Produkthaftung der Kategorisierung der konkreten Verkehrspflichten dient, unterschieden werden4. Für das Vorliegen eines Produktfehlers und den ursächlichen Zusammenhang zwischen Fehler und Schaden trägt nach § 1 Abs. 4 Satz 1 ProdHaftG der Geschädigte die Beweislast.

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Das Brandenburgische Oberlandesgericht hat das Vorliegen eines Fabrikationsfehlers ohne Rechtsfehler verneint. Entgegen der Auffassung der Revision hat das Brandenburgische Oberlandesgericht das Eingreifen eines Anscheinsbeweises im Streitfall nicht verkannt. Es ist auch rechtsfehlerfrei zu der Überzeugung gelangt, dass das Einsinken des Keramikinlays in die Metallummantelung keine Auswirkungen auf die Bruchsicherheit des Inlays hatte.

Die Frage, ob ein Anscheinsbeweis eingreift, unterliegt der Prüfung durch das Revisionsgericht5. Die Grundsätze über den Beweis des ersten Anscheins6 sind nur bei typischen Geschehensabläufen anwendbar, das heißt in Fällen, in denen ein Sachverhalt feststeht, der nach der allgemeinen Lebenserfahrung auf eine bestimmte Ursache oder auf einen bestimmten Ablauf als maßgeblich für den Eintritt eines bestimmten Erfolgs hinweist7. Im Streitfall fehlt es an einem festgestellten typischen Geschehensablauf, der auf einen bestimmten Fehler im Sinne des § 3 Abs. 1 ProdHaftG als Ursache des Bruches hinweist. Etwas anderes ergibt sich – entgegen der Auffassung der Revision – auch nicht aus dem Gutachten des Sachverständigen K. Dieser hat ausgeführt, die höhere Ausfallrate von Keramikinlays der Herstellerin aus dem Material F. der Größe 36 mm gegenüber gleichartigen Keramikinlays der Herstellerin kleinerer Größen werde wahrscheinlich durch eine ungenügend kontrollierte bzw. reproduzierbare Fertigung und/oder eine für Medizinprodukte ungenügende Qualitätskontrolle hervorgerufen. Er hat weiter angeführt, die Ausfallrate sei zudem begünstigt durch eine dünne Pfannen- und Inlaywandstärke. Damit hat der Sachverständige K. jedoch nur mögliche Defizite im Herstellungsprozess der Herstellerin als etwaige Ursachen des Bruchs aufgezeigt.

Revisionsrechtlich nicht zu beanstanden ist, dass das Brandenburgische Oberlandesgericht seine Überzeugung, dass kein für den Bruch des Inlays kausaler Fabrikationsfehler vorliegt, aufgrund des Gutachtens des Sachverständigen B. gewonnen hat. Auf dieser Grundlage hat das Brandenburgische Oberlandesgericht angenommen, dass es keine Auswirkungen auf die Bruchsicherheit des implantierten Keramikinlays hatte, dass das Inlay zum Zeitpunkt der Explantation um 0, 65 mm in die Metallummantelung eingesunken war. Das Brandenburgische Oberlandesgericht war nicht gehalten, den Sachverständigen B. nochmals anzuhören oder ein weiteres Sachverständigengutachten einzuholen.

Die Einholung eines weiteren Gutachtens steht im pflichtgemäßen Ermessen des Tatrichters (§ 412 Abs. 1 ZPO). Sie ist geboten, wenn die Sachkunde des bisherigen Gutachters zweifelhaft ist, das Gutachten von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht, es Widersprüche enthält oder der neue Sachverständige über Forschungsmittel verfügt, die denen des früheren Gutachters überlegen erscheinen8. Unter Berücksichtigung des Vorbringens der Revision ist nicht erkennbar, dass das Brandenburgische Oberlandesgericht sein Ermessen in diesem Sinn fehlerhaft ausgeübt hätte. Das Brandenburgische Oberlandesgericht war auch nicht gehalten, den Sachverständigen B., den es bereits angehört hatte, nochmals anzuhören, § 411 Abs. 3 ZPO. Von einer näheren Begründung wird, auch hinsichtlich der in diesem Zusammenhang weiter erhobenen Verfahrensrügen, die der Bundesgerichtshof geprüft hat und für nicht durchgreifend erachtet, abgesehen (§ 564 Satz 1 ZPO).

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Das Brandenburgische Oberlandesgericht hat zu Recht das Vorliegen eines Konstruktionsfehlers verneint. Die Revision wendet sich ohne Erfolg gegen dessen Bewertung, dass das Produkt dem gebotenen Sicherheitsstandard entsprochen habe. Das Brandenburgische Oberlandesgericht hat einen Konstruktionsfehler rechtsfehlerfrei weder darin gesehen, dass die Herstellerin zur Herstellung des Keramikinlays das Material F. verwendete, noch darin, dass das streitgegenständliche Produkt gegenüber Keramikinlays kleinerer Größen ein höheres Bruchrisiko aufweist, und auch nicht darin, dass es überhaupt zu einem Bruch kam.

Ein Konstruktionsfehler liegt vor, wenn das Produkt schon seiner Konzeption nach unter dem gebotenen Sicherheitsstandard bleibt. Zur Gewährleistung der erforderlichen Produktsicherheit hat der Hersteller bereits im Rahmen der Konzeption und Planung des Produkts diejenigen Maßnahmen zu treffen, die zur Vermeidung einer Gefahr objektiv erforderlich und nach objektiven Maßstäben zumutbar sind9. Erforderlich sind die Sicherungsmaßnahmen, die nach dem im Zeitpunkt des Inverkehrbringens des Produkts vorhandenen neuesten Stand der Wissenschaft und Technik konstruktiv möglich sind und als geeignet und genügend erscheinen, um Schäden zu verhindern. Die Möglichkeit der Gefahrvermeidung ist gegeben, wenn nach gesichertem Fachwissen der einschlägigen Fachkreise praktisch einsatzfähige Lösungen zur Verfügung stehen. Hiervon kann grundsätzlich erst dann ausgegangen werden, wenn eine sicherheitstechnisch überlegene Alternativkonstruktion zum Serieneinsatz reif ist10.

Nach diesen Grundsätzen hat das Brandenburgische Oberlandesgericht einen Konstruktionsfehler rechtsfehlerfrei verneint.

Ohne Erfolg rügt die Revision, die Herstellerin hätte bei der Produktion des der Patientin im Jahr 2007 implantierten Keramikinlays das Material D. statt des Materials F. verwenden müssen. Denn nach den Feststellungen des Brandenburgischen Oberlandesgerichts fehlt es am Nachweis, dass das Material D. mehr Sicherheit vor einem Bruch des Keramikinlays geboten hätte als das Material F. Auf der Grundlage der Ausführungen des Sachverständigen K. hat das Brandenburgische Oberlandesgericht angenommen, dass das Material D. retrospektiv betrachtet die Erwartungen an eine geringere Bruchrate nicht erfüllt hat. Dies greift die Revision nicht an. Ist jedoch davon auszugehen, dass bei Verwendung des Materials D. tatsächlich keine Verbesserung der Bruchrate eingetreten wäre, stellt dieses Material zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens des Produkts keine sicherheitstechnisch überlegene Alternative gegenüber dem Material F. dar11.

Das Brandenburgische Oberlandesgericht ist ohne Rechtsfehler davon ausgegangen, dass die Herstellerin das streitgegenständliche Keramikinlay der Größe 36 mm auch angesichts eines gegenüber Keramikinlays aus demselben Material kleinerer Größen höheren Bruchrisikos in den Verkehr bringen durfte.

Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Brandenburgischen Oberlandesgerichts geht mit Keramikinlays der Größe 36 mm gegenüber Keramikinlays kleinerer Größen der Nachteil einher, dass die Pfanne und damit das Keramikinlay dünnwandiger gestaltet werden muss, wobei ein Keramikinlay umso eher brechen kann, je dünnwandiger es ist. Auf der Grundlage des Gutachtens des Sachverständigen K. hat das Brandenburgische Oberlandesgericht festgestellt, dass Keramikinlays der Größe 36 mm aus dem Material F. auch tatsächlich eine höhere Bruchrate aufweisen (0,82 %) als Keramikinlays aller Größen (0,2 %). Brüche von Inlays der Größe 36 mm aus dem Material F. sind nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Brandenburgischen Oberlandesgerichts jedoch erst im Jahr 2009 bekannt geworden. Eine erhöhte Bruchrate des streitgegenständlichen Inlays gegenüber Inlays anderer Hersteller derselben Größe und aus demselben Material hat das Brandenburgische Oberlandesgericht allerdings nicht feststellen können; hierfür fehlt es nach den Ausführungen des Sachverständigen K., denen das Brandenburgische Oberlandesgericht gefolgt ist, an einer geeigneten Datenbasis.

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Sind bestimmte mit der Produktnutzung einhergehende Risiken – hier ein höheres Bruchrisiko – nach dem maßgeblichen Stand von Wissenschaft und Technik nicht zu vermeiden, ist unter Abwägung von Art und Umfang der Risiken, der Wahrscheinlichkeit ihrer Verwirklichung und des mit dem Produkt verbundenen Nutzens zu prüfen, ob das gefahrträchtige Produkt überhaupt in den Verkehr gebracht werden darf12. Bei der erforderlichen Abwägung hat das Brandenburgische Oberlandesgericht – entgegen der Ansicht der Revision – zu Recht nicht nur die höhere Bruchrate von Keramikinlays der Größe 36 mm aus dem Material F. im Vergleich zu der von Inlays aus demselben Material kleinerer Größen berücksichtigt. Es hat auch den mit dem Produkt verbundenen Nutzen in seine Bewertung einbezogen. Hierzu hat es aufgrund des Gutachtens des Sachverständigen B. festgestellt, dass mit der Verwendung größerer Pfannen- und Kugeldurchmesser als 28 mm insbesondere der Vorteil eines erweiterten Bewegungsausmaßes der Kugel in der Pfanne verbunden ist und gleichzeitig das Risiko einer Luxation (Ausrenken) vermindert wird. Das Brandenburgische Oberlandesgericht hat weiter festgestellt, dass der Operateur die Entscheidung, ob eine Gleitpaarung der Größe 36 mm oder kleiner geeignet ist, regelmäßig nach den physiologischen Voraussetzungen des Patienten trifft; er wägt ab, ob der Patient wegen seiner größeren Beweglichkeit den mit dem größeren Durchmesser der Gleitpaarung verbundenen Schutz vor einer Luxationsgefahr benötigt. Aufgrund dieser Umstände, einer gegenüber vergleichbaren Produkten anderer Hersteller nicht feststellbar erhöhten Bruchrate und erstmals im Jahr 2009 bekannt gewordener Brüche hat das Brandenburgische Oberlandesgericht ohne Rechtsfehler angenommen, dass das streitgegenständliche Inlay nicht schon seiner Konzeption nach unter dem bei seinem Inverkehrbringen gebotenen Sicherheitsstandard blieb. Soweit die Revision in diesem Zusammenhang Verfahrensrügen erhoben hat, hat der Bundesgerichtshof diese geprüft und nicht für durchgreifend erachtet. Von einer näheren Begründung wird abgesehen (§ 564 Satz 1 ZPO).

Einen Konstruktionsfehler hat das Brandenburgische Oberlandesgericht zu Recht auch nicht schon deshalb angenommen, weil das Inlay überhaupt gebrochen ist. Nach den tatbestandlichen Feststellungen des Brandenburgischen Oberlandesgerichts ist unstreitig, dass zum Zeitpunkt der Implantation der Hüftprothese bei der Patientin im August 2007 bei Keramik/Keramik-Gleitpaarungen Brüche der Pfannen nicht gänzlich ausgeschlossen waren und es deshalb auch nicht den berechtigten Sicherheitserwartungen im Sinne des § 3 Abs. 1 ProdHaftG entsprach, dass Brüche des Keramikinlays niemals vorkommen würden.

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Auch einen Instruktionsfehler hat das Brandenburgische Oberlandesgericht rechtsfehlerfrei verneint. Die Herstellerin musste beim Inverkehrbringen des Produkts nicht vor einer erhöhten Bruchanfälligkeit des Produkts warnen.

Der Hersteller hat zur Gewährleistung der erforderlichen Produktsicherheit diejenigen Maßnahmen zu treffen, die nach den Gegebenheiten des konkreten Falles zur Vermeidung einer Gefahr objektiv erforderlich und nach objektiven Maßstäben zumutbar sind. Lassen sich mit der Verwendung eines Produkts verbundene Gefahren nach dem Stand von Wissenschaft und Technik durch konstruktive Maßnahmen nicht vermeiden oder sind konstruktive Gefahrvermeidungsmaßnahmen dem Hersteller nicht zumutbar und darf das Produkt trotz der von ihm ausgehenden Gefahren in den Verkehr gebracht werden, so ist der Hersteller grundsätzlich verpflichtet, die Verwender des Produkts vor denjenigen Gefahren zu warnen, die bei bestimmungsgemäßem Gebrauch oder naheliegendem Fehlgebrauch drohen und die nicht zum allgemeinen Gefahrenwissen des Benutzerkreises gehören. Denn den Verwendern des Produkts muss eine eigenverantwortliche Entscheidung darüber ermöglicht werden, ob sie sich in Anbetracht der mit dem Produkt verbundenen Vorteile den mit seiner Verwendung verbundenen Gefahren aussetzen wollen. Sie müssen darüber hinaus in die Lage versetzt werden, den Gefahren soweit wie möglich entgegenzuwirken13. Inhalt und Umfang der Instruktionspflichten im Einzelfall werden wesentlich durch die Größe der Gefahr und das gefährdete Rechtsgut bestimmt. Je größer die Gefahren sind, desto höher sind die Anforderungen, die in dieser Hinsicht gestellt werden müssen. Ist durch ein Produkt die Gesundheit oder die körperliche Unversehrtheit von Menschen bedroht, ist schon dann eine Warnung auszusprechen, wenn aufgrund eines ernst zu nehmenden Verdachts zu befürchten ist, dass Gesundheitsschäden entstehen können14.

Einen solchen ernst zu nehmenden Verdacht, der eine Instruktionspflicht auslöst, hat das Brandenburgische Oberlandesgericht rechtsfehlerfrei verneint. Die Prothese wurde der Patientin im August 2007 implantiert. Brüche von Keramikinlays aus dem Material F. der Größe 36 mm, die die Herstellerin seit dem Jahr 2005 verwendete, wurden nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Brandenburgischen Oberlandesgerichts erstmals im Jahr 2009 bekannt. Die abstrakte Erkenntnis, dass ein Keramikinlay umso eher brechen kann, je dünnwandiger es ist, und dass Inlays der Größe 36 mm dünnwandiger hergestellt werden als Inlays kleinerer Größen, hat das Brandenburgische Oberlandesgericht zu Recht nicht ausreichen lassen. Rechtsfehlerfrei hat es auch berücksichtigt, dass das Produkt der Herstellerin die durchgeführten Bersttests bestanden hat.

Die Patientin kann ihren Anspruch auch nicht auf die Grundsätze der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 05.03.201515 zu dem durch Fehler bei anderen Produkten derselben Gruppe oder Produktionsserie gefestigten Fehlerverdacht beim konkreten Produkt stützen. Es kann offen bleiben, ob ein Produktfehler nach diesen Grundsätzen zu bejahen wäre, denn er wäre für den geltend gemachten Schaden jedenfalls nicht kausal.

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Der Entscheidung des Unionsgerichtshofs lagen Fälle zugrunde, in denen der Austausch von Herzschrittmachern und implantierbaren Cardioverten Defibrillatoren vorsorglich zur Beseitigung einer Lebensgefahr im Fall des – noch nicht eingetretenen – Ausfalls dieser Geräte erfolgte16. Der Unionsgerichtshof hat ausgeführt, dass bei medizinischen Geräten wie Herzschrittmachern und implantierbaren Cardioverten Defibrillatoren die Anforderungen an ihre Sicherheit, die die Patienten zu erwarten berechtigt seien, in Anbetracht ihrer Funktion und der Situation besonderer Verletzlichkeit der diese Geräte nutzenden Patienten besonders hoch seien. Bei Produkten wie diesen bestehe der potenzielle Mangel an Sicherheit, der die Haftung des Herstellers auslöse, in ihrem außergewöhnlichen Schadenspotential für die betroffene Person. Daher könnten im Fall der Feststellung eines potenziellen Fehlers solcher Produkte derselben Produktgruppe oder Produktionsserie alle Produkte dieser Gruppe oder Serie als fehlerhaft eingestuft werden, ohne dass ein tatsächlicher Fehler des konkreten Produkts nachgewiesen zu werden brauche17.

Nach dem Vortrag der Patientin führte der Bruch des Keramikinlays zu einer Fehlfunktion ihrer Prothese. Die daraufhin erfolgte Austauschoperation diente der Beseitigung dieser Fehlfunktion und nicht der Beseitigung der Gefahr eines künftigen Ausfalls des Produkts. Soweit die Revision dennoch meint, es liege ein einem tatsächlichen Fehler gleichzustellender gefestigter Fehlerverdacht bei dem konkreten Produkt im Sinne der Rechtsprechung des Unionsgerichtshofs vor, macht sie einen Umstand geltend, der nicht kausal für die eingetretene Körperverletzung, also die Primärverletzung im Sinne des § 1 Abs. 1 ProdHaftG, war18. Ein für die Primärverletzung nicht kausaler Produktfehler kann die Haftung der Herstellerin jedoch nicht begründen19. Auf die Frage, ob die Rechtsprechung des Unionsgerichtshofs zu Herzschrittmachern und implantierbaren Cardioverten Defibrillatioren auf Gefahren übertragbar ist, die von anderen implantierbaren Produkten wie Hüftendoprothesen ausgehen, kommt es im Streitfall daher nicht an20.

Ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union (Art. 267 Abs. 3 AEUV) zur Auslegung des Art. 6 Abs. 1 Richtlinie 85/374/EWG im Hinblick auf seine Rechtsprechung zum potentiellen Fehler bei Herzschrittmachern und implantierbaren Cardioverten Defibrillatioren bedarf es – entgegen der Auffassung der Revision – nicht.

Nach den vorstehenden Ausführungen kommt auch ein Anspruch aus § 823 Abs. 1 BGB nicht in Betracht.

Bundesgerichtshof, Urteil vom 1. August 2023 – VI ZR 82/22

  1. LG Potsdam, Urteil vom 09.04.2016 – 4 O 109/12[]
  2. OLG Brandenburg, Urteil vom 16.02.2022 – 4 U 193/16, ZfPC 2022, 134[]
  3. EuGH, NJW 2015, 1163 Rn. 38[]
  4. vgl. BGH, Urteil vom 16.06.2009 – VI ZR 107/08, BGHZ 181, 253 Rn. 12 mwN[]
  5. BGH, Urteile vom 18.05.2005 – VIII ZR 368/03, NJW 2005, 2395, 2397 27; vom 05.10.2004 – XI ZR 210/03, BGHZ 160, 308, 313 22[]
  6. zur Anwendbarkeit im Rahmen des § 1 Abs. 4 ProdHaftG: Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drs. 11/5520, S. 13; MünchKomm-BGB/Wagner, 8. Aufl., § 1 ProdHaftG Rn. 80; Katzenmeier/Voigt, ProdHaftG, 7. Aufl., § 1 Rn. 94; zur Vereinbarkeit nationaler Beweisregeln mit Art. 4 der Richtlinie 85/374/EWG des Rates vom 25.07.1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte vgl. EuGH, NJW 2017, 2739[]
  7. BGH, Urteil vom 01.10.2013 – VI ZR 409/12, NJW-RR 2014, 270 Rn. 14; BGH, Urteil vom 18.12.2019 – XII ZR 13/19, VersR 2020, 636 Rn. 32[]
  8. BGH, Urteil vom 16.03.1999 – VI ZR 34/98, NJW 1999, 1778 f. 8 mwN[]
  9. vgl. BGH, Urteil vom 16.06.2009 – VI ZR 107/08 , NJW 2009, 2952 Rn. 15 mwN[]
  10. vgl. BGH, Urteil vom 16.06.2009 – VI ZR 107/08 , BGHZ 181, 253 Rn. 16 mwN[]
  11. vgl. zur Maßgeblichkeit nachträglicher Erkenntnisse im Arzthaftungsrecht BGH, Urteil vom 18.03.2003 – VI ZR 266/02, NJW 2003, 1862, 1863 11[]
  12. BGH, Urteil vom 16.06.2009 – VI ZR 107/08, BGHZ 181, 253 Rn. 17 mwN[]
  13. BGH, Urteil vom 16.06.2009 – VI ZR 107/08, BGHZ 181, 253 Rn. 23 mwN[]
  14. BGH, Urteil vom 16.06.2009 – VI ZR 107/08, BGHZ 181, 253 Rn. 24 mwN[]
  15. EuGH, NJW 2015, 1163[]
  16. vgl. BGH, Urteile vom 30.07.2013 – VI ZR 284/12, VersR 2013, 1450; vom 30.07.2013 – VI ZR 327/12, VersR 2013, 1451[]
  17. vgl. EuGH, NJW 2015, 1163 Rn. 39 ff.; BGH, Urteile vom 09.06.2015 – VI ZR 327/12, NJW 2015, 2507 Rn. 23 f.; – VI ZR 284/12, NJW 2015, 3096 Rn. 14 f.[]
  18. zum Begriff der Primärverletzung vgl. BGH, Urteil vom 26.07.2022 – VI ZR 58/21, NJW 2022, 3509 Rn. 14 mwN[]
  19. vgl. hierzu Kaufmann/Seehafer, MedR 2017, 369, 374; Handorn/Martin, MPR 2016, 76, 80[]
  20. für die Übertragbarkeit KG, GesR 2016, 96 13 ff. mit abl. Anmerkungen Handorn/Martin, MPR 2016, 76 und Goehl, GesR 2016, 419; LG Bonn, Urteil vom 25.01.2017 – 9 O 125/14 23; LG Freiburg, MPR 2019, 150, 159 f. mit ablehnender Anmerkung Nawroth, MPR 2019, 164, 165; Heynemann, GuP 2021, 32, 35 f.; Staudinger/Oechsler (2021), ProdHaftG, § 3 Rn. 122; einschränkend Timke NJW 2015, 3060, 3063 f.; Moelle/Dockhorn, NJW 2015, 1163, 1165; Wagner, JZ 2016, 292, 302 f.; MünchKomm-BGB/Wagner, 8. Aufl., § 3 ProdHaftG Rn. 56; Sedlmaier/Martin, RAW 2015, 106, 108; Kaufmann/Seehafer, MedR 2017, 369, 373; zweifelnd Koch, VersR 2015, 1467, 1471; Brüggemeier, ZEuP 2016, 502, 508; Burckhardt, BB 2015, 661, 662[]
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Bildnachweis:

  • Hüftprothese: National Institute of Health (USA)