Die Frage nach dem Zustellungsdatum – und die Haftung des Anwalts

Aktuell hatte sich der Bundesgerichtshof mit der Frage zu befassen, inwieweit sich ein Rechtsanwalt auf Angaben seines Mandanten über den Zeitpunkt des Zugangs eines Kündigungsschreibens verlassen darf:

Die Frage nach dem Zustellungsdatum – und die Haftung des Anwalts

Die im Ausgangsfall von der Mandantin gewünschte Kündigungsschutzklage musste nach § 4 Abs. 1 Satz 1 KSchG innerhalb einer Frist von drei Wochen nach Zugang der schriftlichen Kündigung erhoben werden. Der Rechtsanwalt durfte die Einreichung der Klage deshalb nur dann bis zum 13.01.2012 aufschieben, wenn gesichert war, dass die Kündigung nicht vor dem 23.12.2011 zugegangen war. Ohne weitere Nachfragen durfte er hiervon selbst dann nicht ausgehen, wenn was das Berufungsgericht zugrunde gelegt hat der Ehemann der Mandantin ihm mitteilte, dass die Kündigung am 23.12.2011 zugestellt worden sei.

Die Pflicht des Rechtsanwalts zur richtigen und vollständigen Beratung des Mandanten setzt voraus, dass er zunächst durch Befragung seines Auftraggebers den Sachverhalt klärt, auf den es für die rechtliche Beurteilung ankommen kann. Ist der mitgeteilte Sachverhalt unklar oder unvollständig, darf der Rechtsanwalt sich nicht mit der rechtlichen Würdigung des ihm Vorgetragenen begnügen, sondern muss sich bemühen, durch Befragung des Ratsuchenden ein möglichst vollständiges und objektives Bild der Sachlage zu gewinnen1. Auf die Richtigkeit tatsächlicher Angaben seines Mandanten darf der Rechtsanwalt dabei so lange vertrauen und braucht insoweit keine eigenen Nachforschungen anzustellen, als er die Unrichtigkeit der Angaben weder kennt noch erkennen muss2. Dies gilt jedoch nur für Informationen tatsächlicher Art, nicht für die rechtliche Beurteilung eines tatsächlichen Geschehens. Bei rechtlichen Angaben des Mandanten muss der Anwalt damit rechnen, dass der Mandant die damit verbundenen Beurteilungen nicht verlässlich genug allein vornehmen kann, weil ihm entsprechende Erfahrungen und Kenntnisse fehlen3. Die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts dient in der Regel gerade dem Zweck, die rechtliche Beurteilung eines Sachverhalts in fachkundige Hände zu legen. Die Ausnahme, dass sich ein Rechtsanwalt grundsätzlich auf tatsächliche Angaben seines Mandanten verlassen darf, gilt deshalb nicht in Bezug auf Informationen, die nur scheinbar tatsächlicher Natur sind4. Teilt der Mandant insbesondere sogenannte Rechtstatsachen mit, hat der Anwalt sie durch Rückfragen in die zugrundeliegenden tatsächlichen Umstände und Vorgänge aufzulösen oder, sofern dies keine zuverlässige Klärung erwarten lässt, weitere Ermittlungen anzustellen5.

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Nach diesen Grundsätzen hat der Rechtsanwalt im Streitfall seine Pflichten verletzt:

Angaben des Mandanten über den Zugang einer Kündigung betreffen nicht anders als Angaben über die Zustellung eines Urteils6 eine sogenannte Rechtstatsache7. Der im Gesetz verwendete Begriff des Zugangs wird rechtlich bestimmt. Der Zugang einer Willenserklärung unter Abwesenden setzt voraus, dass sie so in den Bereich des Empfängers gelangt ist, dass dieser unter normalen Verhältnissen die Möglichkeit hat; vom Inhalt der Erklärung Kenntnis zu nehmen8. Wird ein Brief in den Briefkasten des Empfängers eingeworfen, ist der Zugang bewirkt, sobald nach der Verkehrsanschauung mit der nächsten Entnahme zu rechnen ist9. Ein Schreiben gilt deshalb dann als am Tag seines Einwurfs in den Briefkasten als zugegangen, wenn nach den Gepflogenheiten des Verkehrs eine Entnahme durch den Adressaten noch am gleichen Tag zu erwarten war10. Erreicht eine Erklärung den Briefkasten des Empfängers dagegen zu einer Tageszeit, zu der nach den Gepflogenheiten des Verkehrs eine Entnahme durch den Adressaten nicht mehr erwartet werden kann, ist die Willenserklärung nicht mehr an diesem Tag, sondern erst zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen11.

Vor diesem Hintergrund durfte der Rechtsanwalt die Mitteilung, das Kündigungsschreiben sei am 23.12 zugestellt worden, nicht ohne weiteres seinem Vorgehen zugrunde legen. Das vom Ehemann der Mandantin vorgelegte Kündigungsschreiben datierte vom 22.12 2011 und war mit der Aufschrift „per Boten“ versehen. Danach kam in Betracht, dass das Schreiben bereits am 22.12 2011 durch einen Boten zu einer Tageszeit in den Briefkasten der Mandantin eingeworfen wurde, als mit einer Entnahme noch am selben Tag gerechnet werden konnte. Eine solche Möglichkeit konnte der Rechtsanwalt auch nicht aufgrund der Äußerung des Ehemannes der Mandantin ausschließen. Dies wäre nur dann der Fall, wenn die Mitteilung des Ehemannes, die Zustellung sei am 23.12 2011 erfolgt, zweifelsfrei dahin zu verstehen gewesen wäre, dass am Tag zuvor der Briefkasten nach dem Zeitpunkt geleert worden sei, zu dem noch mit einer Entnahme gerechnet werden konnte, und dabei das Kündigungsschreiben nicht vorgefunden worden sei. Ein solches Verständnis der Mitteilung würde voraussetzen, dass der Ehemann der Mandantin sich erkennbar der Kriterien bewusst war, die für die Bestimmung des Zeitpunkts des Zugangs maßgeblich sind. Dafür gab es jedoch keine Anhaltspunkte. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts kann ein solches Bewusstsein weder allgemein vorausgesetzt werden noch sind Umstände festgestellt, die im Streitfall dem Rechtsanwalt Gewissheit über entsprechende Kenntnisse des Ehemannes der Mandantin hätten verschaffen können. Der Rechtsanwalt war deshalb verpflichtet, sich durch Nachfragen beim Ehemann der Mandantin oder bei der Mandantin selbst Klarheit darüber zu verschaffen, ob das Kündigungsschreiben nicht bereits am 22.12 2011 zugegangen sein konnte. Falls dies nicht sicher ausgeschlossen werden konnte, war er verpflichtet, den sichersten Weg zu wählen und die Kündigungsschutzklage bereits am 12.01.2012 einzureichen. Indem der Rechtsanwalt die Angabe des Ehemannes der Mandantin seinem weiteren Vorgehen ungeprüft zugrunde legte, handelte er pflichtwidrig. Dafür, dass der Rechtsanwalt die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hätte (§ 280 Abs. 1 Satz 2 BGB), spricht nichts.

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Die Zurückweisung der Berufung wurde im vorliegenden Fall auch nicht von der Begründung des Berufungsgerichts getragen, die Mandantin habe nicht schlüssig vorgetragen, dass eine unterstellte Pflichtverletzung des Rechtsanwalts den eingetretenen Schaden verursacht habe, weil sie nicht dargelegt habe, was dem Rechtsanwalt auf eine Nachfrage zum Zeitpunkt des Zugangs geantwortet worden wäre. Diese Beurteilung beruht auf einem Verfahrensfehler. Das Berufungsgericht durfte die Darlegung der Mandantin nicht als unschlüssig behandeln, ohne ihr weitere Gelegenheit zum Vortrag zu geben.

Bundesgerichtshof, Urteil vom 14. Februar 2019 – IX ZR 181/17

  1. BGH, Urteil vom 21.11.1960 – III ZR 160/59, NJW 1961, 601, 602; vom 02.04.1998 – IX ZR 107/97, NJW 1998, 2048, 2049; vom 19.01.2006 – IX ZR 232/01, NJW-RR 2006, 923 Rn. 22 mwN[]
  2. etwa BGH, Urteil vom 21.04.1994 – IX ZR 150/93, NJW 1994, 2293; vom 02.04.1998, aaO[]
  3. BGH, Urteil vom 15.01.1985 – VI ZR 65/83, NJW 1985, 1154, 1155[]
  4. BGH, Urteil vom 21.11.1960, aaO; vom 15.01.1985, aaO[]
  5. BGH, Urteil vom 21.04.1994, aaO; Beschluss vom 07.03.1995 – VI ZB 3/95, NJW-RR 1995, 825, 826; Urteil vom 20.06.1996 – IX ZR 106/95, NJW 1996, 2929, 2931; vom 18.11.1999 – IX ZR 420/97, NJW 2000, 730, 731; Weinland in Henssler/Gehrlein/Holzinger, Handbuch der Beraterhaftung, Kap. 3 Rn. 128; Vill in G. Fischer/Vill/D. Fischer/Rinkler/Chab, Handbuch der Anwaltshaftung, 4. Aufl., § 2 Rn. 42; Heinemann in Vollkommer/Greger/Heinemann, Anwaltshaftungsrecht, 4. Aufl., § 10 Rn. 17; Fahrendorf/Mennemeyer, Die Haftung des Rechtsanwalts, 9. Aufl., Rn. 495 ff[]
  6. vgl. dazu BGH, Urteil vom 21.04.1994, aaO; Beschluss vom 07.03.1995, aaO[]
  7. vgl. BGH, Beschluss vom 17.07.2002 – IX ZR 418/98 4; dazu Jungk, BRAKMitt.2002, 267[]
  8. BGH, Beschluss vom 21.06.2011 – II ZB 15/10, WM 2011, 1531 Rn. 15[]
  9. BGH, Urteil vom 05.12 2007 XII ZR 148/05, NJW 2008, 843[]
  10. vgl. OLG Karlsruhe, Urteil vom 09.02.2018 8 U 117/1719 ff[]
  11. vgl. etwa BAG, NJW 1984, 1651 f[]
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