Der nicht erschienene, überflüssige Zeuge – und das Ordnungsgeld

Die Verhängung eines Ordnungsgeldes gegen einen ordnungsgemäß geladenen, nicht erschienen Zeugen ist ausgeschlossen, wenn das Ausbleiben für den weiteren Fortgang des Prozessverfahrens folgenlos war.

Der nicht erschienene, überflüssige Zeuge – und das Ordnungsgeld

Zwar kann sich ein Zeuge nicht – erst recht wiederholt – dadurch entschuldigen, dass eine Partei oder der Prozessbevollmächtigte einer Partei ihm gegenüber erklärt habe, er brauche nicht zu erscheinen. Dies gilt insbesondere dann nicht, wenn dieser Prozessbevollmächtigte wegen Erkrankung zum wiederholten Mal kurzfristig eine Terminsverlegung beantragt und zugleich dem Zeugen eine entsprechende Mitteilung gemacht hat1. Bei Zweifeln über den Fortbestand eines Termins darf sich der Zeuge nicht auf die Angaben einer Partei oder deren Prozessbevollmächtigten verlassen, sondern ist grundsätzlich gehalten, rechtzeitig selbst bei dem Gericht nachzufragen2. Hierauf ist der Zeuge bereits im Beschluss des Oberlandesgerichts vom 18.01.2016 ausdrücklich hingewiesen worden. Hinzu kommt, dass der Zeuge die vorgenannte Mitteilung erst am Abend des 24.05.2016 und damit zeitlich nach dem Termin am selben Tage erhalten haben will.

Vorliegend stellt sich ungeachtet dessen gleichwohl die Frage, ob die Verhängung eines Ordnungsgeldes nach § 380 Abs. 1 ZPO gegen einen ordnungsgemäß geladenen, nicht erschienen Zeugen auch dann zwingend bzw. als sanktionierende Maßnahme geboten ist, wenn das Ausbleiben für den weiteren Fortgang des Prozessverfahrens ohne Auswirkung geblieben ist.

Das Landgericht hätte den Termin vom 24.05.2016 zur Fortsetzung der Beweisaufnahme verlegen müssen. Eine kurzfristige – allerdings nur hinreichend konkret dargelegte und erforderlichenfalls glaubhaft gemachte – Erkrankung eines Prozessbevollmächtigten stellt grundsätzlich einen erheblichen Grund iSd § 227 Abs. 1 ZPO dar, wenn der Termin der Fortsetzung einer von diesem Prozessbevollmächtigten bisher begleiteten Beweisaufnahme dient. Das Vorliegen eines erheblichen Grundes begründet im Falle eines – wie hier – gestellten Verlegungsantrages nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung die Pflicht des Gerichts zur Terminsänderung. Andernfalls verletzt das Gericht den Anspruch der Partei auf hinreichende Gewährung rechtlichen Gehörs3. Die Beweisaufnahme kann in einem solchen Fall nicht unter Heranziehung des § 367 ZPO in Abwesenheit des Prozessbevollmächtigten fortgesetzt werden. Im Übrigen hätte das Landgericht wegen § 285 ZPO auch im Übrigen einen neuen Verhandlungstermin anberaumen müssen, damit die Parteien Gelegenheit erhalten, über das Ergebnis der Beweisaufnahme vor dem Prozessgericht mündlich zu verhandeln (Grundsätze der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme und Mündlichkeit sowie Gewährung rechtlichen Gehörs zum Ergebnis der Beweisaufnahme).

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Ob im Falle der fehlenden Auswirkung des Ausbleibens des Zeugen gleichwohl ein Ordnungsgeld zu verhängen ist, wird in der obergerichtlichen Rechtsprechung nicht einheitlich beantwortet. Höchstrichterliche Entscheidungen sind in diesem Zusammenhang bisher nur in Bezug auf die Folgen des Nichterscheinens einer Partei trotz Anordnung nach § 141 Abs. 3 ZPO ergangen4.

Zwar legt eine allein am Wortlaut der Vorschrift orientierte Auslegung das Verständnis nahe, die Ordnungsgeldanordnung sei dem Gericht zwingend und ohne Ermessensspielraum vorgegeben5.

Jedoch ist aus der Eigenart des Prozessrechts bei der Auslegung von Prozessrechtsregelungen als Besonderheit stets zu beachten, dass das Prozessrecht nicht einem Selbstzweck dient, sondern Zweckmäßigkeitsrecht ist6. Bei der Auslegung von Normen ist das Gericht grundsätzlich nicht auf eine ausschließlich und streng am Wortlaut orientierte Auslegung beschränkt7. Zwar kann eine streng am Wortlaut orientierte Auslegung durch den Schutzzweck einer Norm und im Interesse der Rechtssicherheit geboten sein (etwa bei Zustellungsregelungen), gerade im Rahmen der Auslegung zivilprozessualer Vorschriften stellt sich eine ausschließlich wortlautgebundene Normeninterpretation jedoch als Ausnahme dar. Infolgedessen kann eine dem Wortlaut nach als „Muss-Vorschrift“ ausgestaltete Regelung im Rahmen der gebotenen Auslegung als „Soll-Vorschrift“ zu interpretieren sein8.

Gemessen an diesen Grundsätzen würde eine allein am Wortlaut orientierte Auslegung des § 380 Abs. 1 ZPO den Sinn und Zweck dieser zivilprozessualen Vorschrift vernachlässigen und der Regelung in Sachverhalten wie dem vorliegenden einen ausschließlich repressiven Charakter verleihen. Folglich muss die Auslegung umfassend und unter Berücksichtigung aller geltenden Auslegungsgrundsätze einschließlich des stets zu beachtenden Postulats der Verhältnismäßigkeit erfolgen. Hierzu gilt Folgendes:

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Die Zivilprozessordnung dient dazu, das private Recht des Einzelnen festzustellen und durchzusetzen. An diesem Gesetzeszweck orientieren sich die tragenden Grundmaximen des Zivilprozesses (Anspruch auf rechtliches Gehör und faires Verfahren, Dispositionsmaxime, Verhandlungsgrundsatz, Konzentrationsmaxime, Unmittelbarkeits, Mündlichkeits- und Öffentlichkeitsgrundsatz). Sie sind daher bei der Auslegung von Vorschriften ebenso wie der stets anwendbare Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von mitentscheidender Bedeutung. In Bezug auf die Zweckrichtung der Zivilprozessordnung ist bei der Auslegung des § 380 Abs. 1 ZPO als wesentlicher Gesichtspunkt – insbesondere als Ausfluss der Konzentrationsmaxime im Zusammenspiel mit dem Beibringungs- und Unmittelbarkeitsgrundsatz – das Gebot der Verhinderung pflichtwidriger Verfahrensverzögerungen zu beachten. Wegen des Gebots, im Interesse effektiven Rechtsschutzes den Rechtsstreit nach Möglichkeit in einem Haupttermin zu erledigen (§ 272 Abs. 1 ZPO), soll das Gericht einerseits in vielfacher Hinsicht prozessfördernde Maßnahmen (etwa §§ 139ff., 273 ZPO) ergreifen, andererseits werden den Parteien nach den Vorschriften der §§ 282, 296 ZPO mit Präklusion bewehrte Förderungspflichten auferlegt9.

Ein unmittelbarer pönaler Charakter als Selbstzweck einer verfahrensregelnden Norm ist der ZPO hingegen fremd. In Korrespondenz hierzu dienen die Vorschriften über die Sitzungspolizei (§ 176 GVG) ebenfalls vorrangig der Aufrechterhaltung der Ordnung in der Verhandlung, um dem Gericht und den Verfahrensbeteiligten eine störungsfreie Ausübung ihrer Funktionen zu ermöglichen10; repressive Auswirkungen stellen sich als Folge, nicht als Zweck von Maßnahmen der Sitzungspolizei dar. Nichts anderes gilt im Hinblick auf die zivilprozessualen, verfahrensleitenden Vorschriften.

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Die Verhängung eines Ordnungsgeldes zum vorrangigen Zweck, die Ahndung einer Missachtung einer gerichtlichen Anordnung zu strafen, ist daher mit der Zielsetzung (Feststellung und Durchsetzung subjektiver Rechte) der zivilprozessrechtlichen Vorschriften nicht in Einklang zu bringen. Der Gesetzgeber hat dem Gericht das Instrumentarium der §§ 380, 381 ZPO nicht an die Hand gegeben, um die Missachtung gerichtlich angeordneter Maßnahmen (zur Erfüllung staatsbürgerlicher Pflichten) zu sanktionieren11. Vielmehr dient die Vorschrift der Vermeidung von Verzögerungen bei der Aufklärung des Sachverhaltes und damit einer geordneten Rechtspflege12. Die Verhängung eines Ordnungsgeldes gegen einen nicht erschienenen Zeugen verbietet sich daher, wenn dessen Fernbleiben für die weitere Verfahrensgestaltung folgenlos geblieben ist, etwa weil – wie vorliegend aufgrund einer Erkrankung eines Prozessbevollmächtigten – ohnehin die Anberaumung eines neuen Termins zur mündlichen Verhandlung und Fortsetzung der Beweisaufnahme erforderlich ist, oder die Parteien sich gütlich einigen oder auf den Zeugen verzichten, oder sich der Rechtsstreit anderweitig erledigt. Bei einer solchen Prozesslage wird durch das Fernbleiben des Zeugen weder das Interesse der Parteien an einer beschleunigten und prozessökonomischen Verfahrensgestaltung noch eine gerichtlich angeordnete, prozessfördernde Maßnahme beeinträchtigt13.

Der angefochtene Beschluss war nach alledem aufzuheben. Hinsichtlich des erneut anzuberaumenden Termin stehen dem Gericht zur Gewährleistung eines ordnungsgemäßen Verfahrens – im Hinblick auf das Erzwingen des Erscheinens des Zeugen – indes alle sich aus § 380f. ZPO ergebenden prozessualen Instrumentarien (hier insbesondere die Maßnahme der Vorführung) zur Verfügung.

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Oberlandesgericht Oldenburg, Beschluss vom 30. August 2016 – 8 W 62/16

  1. zu den strengen Anforderungen an eine Terminsverlegung in solchen Fällen: vgl. OLG Bremen, Beschluss vom 20.04.2015 – 5 UF 96/14 = BeckRS 2015, 08591 mwN; BVerwG, Beschluss vom 22.05.2001 – 8 B 69/01 = NJW 2001, 2735/2736; BFH, Beschluss vom 17.05.2000 – IV B 86/99 = BFH/NV 2000, 1353; BGH, Urteil vom 04.06.2003 – VIII ZR 91/02 = NJW-RR 2003, 1192, 1194[]
  2. vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, NVwZ 2013, 247, 248; BFH, Beschluss vom 10.10.2007 – IV B 119/06, Rn. 10 – zitiert bei juris; OLGR Köln 1999, 14/15 [bereits für den Fall der bloßen Mitteilung seitens eines Prozessbevollmächtigten][]
  3. vgl. Stöber in Zöller, Zivilprozessordnung, 31. Aufl.2016, § 227 Rn. 6 und 8 mit umfangreichen Nachw[]
  4. vgl. BGH, Beschluss vom 22.06.2011 – I ZB 77/10, Rn. 16ff. = NJW-RR 2011, 1363f.; BVerfG, Beschluss vom 10.11.1997 – 2 BvR 429/97 = NJW 1998, 892, 893[]
  5. so: BFH, Beschluss vom 11.09.2013 – XI B 111/12, Rn. 6 = BFH/NV 2013, 1944, 1945; OLG Celle, Beschluss vom 19.02.2016 – 8 W 15/16 = BeckRS 2016, 04631; OLG Frankfurt, Beschluss vom 18.04.1983 – 17 W 14/83 = OLGZ 1983, 458, 459/460; in diesem Sinne: Berger in: Stein/Jonas, Zivilprozessordnung, 23. Aufl.2015, § 380 Rn. 6; Ahrens in: Der Beweis im Zivilprozess, 1. Aufl.2015, 8. Kapitel, Rn. 11; siehe hingegen: Ahrens in: Wieczorek/Schütze, Zivilprozessordnung, 4. Aufl.2013, § 380, Rn. 28; Damrau in: Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, 4. Aufl.2012, § 380 Rn. 5; Stackmann, Prozessuale Konsequenzen des Fernbleibens von Zeugen im Zivilrechtsstreit, JuS 2008, 974, 976; in diesem Sinne ferner Grüneberg, Ordnungsmittel gegen einen ausgebliebenen Zeugen?, MDR 1992, 326 mit einem Plädoyer für eine entsprechende Anwendung des § 47 Abs. 2 OWiG[]
  6. vgl. BGH, Urteil vom 06.11.1991 – XII ZR 240/90 = NJW 1992, 438, 439[]
  7. BGH, Beschluss vom 04.10.1982 – GSZ 1/82, Rn. 7 mwN = BGHZ 85, 64-75; vgl. Vollkommer in: Zöller wie vor, EINLEITUNG Rn. 92: „Verbot des Wortformalismus“[]
  8. vgl. Vollkommer in: Zöller wie vor, Einleitung, Rn. 93f. mit umfangreichen Nachw[]
  9. vgl. Greger in: Zöller wie vor, Vorbemerkungen zu §§ 128-252, Rn. 13[]
  10. vgl. BVerfG, Beschluss vom 14.07.1994 – 1 BvR 1595/92 und 1 BvR 1606/92 = NStZ 1995, 40, 41; Lückemann in Zöller wie vor, § 176 GVG, Rn. 5; Diemer in: Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 7. Auflage 2013, § 176 Rn. 1 mwN[]
  11. in diese Richtung gehend: BFH, Beschluss vom 11.09.2013 – XI B 111/12, Rn. 13 = BFH/NV 2013, 1944, 1945[]
  12. ebenso: OLG Hamm, Beschluss vom 10.08.2012 – I-20 W 27/12 = NJW-RR 2013, 384; Scheuch in: Beck’scher Online-Kommentar zur ZPO, Vorwerk/Wolf, 20. Edition, Stand: 01.03.2016, § 380 Rn. 1; Huber in: Musielak/Voit, Zivilprozessordnung, 13. Aufl.2016, § 380 Rn. 4; Trautwein in: Prüttung/Gehrlein, Zivilprozessordnung, 8 Aufl.2016, § 380 Rn. 8[]
  13. in diesem Sinne ebenfalls: OLG Hamm, Beschluss vom 10.08.2012 – I-20 W 27/12 = NJW-RR 2013, 384; OLG Koblenz, Beschluss vom 27.05.2005 – 11 WF 422/04 = OLGR Koblenz 2005, 187, 188; Huber in: Musielak/Voit wie vor, § 380 Rn. 4; Trautwein in: Prüttung/Gehrlein wie vor, § 380 Rn. 8; Ahrens in: Wieczorek/Schütze, Zivilprozessordnung, 4. Aufl.2013, § 380, Rn. 28; Reichold in: Thomas/Putzo, Zivilprozessordnung, 37. Aufl.2016, § 380 Rn. 9; Schneider in: Wartepflichten bei der Zeugenvernehmung, MDR 1998, 1205, 1206; KG, Beschluss vom 13.08.2013 – 21 W 37/13 = BeckRS 2013, 19155[]
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