Der Streit um die Berufungsfrist – und die vernichtete Gerichtsakte

Das Gericht hat im Wege freier Beweiswürdigung zu klären, ob die Berufung der Partei fristgerecht eingegangen ist. Es hat den Sachverhalt vollständig und ohne Beschränkung auf die förmlichen Beweismittel des Zivilprozesses zu würdigen1. Die Unaufklärbarkeit des rechtzeitigen Eingangs einer formwirksamen Berufungsschrift fällt nicht in den Verantwortungsbereich des Rechtsmittelführers, wenn das Gericht die Akten vernichtet hat, ohne dass die Voraussetzungen hierzu vorgelegen haben.

Der Streit um die Berufungsfrist – und die vernichtete Gerichtsakte

In dem hier vom Bundesgerichtshof entschiedenen Verfahren hat das Landgericht Berlin einer Zahlungsklage durch Urteil vom 03.12.2001 in vollem Umfang stattgegeben. Mit der Berufung möchte die Beklagte weiterhin die Abweisung der Klage erreichen. Im Laufe des Berufungsverfahrens im Jahr 2002 ist über das Vermögen der Beklagten das Insolvenzverfahren eröffnet worden, woraufhin das Verfahren bei Gericht weggelegt worden ist. Durch Beschluss vom 11.05.2006 hat das zuständige Amtsgericht C. das Insolvenzverfahren mangels einer die Kosten des Verfahrens deckenden Masse eingestellt. Mit Beschluss des Amtsgerichts L. vom 13.06.2020, berichtigt durch Beschluss vom 29.09.2020, ist für die Beklagte ein Nachtragsliquidator bestellt worden mit dem Wirkungskreis der Abgabe aller erforderlichen Erklärungen zur Fortsetzung des Berufungsverfahrens gegen die Entscheidung des Landgerichts vom 03.12.2001 sowie der Vertretung der Beklagten innerhalb dieses Verfahrens. Mit Schriftsatz vom 30.06.2020 hat die Beklagte die Fortsetzung des Verfahrens beantragt und die Einrede der Verjährung erhoben. Das Berliner Kammergericht hat die Berufung der Beklagten nach vorangegangenem Hinweis durch Beschluss als unzulässig verworfen. Hiergegen wendet sich die Beklagte mit der Rechtsbeschwerde2.

Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, die Berufung sei als unzulässig zu verwerfen, weil sich nicht mit der erforderlichen Gewissheit feststellen lasse, dass das Rechtsmittel form- und fristgerecht eingelegt worden sei. Die Beweislast für die Rechtzeitigkeit der Berufung trage der Berufungsführer. Ihm dürfe aber nicht die Beweislast für Vorgänge auferlegt werden, die er nicht aufklären könne, weil sie sich ausschließlich im gerichtsinternen Bereich abgespielt hätten und ihm daher unbekannt seien, wenn deren Unaufklärbarkeit allein in den Verantwortungsbereich des Gerichts falle.

Unter Berücksichtigung dieses Prüfungsmaßstabs dürfte die Beklagte bereits den Nachweis schuldig geblieben sein, dass ihr das erstinstanzliche Urteil nicht bereits vor dem 19.12.2001 zugestellt worden sei. Soweit sie Indizien für die Zustellung am 19.12.2001 vorgetragen habe, genügten diese nicht, um einen Fristbeginn an diesem Tag unterstellen zu können. Der Nachweis der Tatsache, dass der Beklagten das erstinstanzliche Urteil nicht vor dem 19.12.2001 zugestellt worden sei, könne nicht durch die Ablichtung einer Urteilsausfertigung, auf der der Eingangsstempel der Kanzlei des früheren Prozessbevollmächtigten der Beklagten angebracht sei, geführt werden. Nach dem Eingangsstempel solle das Urteil zwar am 19.12.2001 in der Kanzlei eingegangen sein. Allerdings seien weder der Stempel noch die darauf angebrachten Notizen mit einer Unterschrift versehen, so dass der Vorlage dieses Dokuments für sich betrachtet ein Beweiswert als Privaturkunde im Sinne des § 416 ZPO a.F. nicht zukommen könne. Entsprechendes gelte für die Vorlage der Abschrift der Berufungsschrift vom 21.01.2002. Zwar werde in dieser korrespondierend zu dem Eingangsstempel der Kanzlei die Zustellung des erstinstanzlichen Urteils am 19.12.2001 mitgeteilt. Allerdings weise auch dieses Schriftstück eine Unterschrift des Ausstellers nicht aus, die jedoch für die Annahme einer Privaturkunde im Sinne des § 416 ZPO a.F. zwingend erforderlich wäre.

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Selbst wenn zugunsten der Beklagten unterstellt würde, dass ihr das Urteil des Landgerichts am 19.12.2001 und nicht bereits früher zugestellt worden sei, fehle es jedenfalls an einem Nachweis, dass die Berufung sodann innerhalb der Monatsfrist form- und fristgerecht eingelegt worden sei.

Soweit die Beklagte auf eine Kopie des Berufungsschriftsatzes verweise, lasse sich weder der rechtzeitige Eingang des Schriftsatzes bei Gericht noch die Einhaltung der Formvorschriften feststellen. Die Faxzeile des eingereichten Schriftsatzes weise die Angabe „210102 12:52 RAe K. ID = +49 “ aus. Dabei entspreche die in dem Briefkopf mitgeteilte Faxnummer derjenigen der Kanzlei. Dass die Berufung an das Berufungsgericht übersandt worden sei und gegebenenfalls wann, sei indes gerade nicht erkennbar.

Überdies lasse sich nicht feststellen, dass der Schriftsatz vom 21.01.2002 den Anforderungen der § 518 Abs. 4, § 130 Nr. 6 ZPO a.F. genügt habe. Die Einlegung der Berufung erfordere danach eine Berufungsschrift, die von einem postulationsfähigen Rechtsanwalt eigenhändig unterzeichnet worden sei. Ob eine diesen Anforderungen entsprechende Berufungsschrift rechtzeitig beim Berufungsgericht eingereicht worden sei, lasse sich nicht erkennen.

Weder aus der Verfügung des Vorsitzenden vom 25.03.2002, mit der der Klägerin aufgegeben worden sei, innerhalb von drei Monaten auf die Berufungsbegründung zu erwidern, noch aus der Ladung zum Termin zur mündlichen Verhandlung oder der Aufhebung des Termins unter Hinweis auf die Unterbrechung des Verfahrens könne mit der erforderlichen Sicherheit geschlossen werden, dass die Berufung unter Einhaltung sämtlicher Form- und Fristvorschriften eingereicht worden sei. Bei der Annahme, dass die Unzulässigkeit der Berufung von dem damaligen Vorsitzenden übersehen worden sei, handele es sich nicht nur um eine theoretische Möglichkeit, die deshalb bei der Überzeugungsbildung außer Betracht zu bleiben habe.

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Die Unaufklärbarkeit des rechtzeitigen Eingangs der Berufung bei dem Berufungsgericht sei auch nicht dem Verantwortungsbereich des Gerichts, sondern dem der Beklagten zuzuordnen. So habe dieser klar sein müssen, dass die Akten gemäß den Bestimmungen über die Aufbewahrung von Schriftgut der Justiz fünf Jahre nach Ablauf des Jahres, in dem diese weggelegt worden seien, vernichtet würden. Es sei nicht zutreffend, dass die hiesige Gerichtsakte unter Berücksichtigung der gesetzlichen Bestimmungen nicht hätte vernichtet werden dürfen. Das Insolvenzverfahren, das zu der Unterbrechung des hiesigen Verfahrens geführt habe, sei mit Beschluss des Amtsgerichts C. vom 11.05.2006 mangels einer die Kosten des Verfahrens deckenden Masse eingestellt worden. Jedenfalls mit Ablauf des Jahres 2006 habe die gemäß den Bestimmungen über die Aufbewahrung von Schriftgut der Justiz geltende Aufbewahrungsfrist von fünf Jahren zu laufen begonnen. Bis zur Wiederaufnahme des Verfahrens durch die Beklagte im Jahr 2020 sei diese Frist bereits seit vielen Jahren abgelaufen gewesen. Auch der Virusbefall des Computersystems im Jahr 2019 habe sich wegen der jedenfalls seit dem Jahr 2012 zulässigerweise vernichteten Akten auf die Rechte der Beklagten von vornherein nicht negativ auswirken können.

Das Landgericht habe als aktenführende Behörde alle in Betracht kommenden Maßnahmen getroffen, um die Akten vollständig zu rekonstruieren. Auch dem Prozessbevollmächtigten der Beklagten sei wie er selbst dem Landgericht mitgeteilt habe eine weitere Beschaffung von Aktenbestandteilen nicht möglich. Die Möglichkeiten der Rekonstruktion der Akten seien damit vollständig ausgeschöpft.

eingereicht worden sei. Bei der Annahme, dass die Unzulässigkeit der Berufung von dem damaligen Vorsitzenden übersehen worden sei, handele es sich nicht nur um eine theoretische Möglichkeit, die deshalb bei der Überzeugungsbildung außer Betracht zu bleiben habe.

Die Unaufklärbarkeit des rechtzeitigen Eingangs der Berufung bei dem Berufungsgericht sei auch nicht dem Verantwortungsbereich des Gerichts, sondern dem der Beklagten zuzuordnen. So habe dieser klar sein müssen, dass die Akten gemäß den Bestimmungen über die Aufbewahrung von Schriftgut der Justiz fünf Jahre nach Ablauf des Jahres, in dem diese weggelegt worden seien, vernichtet würden. Es sei nicht zutreffend, dass die hiesige Gerichtsakte unter Berücksichtigung der gesetzlichen Bestimmungen nicht hätte vernichtet werden dürfen. Das Insolvenzverfahren, das zu der Unterbrechung des hiesigen Verfahrens geführt habe, sei mit Beschluss des Amtsgerichts C. vom 11.05.2006 mangels einer die Kosten des Verfahrens deckenden Masse eingestellt worden. Jedenfalls mit Ablauf des Jahres 2006 habe die gemäß den Bestimmungen über die Aufbewahrung von Schriftgut der Justiz geltende Aufbewahrungsfrist von fünf Jahren zu laufen begonnen. Bis zur Wiederaufnahme des Verfahrens durch die Beklagte im Jahr 2020 sei diese Frist bereits seit vielen Jahren abgelaufen gewesen. Auch der Virusbefall des Computersystems im Jahr 2019 habe sich wegen der jedenfalls seit dem Jahr 2012 zulässigerweise vernichteten Akten auf die Rechte der Beklagten von vornherein nicht negativ auswirken können.

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Das Landgericht habe als aktenführende Behörde alle in Betracht kommenden Maßnahmen getroffen, um die Akten vollständig zu rekonstruieren. Auch dem Prozessbevollmächtigten der Beklagten sei wie er selbst dem Landgericht mitgeteilt habe eine weitere Beschaffung von Aktenbestandteilen nicht möglich. Die Möglichkeiten der Rekonstruktion der Akten seien damit vollständig ausgeschöpft.

Die hiergegen gerichtete Rechtsbeschwerde der Beklagten hat Erfolg und führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht:

Die gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist zulässig, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO).

Die geltenden Vorschriften über die Rechtsbeschwerde finden nach den Grundsätzen des intertemporalen Zivilprozessrechts mangels vorrangiger gesetzlicher Übergangsbestimmungen Anwendung3. Übergangsvorschriften für Revision und Beschwerde sieht § 26 Nr. 7 und 10 EGZPO nur für Verfahren vor, in denen die mündliche Verhandlung, auf die die anzufechtende Entscheidung ergeht, vor dem 1.01.2002 geschlossen worden ist, der Zeitpunkt für die Einreichung von Schriftsätzen im schriftlichen Verfahren vor dem 1.01.2002 liegt oder die anzufechtende Entscheidung vor dem 1.01.2002 verkündet oder der Geschäftsstelle übergeben worden ist. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt, weil die angefochtene Entscheidung des Berufungsgerichts nach dem 1.01.2002 ergangen ist.

Die Rechtsbeschwerde hat auch in der Sache Erfolg.

Auf das Berufungsverfahren sind gemäß § 26 Nr. 5 Satz 1 EGZPO die am 31.12.2001 geltenden Vorschriften der Zivilprozessordnung (im Folgenden: ZPO a.F.) weiter anzuwenden, weil die mündliche Verhandlung, auf die das anzufechtende Urteil des Landgerichts ergangen ist, vor dem 1.01.2002 geschlossen worden ist.

Das Berufungsgericht hat mit seiner Annahme, die Berufung sei nicht rechtzeitig innerhalb eines Monats nach Zustellung des erstinstanzlichen Urteils (§ 516 ZPO a.F.) eingegangen, die Verfahrensgrundrechte der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG und wirkungsvollen Rechtsschutz gemäß Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art.20 Abs. 3 GG verletzt und ihr den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert4.

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Verfahrensfehlerhaft geht das Berufungsgericht zunächst davon aus, dass die Beklagte den Nachweis nicht geführt habe, ihr sei das landgerichtliche Urteil nicht vor dem 19.12.2001 zugestellt worden. Diese Annahme kann nicht allein darauf gestützt werden, dass eine Privaturkunde im Sinne des § 416 ZPO a.F. nicht vorgelegt worden sei, aus der sich die Zustellung des Urteils am 19.12.2001 ergebe.

Das Gericht hat im Wege freier Beweiswürdigung zu klären, ob die auf den 21.01.2002 datierte Berufung der Beklagten bereits deswegen nicht mehr als fristgerecht anzusehen war, weil das Urteil des Landgerichts der Beklagten bereits vor dem 19.12.2001 zugestellt worden ist5. Der Umstand, dass der Berufungsführer den Beweis nicht durch Vorlage einer Privaturkunde im Sinne des § 416 ZPO a.F. führen kann, hat entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts nicht zur Folge, dass der Beweis allein aus diesem Grund als nicht geführt anzusehen ist. Das Gericht hat den Sachverhalt vielmehr vollständig und ohne Beschränkung auf die förmlichen Beweismittel des Zivilprozesses zu würdigen. Eine solche umfassende Würdigung der Umstände des vorliegenden Falls hat das Berufungsgericht nicht vorgenommen. Hierzu gehörte die Bewertung der vorhandenen Indizien für eine Zustellung des landgerichtlichen Urteils am 19.12.2001, nämlich die Vorlage eines Urteils mit einem Abdruck des Eingangsstempels der Kanzlei des Prozessbevollmächtigten des Berufungsführers sowie die Mitteilung in der Berufungsschrift, das Urteil des Landgerichts sei in dem aus dem Eingangsstempel ersichtlichen Zeitpunkt tatsächlich zugestellt worden. Diese Indizien sind geeignet, die Annahme zu stützen, dass der Beklagten das Urteil des Landgerichts am 19.12.2001 zugestellt worden ist.

Rechtsfehlerhaft geht das Berufungsgericht weiter davon aus, dass die Unaufklärbarkeit des rechtzeitigen Eingangs einer formwirksamen Berufungsschrift nicht in den Verantwortungsbereich des Gerichts falle, sondern von der Beklagten zu vertreten sei, mit der Folge, dass die Berufung als unzulässig zu verwerfen sei. Die Voraussetzungen, unter denen die Gerichtsakten weggelegt und vernichtet werden durften, lagen auch für den vom Berufungsgericht angenommenen spätesten Zeitpunkt im Jahr 2012 nicht vor.

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Das Berufungsverfahren war durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Beklagten gemäß § 240 Satz 1 ZPO a.F. unterbrochen, bis es nach den für das Insolvenzverfahren geltenden Vorschriften aufgenommen oder das Insolvenzverfahren beendet würde. Das Insolvenzverfahren ist infolge der Einstellung des Insolvenzverfahrens mangels einer die Kosten des Verfahrens deckenden Masse (§ 207 Abs. 1 Satz 1 InsO) durch Beschluss des Amtsgerichts C. vom 11.05.2006 beendet worden6. Damit war auch die durch § 240 ZPO a.F. eingetretene Unterbrechung des Verfahrens beendet.

Die Voraussetzungen für ein Weglegen der Akten wegen Nichtbetreibens des Verfahrens durch die Parteien über einen Zeitraum von sechs Monaten hinweg nach den Bestimmungen der Aktenordnung für die Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit und die Strafverfolgungsbehörden mit ergänzenden Bestimmungen für das Land B. Aktenordnung (Stand: September 2008) sind im Jahr 2012, in dem die Akten nach Auffassung des Berufungsgerichts jedenfalls hätten vernichtet werden dürfen, nicht erfüllt gewesen.

Nach § 7 Abs. 2 der Aktenordnung ist die Weglegung der Akten anzuordnen, sobald die Angelegenheit oder das Verfahren beendet ist oder als beendet gilt. Für die Anordnung der Weglegung der Akten in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten gilt eine Angelegenheit, deren endgültige Erledigung7 sich nicht ohne weiteres aus den Akten ergibt, gemäß § 7 Abs. 3 Buchst. e)) Aktenordnung als erledigt, wenn ein Verfahren seit sechs Monaten nicht betrieben worden ist. § 240 ZPO ist zu beachten. Wegen der Dauer der Aufbewahrung weggelegter Akten, ihrer Aussonderung und Vernichtung oder Ablieferung an andere Stellen gelten gemäß § 7 Abs. 9 Aktenordnung die darüber erlassenen besonderen Vorschriften. Die aufgrund § 2 des Gesetzes zur Aufbewahrung von Schriftgut der Justiz des Landes B. Schriftgutaufbewahrungsgesetz vom 24.11.20088 erlassene Verordnung über die Aufbewahrung von Schriftgut der ordentlichen Gerichtsbarkeit, der Staatsanwaltschaften, der Amtsanwaltschaft, der Justizvollzugsbehörden sowie der Sozialen Dienste der Justiz Schriftgutaufbewahrungsverordnung vom 16.04.20109 sieht eine Aufbewahrungsfrist für Gerichtsakten der ordentlichen Gerichtsbarkeit bei den Landgerichten mit dem Registerzeichen O von fünf Jahren vor (§ 1 Abs. 1 Schriftgutaufbewahrungsverordnung i.V.m. Anlage Nr. 312 Buchst. b).

Eines Antrags der Parteien hierzu bedurfte es nicht. Ein Nichtbetreiben des Verfahrens durch die Parteien ist unbeschadet der Frage, ob ein Betreiben des Verfahrens für die Klägerin nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Beklagten mangels einer die Kosten des Verfahrens deckenden Masse überhaupt zumutbar war und ob deswegen in ihrer Person ein triftiger Grund für das Nichtbetreiben des Verfahrens bestand10, nicht anzunehmen, weil das Berufungsgericht dem Verfahren von Amts wegen Fortgang geben musste11. Das Berufungsgericht durfte danach die Gerichtsakten nicht weglegen oder diese sogar vernichten.

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Die angefochtene Entscheidung kann daher keinen Bestand haben und ist aufzuheben. Die Sache ist zur erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO). Der Bundesgerichtshof kann in der Sache nicht selbst entscheiden (§ 577 Abs. 5 ZPO), weil das Berufungsgericht über die Begründetheit der Berufung nicht tragend entschieden hat12 und der Rechtsstreit in der Hauptsache nicht zur Endentscheidung reif ist.

Bundesgerichtshof, Beschluss vom 29. Juni 2022 – VII ZB 52/21

  1. st. Rspr. vgl. nur BGH, Beschluss vom 14.02.2017 – XI ZR 283/16[]
  2. KG, Beschluss vom 05.08.2021 – 2 U 18/02[]
  3. vgl. hierzu BGH, Urteil vom 02.02.2011 – VIII ZR 190/10 Rn. 11, BGHZ 188, 164; Beschluss vom 23.04.2007 – II ZB 29/05 Rn. 25, BGHZ 172, 136; jeweils m.w.N.[]
  4. vgl. BGH, Beschluss vom 26.06.2019 – VII ZB 61/18 Rn. 8, NJW-RR 2019, 1022; Beschluss vom 29.03.2012 – V ZB 176/11 Rn. 4[]
  5. vgl. zum Prüfungsmaßstab BGH, Beschluss vom 14.02.2017 – XI ZR 283/16 Rn. 13, juris; Beschluss vom 09.11.2010 – VI ZR 249/09 Rn. 4, NJW-RR 2011, 284; Urteil vom 29.09.2010 XII ZR 41/09 Rn. 16 m.w.N., NJW 2011, 778[]
  6. vgl. BGH, Beschluss vom 28.09.1989 – VII ZR 115/89, NJW 1990, 1239 9; Urteil vom 08.01.1962 – VII ZR 65/61, BGHZ 36, 258 21 zur Konkursordnung[]
  7. z.B. durch Vergleich, rechtskräftig gewordenes Urteil usw.[]
  8. GVBl.2008, S. 410[]
  9. GVBl.2010, S.205[]
  10. vgl. hierzu BGH, Urteil vom 06.05.2004 – IX ZR 205/00, NJW 2004, 3418 11; Urteil vom 27.01.1999 XII ZR 113/97, NJW 1999, 1101 16 ff.; jeweils m.w.N.[]
  11. vgl. BGH, Urteil vom 07.02.2013 – VII ZR 263/11 Rn. 16 m.w.N., NJW 2013, 1666; Urteil vom 12.10.1999 – VI ZR 19/99, NJW 2000, 132 14; Urteil vom 10.07.1979 – VI ZR 81/78, NJW 1979, 2307 16[]
  12. vgl. BGH, Beschluss vom 02.02.2012 – V ZB 184/11 Rn. 12, NJW-RR 2012, 397; Urteil vom 10.12.1953 – IV ZR 48/53, BGHZ 11, 222, 223 ff.[]

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