Auch wenn es grundsätzlich im pflichtgemäßen Ermessen des Berufungsgerichts steht, ob und inwieweit eine im ersten Rechtszug durchgeführte Beweisaufnahme zu wiederholen ist, kann von einer erneuten mündlichen Anhörung des Sachverständigen jedenfalls dann nicht abgesehen werden, wenn das Berufungsgericht dessen Ausführungen abweichend von der Vorinstanz würdigen will1.

So hätte auch in dem hier vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall das Oberlandesgericht München in der Berufungsinstanz nach § 529 Abs. 1 Nr. 1, §§ 398, 402 ZPO den Sachverständigen des unfallanalytischen Gutachtens erneut angehören müssen, da es dessen Ausführungen anders gewürdigt hat2 als das erstinstanzlich tätige Landgericht Passau3:
Auch wenn es grundsätzlich im pflichtgemäßen Ermessen des Berufungsgerichts steht, ob und inwieweit eine im ersten Rechtszug durchgeführte Beweisaufnahme zu wiederholen ist, bedarf es dann einer erneuten Anhörung des Sachverständigen durch das Berufungsgericht, wenn es dessen Ausführungen abweichend von der Vorinstanz würdigen will, insbesondere ein anderes Verständnis der Ausführungen des Sachverständigen zugrunde legen und damit andere Schlüsse aus diesen ziehen will als der Erstrichter4. Insoweit kann nichts Anderes gelten als bei der abweichenden Beurteilung von Zeugenaussagen erster Instanz5.
Gegen diese Grundsätze hat das Berufungsgericht verstoßen. Das Landgericht hat dem schriftlichen Gutachten und den protokollierten Äußerungen des Sachverständigen für die Unfallanalyse S. bei seiner Anhörung entnommen, dass der Sachverständige keine Möglichkeit eines Kausalitätsnachweises gesehen habe, da nicht ausgeschlossen werden könne, dass die konkret eingehaltene Sitzposition auch bei angelegtem Gurt zu einem Kontakt mit der Instrumententafel führe, weil sich zum einen die Knie des Klägers fahrzeugbauartbedingt in unmittelbarer Nähe der Instrumententafel befunden hätten und zudem nicht ausgeschlossen werden könne, dass es als Folge der Kollision zu einer Intrusion von Bauteilen ins Fahrzeug und damit zu einem Kontakt mit den Knien des Klägers gekommen sei. Demgegenüber hat das Berufungsgericht unter Berufung auf die schriftlichen und mündlichen Ausführungen des Sachverständigen vor dem Landgericht angenommen, dass bei Einnahme einer „normalen“ Sitzposition das Anlegen des Sicherheitsgurtes die Verletzungen gänzlich verhindert oder zumindest abgeschwächt hätte. Damit hat das Berufungsgericht die sachverständige Bewertung des möglichen Zusammenhangs des Nichtanlegens des Sicherheitsgurtes mit den Knieverletzungen in einer Weise verstanden, die mit den Ausführungen des Landgerichts nicht vereinbar ist.
Darüber hinaus hat der Kläger in dem vom Berufungsgericht nachgelassenen Schriftsatz ausgeführt, dass er sich an seine konkrete Sitzposition zwar nicht erinnern könne; aufgrund seiner aktuellen Sitzposition, seiner Körpergröße (189 cm) und seiner Beinlänge (102 cm), die er aufgrund medizinischer Sachverständigengutachten genau bezeichnen könne, sei aber von einer Sitzposition nah am Dashboard auszugehen. Diesen Vortrag hat das Berufungsgericht für unbeachtlich erklärt. Auch dieser Vortrag macht eine erneute Tatsachenfeststellung durch sachverständige Erläuterung erforderlich. So kann im Hinblick auf die Größenverhältnisse – des Fahrzeugs und des Klägers – beispielsweise schon nicht ausgeschlossen werden, dass die vom Berufungsgericht für einen typischen Geschehensablauf vorausgesetzte „normale“ Sitzposition für den Kläger aufgrund seiner Beinlänge und Körpergröße in diesem Fahrzeug gar nicht eingenommen werden konnte. Im Übrigen ist bisher nicht festgestellt, wie eine „normale“ Sitzposition präzise, also unter Angabe einer bezifferten Distanz, zu definieren ist, die – wie das Landgericht richtig erkannt hat – auch vom Fahrzeugtyp abhängig sein könnte.
Die Gehörsverletzung ist im vorliegenden Fall auch entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht nach der gebotenen ergänzenden Anhörung des Sachverständigen zu einer anderen Beurteilung gekommen wäre.
Schon auf der Grundlage einer vollständigen Würdigung der bisherigen vom Landgericht erhobenen schriftlichen und protokollierten Ausführungen des Sachverständigen S. wirft die Nichtzulassungsbeschwerde mit Blick auf die Abhängigkeit der Folgen des Nichtanlegens des Gurtes von der Sitzposition des Fahrers und auf eine mögliche Intrusion des Dashboards in den Innenbereich des Fahrzeugs gemessen an § 286 ZPO zu Recht die Frage auf, ob im Hinblick auf die Knieverletzungen von dem für einen Anscheinsbeweis erforderlichen typischen Geschehensablauf ausgegangen werden kann.
Bundesgerichtshof, Beschluss vom 14. Juli 2020 – VI ZR 468/19
- Festhalten an BGH, Urteil vom 08.06.1993 – VI ZR 192/92; Anschluss an BGH, Beschluss vom 06.03.2019 – IV ZR 128/18[↩]
- OLG München, Urteil vom 25.10.2019 – 10 U 3171/18, ZfSch 2020, 200[↩]
- LG Passau, Urteil vom 17.08.2018 – 4 O 740/15[↩]
- vgl. BGH, Urteil vom 08.06.1993 – VI ZR 192/92, VersR 1993, 1110 17; BGH, Beschlüsse vom 06.03.2019 – IV ZR 128/18, VersR 2019, 506; vom 18.07.2018 – VII ZR 30/16, NJW-RR 2018, 1173 Rn. 17; vom 24.03.2010 – VIII ZR 270/09, BauR 2010, 1095 8[↩]
- vgl. BGH, Beschluss vom 25.07.2017- VI ZR 103/17, NJW 2018, 308 Rn. 9; BGH, Beschlüsse vom 21.03.2018 – IV ZR 248/17, VersR 2018, 1023 Rn. 10; vom 10.11.2010 – IV ZR 122/09, VersR 2011, 369 Rn. 6[↩]