Eine Geheimhaltungsverpflichtung nach § 174 Abs. 3 Satz 1 GVG kann in den Fällen des § 172 Nr. 2 und 3 GVG nach dem Ermessen des Gerichts auch gegenüber einzelnen in der nichtöffentlichen Verhandlung anwesenden Personen ausgesprochen werden.

Die Geheimhaltungsverpflichtung ist daher nicht allein deshalb rechtsfehlerhaft, weil sie auf die Klägerin und ihren anwesenden Prozessbevollmächtigten beschränkt worden ist.
Allerdings vertreten Teile der Rechtsprechung und die herrschende Meinung im Schrifttum die Ansicht, dass eine Geheimhaltungsverpflichtung gemäß § 174 Abs. 3 Satz 1 GVG nur für alle in der nichtöffentlichen Verhandlung anwesenden Personen insgesamt angeordnet werden kann1.
Ein anderer Teil des Schrifttums geht zwar von einer Anordnung nur gegenüber allen anwesenden Personen aus, nimmt aber an , dass die gegenüber allen anwesenden Personen auszusprechende Geheimhaltungsanordnung die über das Geheimnis verfügungsbefugten Personen nicht bindet2.
Dagegen ist ein Teil der Rechtsprechung der Ansicht, dass dem Gericht auch ein Auswahlermessen hinsichtlich der nach Ausschluss der Öffentlichkeit noch im Sitzungssaal verbliebenen und zur Geheimhaltung zu verpflichtenden Personen eröffnet ist3.
Zutreffend ist jedenfalls für die Fälle des § 172 Nr. 2 und 3 GVG die zuletzt genannte Auffassung.
Nach § 174 Abs. 3 Satz 1 GVG kann das Gericht nach dem Ausschluss der Öffentlichkeit wegen Gefährdung der Staatssicherheit oder aus den in §§ 171b und 172 Nr. 2 und 3 GVG bezeichneten Gründen „den anwesenden Personen“ die Geheimhaltung von Tatsachen, die durch die Verhandlung oder durch ein die Sache betreffendes amtliches Schriftstück zu ihrer Kenntnis gelangen, zur Pflicht machen. Dieser Wortlaut schließt es nicht von vornherein aus, die Anordnung nur gegenüber einzelnen, nicht aber gegenüber allen anwesenden Personen zu treffen.
Dies folgt auch nicht daraus, dass in den nachfolgenden Vorschriften der §§ 176, 177 GVG differenzierende Regelungen getroffen sind4. Zum einen betreffen diese Normen die Aufrechterhaltung der Ordnung in der Sitzung und haben damit einen anderen Regelungsgegenstand. Zum anderen wird in § 177 Satz 1 GVG gerade das Anordnungsermessen des Vorsitzenden hinsichtlich der dort nicht genannten Personen beschränkt, was in § 174 Abs. 3 GVG eben nicht der Fall ist. Ebenso wenig beschränkt § 176 Abs. 2 Satz 2 GVG bei Vorliegen seiner Voraussetzungen das Ermessen des Vorsitzenden.
Sinn und Zweck der Geheimhaltungsverpflichtung sprechen dagegen jedenfalls in den Fällen des § 172 Nr. 2 und 3 GVG für ein Ermessen des Gerichts auch hinsichtlich des von der Anordnung betroffenen Personenkreises.
Die Vorschrift des § 174 Abs. 3 GVG dient der Stärkung des Geheimnisschutzes5 und soll eine weitgehende Abwägung aller in Betracht kommenden Interessen ermöglichen6. Soweit – wie im Streitfall – der Schutz wichtiger Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse im Sinne des § 172 Nr. 2 GVG betroffen ist, steht dabei das Interesse des Geheimnisinhabers, zu dessen Schutz der zwingend zuvor erforderliche7 Ausschluss der Öffentlichkeit sowie die gegebenenfalls ergänzend angeordnete Geheimhaltungsverpflichtung erfolgen, im Mittelpunkt. Für die vom Gesetz gewünschte umfassende Interessenabwägung stellt es deshalb einen zentralen Gesichtspunkt dar, in welchem Umfang der über das Geheimnis Verfügungsbefugte dieses zusätzlichen Schutzes bedarf und eine Verpflichtung außenstehender Dritter zur Geheimhaltung wünscht, also ein Interesse an einer entsprechenden Verpflichtung hat. Zudem verhindert die Nichtverpflichtung von Trägern des Geheimnisses eine Rechtsunklarheit darüber, ob diese – wie von einem Teil des Schrifttums vertreten – durch die Anordnung der Geheimhaltungspflicht gleichwohl nicht gebunden sind.
Die Berücksichtigung entsprechender Anregungen des Geheimnisträgers führt auch nicht zu einer Erschwerung oder zu Verzögerungen des Verfahrens, weil das Gericht nicht verpflichtet ist, umfangreiche Ermittlungen dazu anzustellen, hinsichtlich welcher Personen ein Bedürfnis für eine Geheimhaltungsverpflichtung besteht. Es kann bei seiner Ermessensausübung auch ein nur möglicherweise bestehendes Geheimhaltungsinteresse berücksichtigen.
Eine zwingende Erstreckung der Geheimhaltungsverpflichtung auf alle in der Verhandlung anwesenden Personen unabhängig vom Interesse des Geheimnisträgers ist auch nicht deshalb geboten, weil die Verpflichtung nur die Tatsachen erfasst, die dem zum Schweigen Verpflichteten nicht bereits vorher bekannt waren8 und das Gericht nach § 174 Abs. 3 Satz 1 GVG nur die Geheimhaltung von solchen Tatsachen zur Pflicht machen kann, die dem Betroffenen durch die Verhandlung oder durch ein die Sache betreffendes amtliches Schriftstück zur Kenntnis gelangen. Denn es erscheint z.B. ohne weiteres denkbar, dass ein Parteivertreter oder Prozessbevollmächtigter, dem die zu erörternden geheimhaltungsbedürftigen Geschäftsunterlagen im Grundsatz bereits bekannt sind, im Zuge dieser Erörterungen zusätzliche Details erfährt, ohne dass dem ein Interesse des Geheimnisträgers entgegensteht.
Einer vom Wortlaut abgedeckten und an den vorstehenden Zwecken orientierten Auslegung des § 174 Abs. 3 GVG steht schließlich nicht die Gesetzgebungsgeschichte entgegen.
Allerdings heißt es in den Gesetzgebungsmaterialien zu der erstmals in § 175 Abs. 2 GVG durch das Gesetz, betreffend die unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindenden Gerichtsverhandlungen vom 05.04.18889 eingeführten – und später wortgleich in § 174 Abs. 2 GVG übernommenen10 – gerichtlichen Befugnis zur Anordnung einer Geheimhaltungsverpflichtung, es solle „in subjektiver Beziehung […] die Anordnung immer eine allgemeine und unbeschränkte sein; sie ist gegen alle bei der Verhandlung anwesenden Personen ohne Ausnahme zu richten“. Jedoch war diese Anordnung nur für die Fälle bestimmt, in denen die Öffentlichkeit wegen Gefährdung der Staatssicherheit ausgeschlossen wurde (heute geregelt in § 172 Nr. 1 GVG); der Gesetzgeber hatte dabei Strafverfahren wegen Landesverrats im Blick und ist insoweit von einem unabweislichen Bedürfnis für die Anordnung ausgegangen11.
Diese allein die Gefährdung der Staatssicherheit betreffenden Erwägungen des Gesetzgebers von 1888 können keine Geltung für die Ausdehnung des Ausschlusses der Öffentlichkeit wegen Gefährdung eines Geschäfts- oder Betriebsgeheimnisses durch die Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze der Wirtschaft, Zweiter Teil: Ausverkaufswesen und Schutz von Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen; vom 09.03.193212 und die nachfolgenden gesetzlichen Ausweitungen der Geheimhaltungsverpflichtung auf weitere Fälle und deren Regelung nunmehr in § 174 Abs. 3 GVG durch das Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch (EGStGB) vom 02.03.197413 und das Erste Gesetz zur Verbesserung der Stellung des Verletzten im Strafverfahren (Opferschutzgesetz) vom 18.12.198614 beanspruchen, da insoweit das vom Gesetzgeber des Jahres 1888 angenommene „unabweisliche Bedürfnis“ nicht besteht. Vielmehr gebührt jedenfalls in den Fällen des § 172 Nr. 2 und 3 GVG dem Willen des Gesetzgebers von 1974 der Vorrang, wonach es durch § 174 Abs. 3 GVG dem Gericht überlassen werden soll, wieweit im Einzelfall Personen, die in einer nichtöffentlichen Verhandlung zugelassen werden, eine Schweigepflicht auferlegt werden und eine weitgehende Abwägung aller in Betracht kommenden Interessen ermöglicht werden soll15.
Bundesgerichtshof, Beschluss vom 14. Oktober 2020 – IV ZB 4/20
- OLG Frankfurt, Beschluss vom 19.12.2019 – 12 W 54/19 23 ff.; OLG Köln VersR 2020, 353, 354 15] und Beschluss vom 09.01.2019 – 9 W 31/18, BeckRS 2019, 18085 Rn. 15; Schmidt in Gercke/Julius/Temming/Zöller, StPO 6. Aufl. § 174 GVG Rn. 8; KK-StPO/Diemer, 8. Aufl. § 174 GVG Rn. 6; Kissel/Mayer, GVG 9. Aufl. § 174 Rn. 23; MünchKomm-StPO/Kulhanek, 1. Aufl. § 174 GVG Rn. 15; MünchKomm-ZPO/Zimmermann, 5. Aufl. § 174 GVG Rn. 14, der allerdings ohne nähere Begründung die Beisitzer von der Bindungswirkung durch den Beschluss ausnimmt; Stein/Jonas/Jacobs, ZPO 23. Aufl. § 174 Rn. 9; wohl auch Duttge/Kangarani in Dölling/Duttge/König/Rössner, Gesamtes Strafrecht 4. Aufl. § 174 GVG Rn. 5[↩]
- Katholnigg, Strafgerichtsverfassungsrecht 3. Aufl. § 174 GVG Rn. 6; Löwe-Rosenberg/Wickern, StPO 26. Aufl. § 174 GVG Rn. 28[↩]
- vgl. OLG Schleswig VersR 2020, 1033 unter 3 17 f.]; OLG Koblenz VersR 2020, 1067, 1068 18]; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 31.07.2019 – 4 W 18/19 13[↩]
- so aber OLG Frankfurt, Beschluss vom 19.12.2019 – 12 W 54/19 26[↩]
- Wieczorek/Schütze/Schreiber, ZPO 4. Aufl. § 174 Rn. 10[↩]
- BT-Drs. 7/550 S. 321; Löwe-Rosenberg/Wickern, StPO 26. Aufl. 174 GVG Rn. 27[↩]
- vgl. BGH, Urteil vom 09.12.2015 – IV ZR 272/15, VersR 2016, 177 Rn. 11[↩]
- vgl. NK-StGB/Kuhlen, 5. Aufl. § 353d Rn.20; LK-StGB/Vorbaum, 12. Aufl. § 353d Rn. 29; Perron/Hecker in Schönke/Schröder, StGB 30. Aufl. § 353d Rn. 30[↩]
- RGBl. – I S. 133, 134[↩]
- vgl. Bekanntmachung der Texte des Gerichtsverfassungsgesetzes und der Strafprozessordnung vom 22.03.1924, RGBl. – I S. 299, 319[↩]
- Verhandlungen des Reichstags, 7. Legislaturperiode, II. Session 1887/88, Anlagenband 1 Aktenstück 31 S. 246[↩]
- RGBl. I S. 121, 125[↩]
- BGBl. I S. 469, 521; siehe auch Bekanntmachung der Neufassung des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) vom 09.05.1975, BGBl. I S. 1077, 1099[↩]
- BGBl. I S. 2 496, 2499[↩]
- BT-Drs. 7/550 S. 321 f.[↩]