Die Betriebsgefahr einer Straßenbahn tritt regelmäßig hinter dem groben Eigenverschulden des Fahrgastes an seinem Sturz in der Straßenbahn zurück.

Ein Anspruch des Fahrgastes gem. § 1 Abs. 1 HaftpflG ist zwar dem Grunde nach zu bejahen, tritt aber wegen des weit überwiegenden Eigenverschuldens des bei der Notbremsung gestürzten Fahrgastes (§§ 4 HaftpflG, 254 Abs. 1 BGB) hier völlig in den Hintergrund. Auch ein daneben möglicher Anspruch aus §§ 823, 31 BGB oder aber § 831 BGB scheidet im vorliegenden Fall aus, ebenso wie ein Anspruch aus Schlechterfüllung des Beförderungsvertrags (§§ 611, 280 BGB).
Nach der obergerichtlichen Rechtsprechung, der das Oberlandesgericht folgt, muss ein Fahrgast einer Straßenbahn damit rechnen, dass – außerhalb von Fahrfehlern – bei der Fahrt ruckartige Bewegungen des Verkehrsmittels auftreten können, die seine Standsicherheit beeinträchtigen. Er ist deshalb selbst dafür verantwortlich, dass er durch typische und zu erwartende Bewegungen einer Straßenbahn oder eines Linienbusses nicht zu Fall kommt und muss sich Halt auch gegen plötzliche Bewegungen der Straßenbahn verschaffen [1]. Der Fahrgast muss in diesem Zusammenhang durchaus auch jederzeit mit einem scharfen Bremsen des Verkehrsmittels rechnen [2]. Dies gilt, wie das Oberlandesgericht aus eigener Erfahrung weiß, vor allem an Haltestellenbereichen von Großstädten, an denen es oftmals Verstöße gegen § 25 StVO gibt, auf die der Straßenbahnfahrer dann sofort, u.U. auch mit einer Notbremsung reagieren muss. Regelmäßig kann dem der Fahrgast, der mit einem solchen Manöver rechnen muss, dadurch begegnen, dass er sich sicheren Halt verschafft, soweit er nicht ohnehin einen Sitzplatz eingenommen hat. Deshalb neigt das Oberlandesgericht der Auffassung zu, dass in derlei Fällen regelmäßig davon auszugehen ist, dass der Beweis des ersten Anscheins für die Annahme spricht, dass der Sturz eines Fahrgastes auf mangelnde Vorsicht zurückzuführen ist [3]. Letztlich kommt es auf diese Frage, auf die auch das Landgericht sein Urteil nicht baut, nicht an, weil bereits nach dem unstreitigen Sachverhalt bzw. nach den vom Oberlandesgericht gem. § 529 ZPO zugrunde zu legenden Feststellungen ein Eigenverschulden des gestürtzen Fahrgstes hinreichend feststeht. Es ist nicht nachzuvollziehen, weshalb der Fahrgast sich im konkreten Fall etwa veranlasst sehen musste, bereits 5 Sekunden vor Erreichen der Haltestelle seinem sicheren Sitzplatz aufzugeben ohne sich ausreichend abzusichern. Er hat sich im maßgeblichen Zeitpunkt nicht angemessen festgehalten, um so auch auf ein plötzliches Abbremsen reagieren zu können. Vielmehr war er kurz vor dem Unfall dem Sitz zugewandt und abgelenkt. Dabei verkennt das Oberlandesgericht Dresden nicht, dass es Fahrgästen unbenommen bleibt, von ihren Sitzen aufzustehen und sich in Richtung Ausgang zu begeben. Nur muss der Fahrgast auch in diesem Fall ausreichend Eigenvorsorge betreiben und sich angemessen festhalten, zumal wenn kurz vor Erreichen eines Haltestellenbereichs mit einem u.U. auch drastischen Abbremsen ohne weiteres zu rechnen ist. Dass der Fahrgast vorliegend aufgrund besonderer Umstände etwa nicht in der Lage gewesen wäre sich ausreichend festzuhalten, behauptet er nicht.
Soweit vertreten wird, hier hätte sich selbst bei einem ausreichenden Festhalten des Fahrgastes wegen der bei einer Notbremsung auftretenden Kräfte der Unfall gleichwohl ereignet, liegt darin nicht lediglich eine unbeachtliche „hypothetische Annahme“, sondern letztlich der Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens seitens des Fahrgastes. Richtig ist nämlich, dass dem Fahrgast im Rahmen des § 4 HaftpflG, §254 Abs. 1 BGB nur solches Eigenverschulden entgegen gehalten werden kann, welches sich erwiesenermaßen auf den konkreten Unfall ausgewirkt hat. Weil dergestalt auch bei § 254 BGB der Ursachenzusammenhang von Relevanz ist, gelten die Grundsätze rechtmäßigen Alternativverhaltens grundsätzlich auch hier. Gleichwohl ist dem hierzu angebotenen Sachverständigengutachten nicht nachzugehen. Für den hier zur Entscheidung stehenden konkreten Fall ist nämlich bereits hinreichend widerlegt, dass auch ein angemessenes und nach den Umständen gebotenes Festhalten den Unfall nicht vermieden hätte. Dafür spricht schon die auch vor dem Bremsmanöver als eher gering einzuschätzende Bremsausgangsgeschwindigkeit von nur 21, 4 km/h. Jedenfalls belegen die vorgelegten, den Unfallablauf zeitlich genau dokumentierenden Lichtbildaufnahmen aus den Überwachungskameras der Straßenbahn anschaulich, dass andere Fahrgäste, die sich zumindest mit einer Hand festgehalten hatten, zwar ins Wanken, nicht aber zu Fall kamen. Es ist für das Oberlandesgericht deshalb schlechterdings nicht nachzuvollziehen, weshalb der gestürtzte Fahrgast, wäre er nicht abgelenkt gewesen, die Situation nicht hätte meistern sollen. Soweit hiergegen pauschal und ohne nähere Auseinandersetzung mit dem konkreten Fall auf die „körperliche Konstitution“ des Fahrgastes abgehoben wird, gilt i.E. nichts anderes. Es ist in erster Linie der Fahrgast, der sich selbst darüber Klarheit verschaffen muss, ob er in der Lage ist, die regelmäßig bei Straßenbahnfahrten auftretenden Kräfte zu meistern oder nicht. In besonders gelagerten Einzelfällen liegt es deshalb u.U. nahe fremde Hilfe in Anspruch zu nehmen. Davon ist aber mangels konkreten Vortrags zu unfallmitkausalen Beeinträchtigungen hier schon nicht auszugehen. Hinzu kommt, dass es dem Fahrgast dann jedenfalls erst recht zuzumuten gewesen wäre, bis zum sicheren Stillstand der Straßenbahn zu warten, bevor er aufsteht. Dem Oberlandesgericht ist bekannt, dass zwischen dem sicheren Halt der Straßenbahn und dem Öffnen der Türen regelmäßig noch so viel Zeit verstreicht, dass es, von besonders gelagerten, hier aber nicht einschlägigen Situationen abgesehen, bei sachgerechter Platzwahl durchaus möglich ist, auch dann noch ohne größere Probleme auszusteigen. Umstände, die auf ein besonderes Gedränge in der Straßenbahn hindeuten, sind weder konkret vorgetragen noch sind sie auf den vorgelegten Lichtbildern auch nur ansatzweise zu erkennen.
Zwar nimmt die obergerichtliche Rechtsprechung in Einzelfällen an, dass es dem Fahrgast auch im Falle einer Notbremsung nicht zwingend zum Mitverschulden gereicht, wenn er zu Fall kommt. Allerdings gilt dies für Fälle, in denen sich der Fahrgast bei bestimmungsgemäßem Gebrauch von Gerätschaften zwangsläufig nicht ausreichend festhalten konnte [4].
Schließlich tritt die in die Abwägung einzustellende Betriebsgefahr der Straßenbahn hinter das Eigenverschulden des gestürzten Fahrgastes (oder genauer: die Verletzung der eigenen Obliegenheiten) zurück. Auch dies entspricht gefestigter Rechtsprechung [5], wobei die Rechtsprechung durchaus auch in Fällen nur leichter Fahrlässigkeit die Betriebsgefahr zurücktreten lässt [6]. Die Rechtsprechung nimmt regelmäßig nur dann eine Quotierung vor, wenn es sich um einen atypischen Fall handelt [7]. Im vorliegenden Fall ist nach Lage der Dinge allerdings durchaus von einem groben Eigenverschulden des Fahrgastes auszugehen, so dass sich ein solches Zurücktreten ohne weiteres ergibt. Dies stimmt nicht zuletzt mit der vom Oberlandesgericht Dresden in ständiger Rechtsprechungspraxis vertretenen Auffassung überein, wonach auch in anderen Fällen der Gefährdungshaftung (§§ 17, 7 StVG) die Betriebsgefahr gegenüber grobem Eigenverschulden zurücktreten muss.
Die Betriebsgefahr der Straßenbahn war hier auch nicht etwa durch ein unfallmitursächliches Verschulden des Straßenbahnführers in einer Weise erhöht, dass ein vollständiges Zurücktreten unbillig erschiene. Unabhängig davon, ob das Verhalten des die Notbremsung Verursachenden dessen Haftung begründet, ist dem Straßenbahnführer unter Berücksichtigung der konkreten Situation (unmittelbar vor dem Haltestellenbereich und damit verbundene erhöhte Aufmerksamkeit) kein Fahrlässigkeitsvorwurf zu machen , dass er angesichts der ohnehin moderaten Geschwindigkeit eine Notbremsung durchführte. Insoweit unterscheidet sich die vorliegende Fallgestaltung auch deutlich von jenen Fällen in der Rechtsprechung, in denen ohne zwingenden Grund gebremst wurde.
Auch deliktische oder sekundärvertragliche Ansprüche, die neben § 1 HaftpflG anwendbar bleiben [8], scheiden im vorliegenden Fall aus.
Auch eine Haftung aus § 823 BGB verneint das OLG Dresden: Ein Anspruch (nur) aus § 823 BGB besteht unabhängig von einem Verschulden des Straßenbahnführers schon deshalb nicht, weil die Stadtwerke als juristische Person nicht i.S.d. § 823 BGB „handeln“ können. Ihr kann deshalb nur über § 31 BGB ein schuldhaftes Tun ihrer Organe zugerechnet werden. Auch dafür fehlt es aber an jedwedem Anhaltspunkt im vorliegenden Fall.
Ein Anspruch aus § 831 BGB scheitert ebenfalls. Zwar begründet diese Norm eine Haftung für vermutetes Verschulden, sie findet aber nach höchstrichterlicher Rechtsprechung mit Rücksicht auf den Schutzzweck der Norm keine Anwendung in Fällen, in denen sich der Verrichtungsgehilfe (hier der Straßenbahnführer) wie hier objektiv fehlerfrei verhalten hat. Grund ist, dass in einem solchen Fall auch gegen den Verrichtungsherrn im Falle eigenen (zurechenbaren) Handelns kein Anspruch bestünde [9]. Offen bleiben kann deshalb auch, ob die Stadtwerke sich hier ausreichend exkulpiert haben (§ 831 Abs. 1 Satz 2 BGB).
Auch ein Anspruch aus dem abgeschlossenen Beförderungsvertrag (§§ 611, 280 Abs. 1 BGB) scheidet hier aus. Zwar wird auch insoweit (§ 280 Abs. 1 Satz 2 BGB) ein Verschulden vermutet, so dass – soweit streitig – der Anspruchsgegner den Beweis des Gegenteils zu führen hätte, wenn eine pflichtwidrige Handlung feststeht (§ 292 ZPO). Aufgrund des insoweit unstreitigen Grundes für die Einleitung der Notbremsung fehlt es aber sowohl an einer vertraglichen Pflichtwidrigkeit wie auch an einem dem Beförderungsunternehmen gem. § 278 BGB zurechenbaren Verschulden seines Erfüllungsgehilfen (des Straßenbahnführers).
Oberlandesgericht Dresden, Beschluss vom 26. März 2014 – 7 U 1506/13
- vgl. OLG Dresden, Urteil vom 05.04.1995 – 12 U 63/95, juris; OLG Dresden, Urteil vom 21.02.2006 – 13 U 2195/05, juris; vgl. auch LG Dresden, Urteil vom 12.05.2010 – 4 O 3263/09, NZV 2011, 202[↩]
- vgl. nur KG, Urteil vom 01.03.2010 – 12 U 95/09, MDR 2010, 1111[↩]
- vgl. nur KG, Urteil vom 07.05.2012 – 22 U 251/11, juris; einschränkend: BGH, Urteil vom 11.05.1976 – VI ZR 170/74, VersR 1976, 932[↩]
- so etwa OLG Düsseldorf, Urteil vom 26.10.1998 – 1 U 245/97, VersR 2000, 71 für den Fall, dass der Fahrgast sich wegen des Entwertens des Fahrscheins bei einer Notbremsung nicht mit beiden Händen festhalten konnte, oder OLG Celle, Urteil vom 21.02.1974 – 5 U 93/73 in einem Fall, in dem der Fahrgast während des Bezahlvorgangs an einer festen Zahlstelle stürzt[↩]
- vgl. nur OLG Dresden, Urteil vom 21.02.2006 – 13 U 2195/05, juris; ebenso LG Dresden, Urteil vom 12.05.2010, a.a.O.[↩]
- OLG Dresden, Urteil vom 21.02.2006 – 13 U 2195/05[↩]
- vgl. etwa OLG Dresden, Urteil vom 05.04.1995 – 12 U 63/95: Sturz des Fahrgastes unmittelbar nach Schließen der Wagentür beim Anfahren aufgrund eines ungewöhnlichen, starken Rucks ohne vernünftigen Grund![↩]
- vgl. nur zuletzt OLG Nürnberg, Urteil vom 30.12.2011 – 14 U 852/10, NJW-RR 2012, 542[↩]
- BGH, Urteil vom 12.07.1996 – V ZR 280/94, NJW 1996, 3205[↩]