Die äußerungsrechtliche einstweilige Verfügung – und die prozessuale Waffengleichheit

Der Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit ist eine Ausprägung der Rechtsstaatlichkeit und des allgemeinen Gleichheitssatzes im Zivilprozess und sichert verfassungsrechtlich die Gleichwertigkeit der prozessualen Stellung der Parteien vor Gericht.

Die äußerungsrechtliche einstweilige Verfügung – und die prozessuale Waffengleichheit

Das Gericht muss den Prozessparteien im Rahmen der Verfahrensordnung gleichermaßen die Möglichkeit einräumen, alles für die gerichtliche Entscheidung Erhebliche vorzutragen und alle zur Abwehr des gegnerischen Angriffs erforderlichen prozessualen Verteidigungsmittel selbständig geltend zu machen. Die prozessuale Waffengleichheit steht dabei im Zusammenhang mit dem Gehörsgrundsatz aus Art. 103 Abs. 1 GG, der eine besondere Ausprägung der Waffengleichheit ist. Als prozessuales Urrecht1 gebietet dieser, in einem gerichtlichen Verfahren der Gegenseite grundsätzlich vor einer Entscheidung Gehör und damit die Gelegenheit zu gewähren, auf eine bevorstehende gerichtliche Entscheidung Einfluss zu nehmen2.

Hiervon zu unterscheiden ist die Frage, wann über den Erlass einer einstweiligen Verfügung ohne mündliche Verhandlung entschieden werden kann.

Für die Beurteilung, wann ein dringender Fall im Sinne des § 937 Abs. 2 ZPO vorliegt und damit auf eine mündliche Verhandlung verzichtet werden kann, haben die Fachgerichte einen weiten Wertungsrahmen. Insbesondere dürfen sie dabei davon ausgehen, dass das Presserecht grundsätzlich von dem Erfordernis einer schnellen Reaktion geprägt ist, wenn es darum geht, gegen eine möglicherweise rechtswidrige Berichterstattung vorzugehen. Angesichts der durch das Internet, ständig aktualisierte Online-Angebote und die sozialen Medien noch beschleunigten Möglichkeit der Weiterverbreitung von Informationen kann es verfassungsrechtlich im Interesse effektiven Rechtsschutzes sogar geboten sein, Unterlassungs- ebenso wie Gegendarstellungsansprüchen3 in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur Berichterstattung zur Geltung zu verhelfen4.

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Die Annahme einer Dringlichkeit setzt freilich sowohl seitens des Antragstellers als auch seitens des Gerichts eine entsprechend zügige Verfahrensführung voraus. Der Verzicht auf eine mündliche Verhandlung ist nach der Entscheidung des Gesetzgebers nur in dem Maße gerechtfertigt, wie die Dringlichkeit es gebietet. Wenn sich im Verlauf des Verfahrens zeigt, dass eine unverzügliche Entscheidung anders als zunächst vorgesehen nicht zeitnah ergehen muss oder kann, hat das Gericht Veranlassung, die Frage der Dringlichkeit erneut zu überdenken und gegebenenfalls eine mündliche Verhandlung anzuberaumen und auf ihrer Grundlage zu entscheiden5.

Über eine einstweilige Verfügung gegen Veröffentlichungen der Presse wird gleichwohl angesichts der Eilbedürftigkeit nicht selten zunächst ohne mündliche Verhandlung entschieden werden müssen. Der Verzicht auf eine mündliche Verhandlung berechtigt demgegenüber aber nicht ohne weiteres dazu, die Gegenseite bis zur Entscheidung über den Verfügungsantrag generell aus dem Verfahren herauszuhalten. Nach dem Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit kommt eine stattgebende Entscheidung über den Verfügungsantrag vielmehr grundsätzlich nur in Betracht, wenn die Gegenseite zuvor die Möglichkeit hatte, auf das mit dem Antrag geltend gemachte Vorbringen zu erwidern. Dabei kann nach Art und Zeitpunkt der Gehörsgewährung differenziert und auf die Umstände des Einzelfalls abgestellt werden6.

Gehör ist auch zu gewähren, wenn das Gericht dem Antragsteller Hinweise nach § 139 ZPO erteilt. Entsprechend ist es verfassungsrechtlich geboten, den jeweiligen Gegner vor Erlass einer Entscheidung in den gleichen Kenntnisstand zu versetzen wie den Antragsteller. Dies gilt insbesondere, wenn es bei Rechtsauskünften in Hinweisform darum geht, einen Antrag gleichsam nachzubessern oder eine Einschätzung zu den Erfolgsaussichten oder dem Vorliegen der Dringlichkeit nach § 937 Abs. 2 ZPO abzugeben. Erst recht ist dem Gegner Gelegenheit zur Stellungnahme einzuräumen, wenn der Antragsteller aufgrund eines gerichtlichen Hinweises seinen Antrag anpasst7.

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Nach diesen Maßstäben verletzt der hier angegriffene Beschluss des Landgerichts Hamburg8 die beschwerdeführende Presseverlegerin offenkundig in ihrem grundrechtsgleichen Recht auf prozessuale Waffengleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art.20 Abs. 3 GG:

In zeitlicher Hinsicht ausgeführt hat das Landgericht allein, weshalb es einen Verfügungsgrund nach § 935 ZPO für gegeben erachtet hat. Weshalb es darüber hinaus einen dringenden Fall im Sinne von § 937 Abs. 2 ZPO angenommen und deshalb von einer mündlichen Verhandlung abgesehen hat, obschon eine solche auch vor der Entscheidung über einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung die Regel ist9, lässt sich seiner Entscheidung – abgesehen von der formelhaften Wendung „wegen Dringlichkeit“ – nicht entnehmen.

Dabei kann offenbleiben, ob eine solche Dringlichkeit – wie die Verlegerin bereits in Abrede stellt – jedenfalls bei Einleitung des Verfahrens bestand. Erstreckt sich ein einstweiliges Verfügungsverfahren über mehr als acht Wochen zwischen Antragstellung und Entscheidungsausfertigung, steht eine solche Verfahrensweise jedenfalls in äußerungsrechtlichen Angelegenheiten regelmäßig in Widerspruch zu der für das Absehen von einer mündlichen Verhandlung in Anspruch genommenen gesteigerten Dringlichkeit. Gründe, die im vorliegenden Fall eine abweichende Einschätzung rechtfertigen könnten, sind nicht ersichtlich. Indem das Landgericht seit dem 28.03.2023 Zweifel bereits am Vorliegen eines Verfügungsgrundes im Sinne von § 935 ZPO äußerte, insoweit gleich zwei Mal – im Abstand von zudem drei Wochen – die Notwendigkeit sah, Hinweise zu erteilen, es drei Fristverlängerungsanträgen stattgab, insgesamt fünf Schriftsätze abwartete und sowohl innerhalb seines Verfahrens mehrfach eine Woche ohne verfahrensleitende Maßnahmen verstreichen ließ, wie auch nach seiner Entscheidung noch eine ganze Woche bis zu deren Ausfertigung verging, zeigt seine Verfahrensführung vielmehr, dass eine unverzügliche Entscheidung anders als zunächst vorgesehen nicht zeitnah ergehen musste oder konnte. Dann aber war das Landgericht unbeschadet des ihm in § 937 Abs. 2 ZPO eröffneten Wertungsrahmens nach den genannten Maßstäben der prozessualen Waffengleichheit gehalten, die Frage der Dringlichkeit im Laufe seines Verfahrens erneut zu überdenken und die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung in Erwägung zu ziehen, wie die Verlegerin dies bereits in ihrem Schriftsatz vom 21.03.2023 angemahnt hatte, der die Pressekammer zu ihren Hinweisen veranlasst hatte.

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Ungeachtet dessen wurde die Verlegerin in ihrem Recht auf prozessuale Waffengleichheit aber auch insoweit verletzt, als das Landgericht seine wiederholt geäußerten Bedenken am Bestehen eines Verfügungsgrundes durch den im Schriftsatz des Antragstellers vom 24.04.2023 glaubhaft gemachten ergänzenden Vortrag zu den Umständen der Mandatierung seines Prozessbevollmächtigten schließlich als ausgeräumt betrachtete, ohne diesen Schriftsatz der Verlegerin vor seiner Entscheidung noch zur Kenntnis zu bringen. Weshalb es hiervon abgesehen hat, während es zuvor stets kurze Stellungnahmefristen gesetzt hatte, und obschon vom Eingang dieses Schriftsatzes am 24.04.2023 bis zur Entscheidung vom 03.05.2023 weitere fünf Arbeitstage vergingen, erschließt sich ebensowenig.

Soweit die Reduzierung der Eilbedürftigkeit nach § 935 ZPO auf die Wahrung einer durch das Landgericht weder begründeten noch konkret hinterfragten fünfwöchigen „Regelfrist“ verfassungsrechtlichen Zweifeln unterliegen dürfte, bedarf dies im vorliegenden Fall keiner Entscheidung. Auch auf eine Prüfung der Verletzung weiterer Grundrechte kommt es angesichts des festgestellten Verstoßes gegen die prozessuale Waffengleichheit nicht an.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 15. Juni 2023 – 1 BvR 1011/23

  1. vgl. BVerfGE 70, 180 <188>[]
  2. vgl. BVerfGE 9, 89 <96 f.> 57, 346 <359>[]
  3. vgl. dazu BVerfGE 63, 131 <143>[]
  4. vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 21.04.2022 – 1 BvR 812/22, Rn. 21; vom 04.02.2021 – 1 BvR 2743/19, Rn. 22; vom 06.02.2021 – 1 BvR 249/21, Rn. 21; vom 11.01.2021 – 1 BvR 2681/20, Rn. 30; vom 22.12.2020 – 1 BvR 2740/20, Rn.20; Beschlüsse vom 30.09.2018 – 1 BvR 2421/17, Rn. 32 und – 1 BvR 1783/17, Rn.19[]
  5. vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 21.04.2022 – 1 BvR 812/22, Rn. 21; vom 04.02.2021 – 1 BvR 2743/19, Rn. 22; vom 06.02.2021 – 1 BvR 249/21, Rn. 21; vom 11.01.2021 – 1 BvR 2681/20, Rn. 30; vom 22.12.2020 – 1 BvR 2740/20, Rn.20; Beschlüsse vom 30.09.2018 – 1 BvR 2421/17, Rn. 32 und – 1 BvR 1783/17, Rn.20[]
  6. vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.05.2023 – 1 BvR 605/23, Rn. 26; Beschlüsse vom 21.04.2022 – 1 BvR 812/22, Rn. 22; vom 11.01.2022 – 1 BvR 123/21, Rn. 37; vom 04.02.2021 – 1 BvR 2743/19, Rn. 23; vom 06.02.2021 – 1 BvR 249/21, Rn. 22; vom 11.01.2021 – 1 BvR 2681/20, Rn. 31; vom 22.12.2020 – 1 BvR 2740/20, Rn. 21; Beschlüsse vom 30.09.2018 – 1 BvR 2421/17, Rn. 33 und – 1 BvR 1783/17, Rn. 21 ff.[]
  7. vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 11.01.2022 – 1 BvR 123/21, Rn. 37; vom 11.01.2021 – 1 BvR 2681/20, Rn. 33, 36; vom 22.12.2020 – 1 BvR 2740/20, Rn. 23, 26; Beschlüsse vom 30.09.2018 – 1 BvR 2421/17, Rn. 36 und – 1 BvR 1783/17, Rn. 24[]
  8. LG Hamburg, Beschluss vom 03.05.2023 – 324 O 102/23[]
  9. vgl. BVerfG, Beschluss vom 13.12.2016 – 2 BvR 617/16, Rn. 12[]
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