Das Bundesverfassungsgericht hat jetzt einer sächsischen Justizposse ein Ende bereitet, in dem es um die Besorgnis der Befangenheit eines Richters in einem Zivilprozess ging, der zu Protokoll gab, dass ihn die Wahrheit nicht interessiere. Was war geschehen?

Das Geschehen im Zivilprozess[↑]
Die Beschwerdeführerin der vorliegend entschiedenen Verfassungsbeschwerde ist Beklagte eines vor dem Landgericht Chemnitz anhängigen Zivilrechtsstreits. Klägerin des Ausgangsrechtsstreits ist eine in der Schweiz ansässige Aktiengesellschaft.
Am 3.11.2011 fand im Rahmen des Ausgangsverfahrens ein Termin zur Güteverhandlung und Verhandlung über die Hauptsache statt. Nach Erörterung des Sach- und Streitstands äußerte der Prozessvertreter der Beschwerdeführerin, es sei seiner Auffassung nach geboten, einen in der Schweiz wohnhaften Zeugen zu laden. Der zuständige Einzelrichter der 2. Zivilkammer des Landgerichts Chemnitz weigerte sich jedoch, einen entsprechenden Beweisantrag in das Protokoll der mündlichen Verhandlung aufzunehmen. Der Prozessbevollmächtigte der Beschwerdeführerin regte im weiteren Verlauf des Termins an, das Verfahren nach § 149 ZPO auszusetzen, und ergänzte sein tatsächliches Vorbringen; auch insoweit verweigerte der Richter die Protokollierung. Als der Bevollmächtigte der Beschwerdeführerin ihm daraufhin vorhielt, es sei auch seine Aufgabe, die Wahrheit zu erforschen, entgegnete der Richter: „Die Wahrheit interessiert mich nicht.“ Daraufhin lehnte die Beschwerdeführerin den Richter wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Am 11.11.2011 gab der abgelehnte Richter eine dienstliche Stellungnahme ab, in der er bestätigte, sich wie beanstandet geäußert und die Protokollierungen verweigert zu haben.
Die Reaktionen der Sächsischen Justiz[↑]
Die zur Entscheidung über das Ablehnungsgesuch berufene Zivilkammer des Landgerichts Chemnitz erklärte dieses für unbegründet1. Die Erklärung des abgelehnten Richters – die Wahrheit interessiere ihn nicht – sei zwar zu monieren, befanden seine Kollegen, begründe indes keine Richterablehnung, da durch sie sowohl die Klägerin als auch die Beklagte beschwert würden. Dass der abgelehnte Richter den Beweisantrag weder ins Protokoll aufgenommen noch verbeschieden habe, begründe ebenfalls nicht die Besorgnis der Befangenheit, denn dies stehe in seinem Ermessen. Verfahrensverstöße im Rahmen der Prozessleitung könnten nur dann die Besorgnis der Befangenheit rechtfertigen, wenn sie sich derart weit von dem geübten Verfahren entfernten, dass sich der Eindruck einer willkürlichen, sachwidrigen und auf Voreingenommenheit beruhenden Benachteiligung aufdränge, wofür es hier keinerlei Anhaltspunkte gebe.
Gegen diesen Beschluss legte die Beschwerdeführerin sofortige Beschwerde ein, der das Landgericht nicht abhalf2, und die das Oberlandesgericht Dresden zurück wies3. Der abgelehnte Richter habe nicht seinem Amtseid zuwiderhandeln wollen, so schrieben es die Dresdner OLG-Richter dem Beklagten ins Stammbuch, es sei vielmehr der Beklagtenvertreter gewesen, der die Pflicht zur Wahrheitsfindung als Druckmittel dafür eingesetzt habe, um den abgelehnten Richter zur Anhörung des Zeugen zu bewegen. Mit der gerügten Äußerung habe sich der abgelehnte Richter dieser sachwidrigen Beeinflussung erwehrt. Auch im Übrigen seien die geltend gemachten Gründe nicht dazu geeignet, das Ablehnungsgesuch für begründet zu erklären.
Die Verfassungsbeschwerde[↑]
Nachdem das Oberlandesgericht Dresden auch die hiergegen erhobene Anhörungsrüge der Beschwerdeführerin zurück gewiesen hatte4, legte diese nunmehr Verfassungsbeschwerde ein mit der sie eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, Art.19 Abs. 4, Art.20 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG, Art.19 Abs. 4, Art.20 Abs. 3 GG, Art. 13 EMRK, Art.19 Abs. 4, Art.20 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 103 Abs. 1 GG und Art. 6 Abs. 1 EMRK rügte.
Sie habe einen Anspruch darauf, dass ihr Rechtsstreit von einem Richter bearbeitet, verhandelt und entschieden werde, der sich an seinen Amtseid gebunden fühle und nicht ankündige, diesem vorsätzlich zuwider handeln zu wollen. Den abgelehnten Richter interessierten nach seiner Aussage weder Wahrheit noch Gerechtigkeit; es sei ihr nicht zumutbar, sich in dessen Willkür zu begeben. Das Landgericht und das Oberlandesgericht hätten die Tragweite der Gewährleistung des gesetzlichen Richters grundlegend verkannt. Dies verletze zugleich ihr Grundrecht auf ein faires und rechtsstaatliches Verfahren aus Art.19 Abs. 4, Art.20 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 EMRK und sei willkürlich. Durch die vom Landgericht und Oberlandesgericht vorgenommene Auslegung des § 46 Abs. 2 ZPO werde ihr das Recht auf wirksame Beschwerde genommen. Dies verletze das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz sowie die Rechte auf wirksame Beschwerde (Art. 13 EMRK), auf rechtliches Gehör und auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK). Sie werde zudem gehindert, sich effektiv gegen die Klageforderung zu verteidigen, was gegen Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG verstoße.
Das Bundesverfassungsgericht gab der Verfassungsbeschwerde statt und hob die Beschlüsse des Landgerichts Chemnitz und des Oberlandesgerichts Dresden auf:
Das Recht auf den gesetzlichen Richter, Art.101 Abs. 1 S. 2 GG[↑]
Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG schützt den Anspruch des Bürgers auf eine Entscheidung seiner Rechtssache durch den hierfür von Gesetzes wegen vorgesehenen Richter5. Damit soll die Unabhängigkeit der Rechtsprechung gewahrt und das Vertrauen der Rechtsuchenden und der Öffentlichkeit in die Unparteilichkeit und Sachlichkeit der Gerichte gesichert werden6. Die Verfassungsnorm garantiert, dass der Rechtsuchende im Einzelfall vor einem Richter steht, der unabhängig und unparteilich ist und die Gewähr für Neutralität und Distanz gegenüber den Verfahrensbeteiligten bietet7.
Zwar kann eine Verletzung des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter durch die Rechtsprechung, der die Anwendung der Zuständigkeitsregeln und die Handhabung des Ablehnungsrechts im Einzelfall obliegt, nicht in jeder fehlerhaften Rechtsanwendung gesehen werden; andernfalls wäre jede fehlerhafte Handhabung des einfachen Rechts zugleich ein Verfassungsverstoß8. Die Grenzen zum Verfassungsverstoß sind aber jedenfalls dann überschritten, wenn die Auslegung einer Verfahrensnorm oder ihre Handhabung im Einzelfall willkürlich oder offensichtlich unhaltbar sind oder wenn die richterliche Entscheidung Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantie des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG grundlegend verkennt9. Ob die Entscheidung eines Gerichts auf grober Missachtung oder grober Fehlanwendung des Gesetzesrechts10 beruht oder ob sie darauf hindeutet, dass das Gericht Bedeutung und Tragweite des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG grundlegend verkannt hat, kann nur anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalls beurteilt werden11.
Eine Besorgnis der Befangenheit ist gegeben, wenn ein am Verfahren Beteiligter bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass hat, an der Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln12. Tatsächliche Befangenheit oder Voreingenommenheit ist nicht erforderlich; es genügt schon der „böse Schein“, also der mögliche Eindruck mangelnder Objektivität13. Entscheidend ist demnach, ob das beanstandete Verhalten für einen verständigen Verfahrensbeteiligten Anlass sein kann, an der persönlichen Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln14.
Nach diesen Maßstäben wurde im vorliegenden Fall der grundrechtliche Anspruch auf den gesetzlichen Richter nicht gewahrt.
Die dienstliche Stellungnahme des abgelehnten Richters, nach der er „wohl etwas ungehalten“ reagiert habe, gibt keine Veranlassung, der Frage nachzugehen, unter welchen Voraussetzungen Unmutsbekundungen eines Richters, die sich auf das Verhalten von Prozessparteien oder Zeugen beziehen, bereits als solche geeignet sind, den Eindruck der Voreingenommenheit zu wecken15. Mit der Äußerung, auf die sich der Befangenheitsantrag der Beschwerdeführerin bezog, hat der Richter nicht nur Unmut über ein Verhalten ihres Bevollmächtigten zum Ausdruck gebracht, sondern zugleich bekundet, dass er an der Erfüllung einer wesentlichen richterlichen Amtspflicht nicht interessiert sei. Der zivilprozessuale Beibringungsgrundsatz macht es zwar zur Sache der Parteien, die notwendigen Tatsachenbehauptungen aufzustellen und Beweismittel zu benennen, und beschränkt insoweit die Aufgabe des Richters, den Sachverhalt zu erforschen16. Er bedeutet aber ebenso wenig wie andere Beschränkungen der Pflicht zur Ermittlung und Berücksichtigung von Tatsachen – wie sie, etwa im Interesse der Verfahrensbeschleunigung, auch im Ansatz vom Amtsermittlungsgrundsatz geprägte Verfahrensordnungen kennen, dass den Richter die Wahrheit grundsätzlich nicht zu interessieren hätte. Auch der Zivilrichter ist nach Maßgabe der anwendbaren Verfahrensordnung, seinem Amtseid gemäß, verpflichtet, der Wahrheit zu dienen (§ 38 Abs. 1 DriG)´.
Bei der gebotenen Gesamtbetrachtung der Umstände17 kann eine Besorgnis der Befangenheit nicht verneint werden. Nachdem der Richter sich geweigert hatte, einen Beweisantrag und weitere Äußerungen des Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin in das Protokoll aufzunehmen, und dieser deshalb dem Richter vorgehalten hatte, es sei seine Aufgabe, die Wahrheit zu erforschen, stellte die daraufhin an den Bevollmächtigten gerichtete Äußerung des Richters, die Wahrheit interessiere ihn nicht, keinen bloßen Hinweis auf die zivilprozessrechtlichen Grenzen der richterlichen Pflicht zur Sachverhaltsermittlung dar. Unter diesen Umständen war die Annahme des Landgerichts, die Äußerung begründe keine Ablehnung, weil sie beide Parteien gleichermaßen beschwere, unvertretbar. Die grob unsachliche Äußerung des Richters war eindeutig als zurückweisende Reaktion auf ein vom Bevollmächtigten der Beschwerdeführerin vorgebrachtes Anliegen erfolgt und daher offensichtlich geeignet, den Eindruck einer Voreingenommenheit gerade nach dieser Seite hin zu erzeugen. Erst recht ist die Annahme des Oberlandesgerichts nicht tragfähig, die Äußerung sei hinzunehmen als Reaktion auf eine sachwidrige Beeinflussung durch den Beklagtenvertreter, der die Pflicht zur Wahrheitsfindung als Druckmittel eingesetzt habe, um den Richter zur Anhörung des Zeugen zu bewegen. Weshalb in dem Hinweis auf eine bestehende Amtspflicht eine sachwidrige Druckausübung liegen soll, ist nicht ansatzweise nachvollziehbar. Selbst wenn der Bevollmächtigte der Beschwerdeführerin mit seinem Hinweis auf die Wahrheitserforschungspflicht des Gerichts die Reichweite dieser Pflicht unter den gegebenen Umständen verkannt haben sollte, kann darin eine die Besorgnis der Befangenheit ausschließende Rechtfertigung für die anschließende Äußerung des Richters schon deshalb nicht liegen, weil in einem rechtsstaatlichen Verfahren die Pflicht des Richters zur Erfüllung seiner Amtspflichten und zu sachlichem Umgang mit dem Parteivorbringen nicht davon abhängt, dass dieses Vorbringen auf zutreffenden rechtlichen Einschätzungen beruht.
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12. Dezember 2012 – 2 BvR 1750/12
- LG Chemnitz, Beschluss vom 18.04.2012 – 3 Ri AR 4/12/3 Ri AR 32/11[↩]
- LG Chemnitz, Beschluss vom 15.05.2012 – 3 Ri AR 4/12[↩]
- OLG Dresden, Beschluss vom 28.06.2012 – 3 W 0562/12[↩]
- OLG Dresden, Beschluss vom 24.07.2012 – 3 W 562/12[↩]
- vgl. BverfGE 22, 254, 258[↩]
- vgl. BverfGE 95, 322, 327[↩]
- vgl. BverfGE 10, 200, 213 f.; 21, 139, 145 f.; 30, 149, 153; 40, 268, 271; 82, 286, 298; 89, 28, 36[↩]
- vgl. BverfGE 82, 286, 299; BverfGK 5, 269, 280; 12, 139, 143; 13, 72, 77[↩]
- vgl. BverfGE 82, 286, 299 m.w.N.; BverfGK 5, 269, 280; 12, 139, 143 f.; zuletzt BverfG, Beschluss vom 25.07.2012 – 2 BvR 615/11, juris, Rn. 12[↩]
- vgl. BverfGE 29, 45, 49; 82, 159, 197; BverfGK 5, 269, 280; 12, 139, 143 f.; 13, 72, 77[↩]
- vgl. BverfGK 5, 269, 280; 12, 139, 144; 13, 72, 78; BverfG, Beschluss vom 25.07.2012, a.a.O.[↩]
- vgl. BverfGE 82, 30, 38[↩]
- vgl. BverfGE 46, 34, 41[↩]
- vgl. BverfGK 5, 269, 281; 13, 72, 79; BverfG, Beschluss vom 25.07.2012, a.a.O., Rn. 13[↩]
- vgl. BverfG, Beschluss vom 13.05.2009 – 2 BvR 247/09; OLG Stuttgart, Beschluss vom 29.März 2012 – 14 W 2/12, NJW-RR 2012, 960, 960; OLG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 24.01.2012 – 10 W 42/11 (Abl.); Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 70. Aufl.2012, § 42 Rn. 17; Gehrlein, in: MünchKomm-ZPO, 3. Aufl.2008, § 42 Rn. 24 m.w.N.[↩]
- vgl. BGH, Beschluss vom 07.02.2008 – IX ZB 137/07, NZI 2008, 240, 241[↩]
- vgl. BverfGE 82, 30, 38; zur zivilprozessualen Rechtslage Schneider, Befangenheitsablehnung im Zivilprozess, 3. Aufl.2008, Rn. 378; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 05.10.1992 – 11 W 76/92, OLG-Report 1992, S. 343; OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 23.09.1997 – 6 W 140/97, NJW-RR 1998, 858, 859; OLG Schleswig, Beschluss vom 30.09.2004 – 16 W 126/04, OLG-Report 2004, 561, 562[↩]