Das Gericht darf die in einem anderen Verfahren protokollierten Aussagen der benannten Zeugen im Wege des Urkundenbeweises verwerten. Es muss die Zeugen aber selbst vernehmen, wenn eine Partei das beantragt.

Das Gericht verstößt gegen den in § 355 Abs. 1 Satz 1 ZPO bestimmten Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme, indem es nur die in einem anderen Verfahren protokollierten Aussagen der von dem Kläger benannten Zeugen urkundenbeweislich verwertet, die Zeugen aber nicht selbst vernimmt.
Die Verwertung der Niederschrift einer Zeugenaussage aus einem anderen Verfahren im Wege des Urkundenbeweises ist zwar grundsätzlich zulässig1. Sie setzt die Zustimmung der Parteien nicht voraus2. Auch der Widerspruch einer Partei gegen die Verwertung einer protokollierten Aussage steht deren Auswertung im Wege des Urkundenbeweises nicht entgegen3.
Unzulässig wird die Verwertung der früheren Aussagen der benannten Zeugen im Wege des Urkundenbeweises anstelle von deren Vernehmung im anhängigen Verfahren aber dann, wenn eine Partei zum Zwecke des unmittelbaren Beweises die Vernehmung dieses Zeugen beantragt4.
Einen solchen Antrag haben die Beklagten in dem hier vom Bundesgerichshof entschiedenen Fall gestellt. Diesen Antrag durfte das Berufungsgericht nicht als verspätet zurückweisen. Er betraf kein neues Angriffs- oder Verteidigungsmittel der Beklagten, sondern die Verwertung der Aussagen der von dem beweispflichtigen Kläger rechtzeitig benannten Zeugen. Deren Vernehmung durch das Berufungsgericht hatten die Beklagten auch nicht erst in der mündlichen Verhandlung beantragt, sondern schon in der Berufungserwiderung. Darin hatten sie sich gegen die Verwertung der in dem anderen Verfahren protokollierten Aussagen der Zeugen mit der Begründung gewandt, sie widerspreche dem Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme; außerdem könne das Berufungsgericht ohne „Ansehung der Zeugen“ deren Glaubwürdigkeit und die Glaubhaftigkeit ihrer Aussage nicht bewerten. Das ist in der Sache ein Antrag auf Vernehmung der Zeugen durch das Berufungsgericht, der als solcher auch klar zu erkennen war. Wollte das Berufungsgericht das anders sehen, musste es die Beklagten darauf hinweisen5, was vor der mündlichen Verhandlung nicht geschehen ist. Anders als das Berufungsgericht meint, mussten die Beklagten nicht darlegen, dass und weshalb den protokollierten Aussagen der Zeugen nicht gefolgt werden kann. Die Parteien haben nach §§ 355, 373 ZPO einen gesetzlichen Anspruch auf eine mit den Garantien des Zeugenbeweises ausgestattete Vernehmung6. Diesen Anspruch macht das Gesetz wegen der offenkundigen Schwächen der urkundenbeweislichen Verwertung von Zeugenaussagen – fehlender persönlicher Eindruck von den Zeugen, fehlende Möglichkeit, Fragen zu stellen und Vorhalte zu machen, fehlende Möglichkeit der Gegenüberstellung7 – nicht von der näheren Darlegung von Gründen abhängig.
Von der Vernehmung der Zeugen durfte das Berufungsgericht auch nicht im Hinblick auf die Beweiskraft des Urteils in dem anderen Verfahren absehen.
Dieses Urteil ist zwar eine öffentliche Urkunde, die eine Entscheidung enthält. Sie erbringt nach § 417 ZPO auch vollen Beweis ihres Inhalts. Die Beweiskraft des Urteils beschränkt sich aber auf den Urteilsausspruch und erfasst weder den Tatbestand noch die Entscheidungsgründe. Beide enthalten nicht die Entscheidung, um deren Beweis es in der Vorschrift des § 417 ZPO geht, sondern die Begründung der Entscheidung. Auf diese erstreckt sich die Beweiskraft einer öffentlichen Urkunde über eine Entscheidung weder bei einem Urteil noch bei einer anderen Entscheidung einer öffentlichen Stelle8.
Die Beweiskraft ergibt sich auch nicht aus § 418 ZPO. Zwar kann der Tatbestand eines Gerichtsurteils nach dieser Vorschrift Beweiskraft entfalten9; beispielsweise wird durch die Aufnahme von Zeugenaussagen in den Tatbestand ein vollgültiges Zeugnis des Gerichts über die vor ihm erstatteten Aussagen hergestellt10. Einer Verwertung der in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts enthaltenen Aussagen stünde im Hinblick auf den Antrag der Beklagten, die maßgeblichen Zeugen vor dem Prozessgericht zu hören, aber wiederum der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§ 355 ZPO) entgegen. Zudem stützt sich das Berufungsgericht nicht auf Tatbestandselemente des Urteils, sondern auf die Entscheidungsgründe, d.h. auf die rechtliche Würdigung des Sachverhalts durch das Gericht. Dieser kommt jedoch keine Beweiskraft nach § 418 ZPO zu.
Das Berufungsurteil beruht auf dem Verfahrensfehler bei der Vernehmung der Zeugen und auf der Verkennung der Beweiskraft des in dem anderen Verfahren ergangenen Urteils. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht zu einem anderen Beweisergebnis gelangt wäre, hätte es die fehlende Beweiskraft des Urteils erkannt und die Zeugen selbst vernommen. Das Urteil ist deshalb aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO).
Bundesgerichtshof, Urteil vom 12. Juli 2013 – V ZR 85/12
- BGH, Urteile vom 14.07.1952 – IV ZR 25/52, BGHZ 7, 116, 121 f. und vom 09.06.1992 – VI ZR 215/91, NJW-RR 1992, 1214, 1215; BGH, Beschluss vom 17.11.2005 – V ZR 68/05[↩]
- BGH, Urteil vom 19.04.1983 – VI ZR 253/81, VersR 1983, 667, 668[↩]
- BGH, Urteil vom 19.12.1969 – VI ZR 128/68, VersR 1970, 322, 323[↩]
- BGH, Urteile vom 14.07.1952 – IV ZR 25/52, BGHZ 7, 116, 122, vom 09.06.1992 – VI ZR 215/91, NJW-RR 1992, 1214, 1215, vom 13.06.1995 – VI ZR 233/94, VersR 1995, 1370, 1371 und vom 30.11.1999 – VI ZR 207/98, NJW 2000, 1420, 1421 f.; BGH, Beschluss vom 17.11.2005 – V ZR 68/05[↩]
- vgl. BGH, Beschluss vom 17.11.2005 – V ZR 68/05[↩]
- BGH, Urteil vom 14.07.1952 – IV ZR 25/52, BGHZ 7, 116, 122[↩]
- BGH, Urteil vom 30.11.1999 – IV ZR 207/98, NJW 2000, 1420, 1421[↩]
- BGH, Urteil vom 27.08.1963 – 5 StR 260/63, BGHSt 19, 87, 88; OLG Neustadt/Weinstraße, NJW 1964, 2162, 2163; OLG Frankfurt/Main, NStZ 1996, 234, 235; OLG Brandenburg, Urteil vom 21.07.2006 – 7 U 40/06; MünchKomm-ZPO/Schreiber, 4. Aufl., § 417 Rn. 6[↩]
- MünchKomm-ZPO/Schreiber, 4. Aufl., § 418 Rn. 6[↩]
- RGZ 149, 312, 316[↩]