Das Bundesverfassungsgericht hat erneut eine im Beschlusswege ergangene einstweilige Verfügung der Pressekammer des Landgerichts Berlin1 aufgehoben, weil die Berliner Pressekammer zum wiederholten Male die Anforderungen an die Verfahrenshandhabung in äußerungsrechtlichen Eilverfahren verkennt2.

Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung gemäß § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 BVerfGG hat das Bundesverfassungsgericht bejaht. Die für die Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Rechtsfragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung der Rechte des Beschwerdeführers angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und offensichtlich begründet.
Die Verfassungsbeschwerde wurde binnen eines Monats und damit gemäß § 93 Abs. 1 BVerfGG fristgerecht erhoben und ist auch im Übrigen zulässig.
Insbesondere ist der Rechtsweg, ungeachtet des fortdauernden Ausgangsverfahrens, erschöpft (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG). Der Beschwerdeführer macht eine Rechtsverletzung unmittelbar durch die Handhabung des Prozessrechts im Verfahren über den Erlass einer äußerungsrechtlichen einstweiligen Verfügung geltend. Er wendet sich dabei gegen ein bewusstes Übergehen seiner prozessualen Rechte. Mit dem Antrag auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung kann eine Missachtung von Verfahrensrechten als solche nicht geltend gemacht werden3, weil er von den Erfolgsaussichten in der Sache abhängt. Auch sonst gibt es keinen Rechtsbehelf, mit dem eine Verletzung der prozessualen Waffengleichheit eigens als solche vor den Fachgerichten geltend gemacht werden könnte. Die Verfassungsbeschwerde kann daher ausnahmsweise unmittelbar gegen die einstweilige Verfügung erhoben werden4.
Zwar kann nicht jede Verletzung prozessualer Rechte unter Berufung auf die prozessuale Waffengleichheit im Wege einer auf Feststellung gerichteten Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden. Vielmehr bedarf es eines hinreichend gewichtigen Feststellungsinteresses5. Ein solches ist vorliegend aber bereits deshalb als gegeben anzusehen, weil die Berliner Pressekammer zum wiederholten Male die Anforderungen an die Verfahrenshandhabung in äußerungsrechtlichen Eilverfahren verkennt2.
Der Beschluss des Landgerichts Berlin vom 12.09.2022 verletzt den Beschwerdeführer in seinem grundrechtsgleichen Recht auf prozessuale Waffengleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art.20 Abs. 3 GG.
Der Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit ist eine Ausprägung der Rechtsstaatlichkeit und des allgemeinen Gleichheitssatzes im Zivilprozess und sichert verfassungsrechtlich die Gleichwertigkeit der prozessualen Stellung der Parteien vor Gericht. Das Gericht muss den Prozessparteien im Rahmen der Verfahrensordnung gleichermaßen die Möglichkeit einräumen, alles für die gerichtliche Entscheidung Erhebliche vorzutragen und alle zur Abwehr des gegnerischen Angriffs erforderlichen prozessualen Verteidigungsmittel selbständig geltend zu machen. Die prozessuale Waffengleichheit steht dabei im Zusammenhang mit dem Gehörsgrundsatz aus Art. 103 Abs. 1 GG, der eine besondere Ausprägung der Waffengleichheit ist. Als prozessuales Urrecht6 gebietet dieser, in einem gerichtlichen Verfahren der Gegenseite grundsätzlich vor einer Entscheidung Gehör und damit die Gelegenheit zu gewähren, auf eine bevorstehende gerichtliche Entscheidung Einfluss zu nehmen7.
Entbehrlich ist eine vorherige Anhörung nur in Ausnahmefällen. Voraussetzung der Verweisung auf eine nachträgliche Anhörung ist, dass ansonsten der Zweck des einstweiligen Verfügungsverfahrens vereitelt würde8. Im Presse- und Äußerungsrecht kann jedenfalls nicht als Regel von einer Erforderlichkeit der Überraschung des Gegners bei der Geltendmachung von Ansprüchen ausgegangen werden9. Auch wenn über Verfügungsanträge in äußerungsrechtlichen Angelegenheiten angesichts der Eilbedürftigkeit nicht selten zunächst ohne mündliche Verhandlung entschieden werden muss, berechtigt dies das Gericht nicht dazu, die Gegenseite bis zur Entscheidung über den Verfügungsantrag aus dem Verfahren herauszuhalten10. Eine stattgebende Entscheidung über den Verfügungsantrag kommt grundsätzlich nur in Betracht, wenn die Gegenseite die Möglichkeit hatte, auf das mit dem Antrag und weiteren an das Gericht gerichteten Schriftsätzen geltend gemachte Vorbringen zu erwidern11.
Dabei ist von Verfassungs wegen nichts dagegen zu erinnern, wenn das Gericht in Eilverfahren auch die Möglichkeiten einbezieht, die es der Gegenseite vorprozessual erlauben, sich zu dem Verfügungsantrag zu äußern, wenn sichergestellt ist, dass solche Äußerungen vollständig dem Gericht vorliegen. Hierfür kann auf die Möglichkeit zur Erwiderung gegenüber einer dem Verfügungsverfahren vorangehenden Abmahnung abgestellt werden. Dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit genügen die Erwiderungsmöglichkeiten auf eine Abmahnung allerdings nur dann, wenn folgende Voraussetzungen kumulativ vorliegen: der Verfügungsantrag muss im Anschluss an die Abmahnung unverzüglich nach Ablauf einer angemessenen Frist für die begehrte Unterlassungserklärung bei Gericht eingereicht werden; die abgemahnte Äußerung sowie die Begründung für die begehrte Unterlassung müssen mit dem bei Gericht geltend gemachten Unterlassungsbegehren identisch sein; der Antragsteller muss ein etwaiges Zurückweisungsschreiben des Antragsgegners zusammen mit seiner Antragsschrift bei Gericht einreichen. Demgegenüber ist dem Antragsgegner Gehör zu gewähren, wenn er nicht in der gehörigen Form abgemahnt wurde oder der Antrag vor Gericht in anderer Weise als in der Abmahnung oder mit ergänzendem Vortrag begründet wird12.
Um der herausragenden Bedeutung der prozessualen Waffengleichheit gerecht zu werden, sind die Voraussetzungen, unter denen von einer Anhörung des Antragsgegners ausnahmsweise abgesehen werden kann, eng begrenzt. So wird eine besondere, eine Anhörung des Antragsgegners ausnahmsweise entbehrlich machende Dringlichkeit in äußerungsrechtlichen Fallkonstellationen im Regelfall zu verneinen sein, wenn der Antragsteller vom Ablauf der außergerichtlich eingeräumten Äußerungsfrist bis zur gerichtlichen Antragstellung ein Mehrfaches jener Zeit verstreichen lässt, die er dem Antragsgegner als außergerichtliche Frist gewährt hatte13. Auch wird inhaltlich regelmäßig bereits dann keine gleichwertige Erwiderungsmöglichkeit bestehen, wenn das Antragsbegehren erstmals im gerichtlichen Verfahren durch Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung glaubhaft gemacht wird. Denn soweit ein ohne Glaubhaftmachung angekündigter Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung gemäß § 936 ZPO in Verbindung mit § 922 Abs. 2 ZPO keine Aussicht auf Erfolg bietet, braucht sich der Antragsgegner ungleich weniger zu einer Stellungnahme veranlasst sehen als durch eine außergerichtliche Abmahnung, die erkennbar bereits die prozessualen Voraussetzungen erfüllt14. Das Gebot schließlich, zusammen mit der Antragsschrift ein etwaiges Zurückweisungsschreiben des Antragsgegners bei Gericht einzureichen, ist in einem weiten Sinne zu verstehen und schließt deshalb jegliche – auch automatisierte – Rückäußerungen des Antragsgegners ein, die für die inhaltliche Beurteilung des Antrags oder auch nur für die Verfahrenshandhabung durch das Gericht von Bedeutung sind.
Eine ohne Anhörung des Antragsgegners zu dessen Nachteil ergangene Entscheidung muss erkennen lassen, dass sich das Gericht des Ausnahmecharakters seiner Verfahrenshandhabung bewusst war. Insbesondere dürfen weniger einschneidende Alternativen nicht bestanden haben. Das setzt im Regelfall voraus, dass es auch nicht möglich war, dem Antragsgegner fernmündlich, durch E-Mail oder Telefax Gelegenheit zu geben, den Vortrag des Antragstellers zur Kenntnis zu nehmen und – gegebenenfalls auch kurzfristig – zu erwidern15. Eine auch hiervon absehende Entscheidung wird den verfassungsrechtlichen Anforderungen in äußerungsrechtlichen Eilverfahren nur im Ausnahmefall genügen. In jedem Fall unzulässig ist es, wegen einer gegebenenfalls durch die Anhörung des Antragsgegners befürchteten Verzögerung oder wegen einer durch die Stellungnahme erforderlichen, arbeitsintensiven Auseinandersetzung mit dem Vortrag des Antragsgegners bereits in einem frühen Verfahrensstadium gänzlich von einer Einbeziehung der Gegenseite abzusehen und sie stattdessen bis zum Zeitpunkt der auf Widerspruch hin anberaumten mündlichen Verhandlung mit einem einseitig erstrittenen gerichtlichen Unterlassungstitel zu belasten16.
Nach diesen Maßstäben verletzt der angegriffene Beschluss den Beschwerdeführer offenkundig in seinem grundrechtsgleichen Recht auf prozessuale Waffengleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art.20 Abs. 3 GG.
Während die dem Beschwerdeführer durch den Antragsteller zunächst am 1.09.2022 eingeräumte Stellungnahmefrist nicht einmal fünf Stunden betrug und die zweite, am Folgetag neu gesetzte Stellungnahmefrist nicht einmal vier Stunden, richtete der Antragsteller seinen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung erst am 9.09.2022 an das Landgericht und damit acht Tage nach Ablauf der ersten und sieben Tage nach Ablauf der zweiten Frist. Aufgrund der Beifügung beider Schriftsätze als Anlagen zur Antragsschrift standen dem Landgericht diese zeitlichen Abläufe vor Augen. Ebenso offensichtlich war, dass die der Antragsschrift beigefügte eidesstattliche Versicherung des Antragstellers bereits vom 01.09.2022 datierte, dem Beschwerdeführer jedoch weder mit der ersten noch mit der zweiten Abmahnung zur Kenntnis gebracht worden war. Überdies hatte die Pressekammer vor ihrer Entscheidung Kenntnis davon, dass der Beschwerdeführer den Antragsteller noch am 12.09.2022 um 09:59 Uhr ausdrücklich darum gebeten hatte, ihm die dem Gericht vorgelegte eidesstattliche Versicherung zu übersenden, um sich zu deren Inhalt gegebenenfalls einlassen zu können.
Wenn das Landgericht formelhaft ausführt, eine Anhörung des Antragsgegners durch das Gericht sei nicht erforderlich gewesen, weil die Abmahnung der Antragsschrift inhaltlich entspreche, trifft dies mithin schon nicht zu, da der Beschwerdeführer keine Kenntnis vom Inhalt der eidesstattlichen Versicherung hatte. Nicht nachvollziehbar ist ebenso, weshalb das Landgericht am 12.09.2022 von einer Übersendung der bereits drei Tage zuvor eingegangenen Antragsschrift nebst Anlagen abgesehen hat, obschon es Kenntnis von einer durch den Antragsteller ergänzend gewährten Stellungnahmefrist und der im Zuge dessen ausdrücklich geäußerten Bitte des Beschwerdeführers um Übersendung der eidesstattlichen Versicherung besaß. Soweit das Landgericht die Anhörung des Antragsgegners als „nicht erforderlich“ bezeichnet, missversteht es die verfassungsrechtlichen Anforderungen aber auch grundsätzlich. Denn nach diesen ist die Anhörung des Antragsgegners keiner Erforderlichkeitsprüfung zu unterziehen, sondern der umgekehrten Überlegung, ob von einer Anhörung ausnahmsweise abgesehen werden darf. Der besonderen Eilbedürftigkeit, die weniger einschneidende Alternativen der Verfahrenshandhabung nicht gestattet, hätte es im vorliegenden Verfahren daher selbst dann bedurft, wenn Abmahnung und gerichtlicher Antrag – wie das Landgericht angenommen hat – tatsächlich identisch gewesen wären. Da die zeitlichen und inhaltlichen Anforderungen an das Absehen von einer Anhörung im Interesse der prozessualen Waffengleichheit kumulative Voraussetzungen bilden, ist es dem Gericht verwehrt, den Antragsgegner allein schon deshalb aus dem Verfahren herauszuhalten, weil ihm das Vorbringen bereits bekannt war17.
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 10. November 2022 – 1 BvR 1941 – /22
- LG Berlin, Beschluss vom 12.09.2022 – 27 O 367/22[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 11.01.2022 – 1 BvR 123/21, Rn. 32, 42[↩][↩]
- vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 03.06.2020 – 1 BvR 1246/20, Rn. 12; vom 17.06.2020 – 1 BvR 1380/20, Rn. 12[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 30.09.2018 – 1 BvR 1783/17, Rn. 10; Beschlüsse vom 03.06.2020 – 1 BvR 1246/20, Rn. 12; vom 17.06.2020 – 1 BvR 1380/20, Rn. 12; vom 22.12.2020 – 1 BvR 2740/20, Rn. 16; vom 06.02.2021 – 1 BvR 249/21, Rn. 16; vom 01.12.2021 – 1 BvR 2708/19, Rn. 18; vom 11.01.2022 – 1 BvR 123/21, Rn. 29; vom 21.04.2022 – 1 BvR 812/22, Rn. 16[↩]
- vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 30.09.2018 – 1 BvR 1783/17, Rn. 11; vom 30.09.2018 – 1 BvR 2421/17, Rn. 24; Beschlüsse vom 08.10.2019 – 1 BvR 1078/19 u.a., Rn. 3; vom 27.07.2020 – 1 BvR 1379/20, Rn. 9; vom 04.02.2021 – 1 BvR 2743/19, Rn. 15 ff.[↩]
- vgl. BVerfGE 70, 180 <188>[↩]
- vgl. BVerfGE 9, 89 <96 f.> 57, 346 <359>[↩]
- vgl. näher BVerfG, Beschluss vom 30.09.2018 – 1 BvR 1783/17, Rn. 15[↩]
- vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 30.09.2018 – 1 BvR 2421/17, Rn. 31; Beschlüsse vom 04.02.2021 – 1 BvR 2743/19, Rn. 21; vom 21.04.2022 – 1 BvR 812/22, Rn.20[↩]
- vgl. näher BVerfG, Beschluss vom 30.09.2018 – 1 BvR 1783/17, Rn. 21 ff.[↩]
- vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 22.12.2020 – 1 BvR 2740/20, Rn. 21; vom 04.02.2021 – 1 BvR 2743/19, Rn. 23; vom 21.04.2022 – 1 BvR 812/22, Rn. 22[↩]
- vgl. näher BVerfG, Beschluss vom 30.09.2018 – 1 BvR 1783/17, Rn. 22 ff. sowie Beschlüsse vom 03.06.2020 – 1 BvR 1246/20, Rn. 18 f.; vom 17.06.2020 – 1 BvR 1380/20, Rn. 14; vom 22.12.2020 – 1 BvR 2740/20, Rn. 22; vom 04.02.2021 – 1 BvR 2743/19, Rn. 25; vom 01.12.2021 – 1 BvR 2708/19, Rn. 28; vom 21.04.2022 – 1 BvR 812/22, Rn. 23[↩]
- vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 06.02.2021 – 1 BvR 249/21, Rn. 25; vom 04.02.2021 – 1 BvR 2743/19, Rn. 27[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 17.06.2020 – 1 BvR 1380/20, Rn. 16[↩]
- vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 03.06.2020 – 1 BvR 1246/20, Rn. 21; vom 17.06.2020 – 1 BvR 1380/20, Rn. 16; vom 11.01.2021 – 1 BvR 2681/20, Rn. 35; vom 21.04.2022 – 1 BvR 812/22, Rn. 25[↩]
- vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 03.06.2020 – 1 BvR 1246/20, Rn. 23; vom 22.12.2020 – 1 BvR 2740/20, Rn. 27; vom 11.01.2021 – 1 BvR 2681/20, Rn. 37; vom 04.02.2021 – 1 BvR 2743/19, Rn. 29; vom 01.12.2021 – 1 BvR 2708/19, Rn. 32; vom 11.01.2022 – 1 BvR 123/21, Rn. 40; vom 21.04.2022 – 1 BvR 812/22, Rn. 25[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 30.09.2018 – 1 BvR 1783/17, Rn. 21 ff.; Beschluss vom 11.01.2021 – 1 BvR 2681/20, Rn. 32[↩]
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