Eigenbedarfskündigung – und die Unzumutbarkeit des Umzugs

Auch wenn ein Mieter seine Behauptung, ihm sei ein Umzug wegen einer bestehenden Erkrankung nicht zuzumuten, unter Vorlage bestätigender ärztlicher Atteste geltend macht, ist im Falle des Bestreitens dieses Vortrags regelmäßig die Einholung eines Sachverständigengutachtens zu der Art, dem Umfang und den konkreten Auswirkungen der beschriebenen Erkrankung auf die Lebensführung des betroffenen Mieters im Allgemeinen und im Falle des Verlusts der vertrauten Umgebung erforderlich1.

Eigenbedarfskündigung – und die Unzumutbarkeit des Umzugs

Das Landgericht Berlin darf in einem solchen Fall seine Bewertung, der Mieter könne aufgrund seines Alters und seiner gesundheitlichen Verfassung die Fortsetzung des Mietverhältnisses nach §§ 574, 574a BGB verlangen, nicht allein auf Grundlage der vom Mieter vorgelegten Atteste, sondern erst nach Einholung eines Sachverständigengutachtens zu der Art, dem Umfang und den konkreten Auswirkungen der vom Mieter behaupteten Erkrankungen vornehmen.

Nach § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB kann der Mieter einer an sich gerechtfertigten ordentlichen Kündigung des Vermieters widersprechen und von ihm die Fortsetzung des Mietverhältnisses verlangen, wenn die Beendigung des Mietverhältnisses für ihn oder seine Familie eine Härte bedeuten würde, die auch unter Würdigung der berechtigten Interessen des Vermieters nicht zu rechtfertigen ist.

Bei der hierzu vom Tatrichter nach gründlicher und sorgfältiger Sachverhaltsfeststellung vorzunehmenden Gewichtung und Würdigung der beiderseitigen Interessen und ihrer Subsumtion unter die unbestimmten Rechtsbegriffe der genannten Bestimmung hat das Revisionsgericht zwar den tatrichterlichen Beurteilungsspielraum zu respektieren und kann regelmäßig nur überprüfen, ob das Landgericht Berlin Rechtsbegriffe verkannt oder sonst unzutreffende rechtliche Maßstäbe angelegt hat, ob es Denkgesetze und allgemeine Erfahrungssätze hinreichend beachtet hat oder ob ihm von der Revision gerügte Verfahrensverstöße unterlaufen sind, indem es etwa wesentliche Tatumstände übersehen oder nicht vollständig gewürdigt hat2. Einer an diesem Maßstab ausgerichteten Prüfung des Bundesgerichtshofs hält im vorliegenden Fall  die Beurteilung des Landgerichts Berlin3 jedoch nicht stand:

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Bereits die Annahme, die Beendigung des Mietverhältnisses bedeute für den Mieter wegen seines fortgeschrittenen Alters und seiner gesundheitlichen Verfassung eine Härte im Sinne des § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB, beruht auf wesentlichen, von der Revision gerügten Verfahrensverstößen, so dass es an einer tragfähigen Tatsachengrundlage für die Überzeugungsbildung des Landgerichts Berlin fehlt (§ 286 Abs. 1 ZPO).

Noch nicht zu beanstanden ist, dass das Landgericht Berlin auch das Alter des Mieters und dessen auf mehr als dreißigjähriger Mietdauer beruhende Verwurzelung in der Wohnungsumgebung in seine Beurteilung, ob ein Härtegrund vorliegt, miteinbezogen hat. Denn aus seinen Erwägungen wird hinreichend deutlich, dass es diese Umstände nicht bereits für sich genommen, sondern nur im Rahmen der Gesamtwürdigung mit den von ihm weiterhin bejahten gesundheitlichen Problemen als Härtegrund anerkannt hat. Damit hat es hinreichend berücksichtigt, dass sich die Faktoren Alter und lange Mietdauer mit einer damit einhergehenden langjährigen Verwurzelung im bisherigen Umfeld je nach Persönlichkeit und körperlicher sowie psychischer Verfassung des Mieters unterschiedlich stark auswirken können und deshalb ohne weitere Feststellungen zu den sich hieraus ergebenden Folgen im Falle eines erzwungenen Wohnungswechsels grundsätzlich noch keine Härte im Sinne des § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB rechtfertigen4.

Zu Recht rügt der Vermieter allerdings, dass das Landgericht Berlin allein aufgrund der vom Mieter vorgelegten Atteste zu der Überzeugung gelangt ist, dieser leide unter den von ihm behaupteten Erkrankungen und sei aufgrund dessen „räumungsunfähig“.

Zwar hat der Bundesgerichtshof bereits entschieden, dass von einem Mieter, der geltend macht, ihm sei ein Umzug wegen einer schweren Erkrankung nicht zuzumuten, als medizinischem Laien über die Vorlage eines (ausführlichen) fachärztlichen Attests hinaus nicht verlangt werden könne, noch weitere – meist nur durch einen Gutachter zu liefernde – Angaben zu den gesundheitlichen Folgen, insbesondere zu deren Schwere und zu der Ernsthaftigkeit zu befürchtender gesundheitlicher Nachteile zu tätigen5. Gemessen hieran hat der Mieter seiner Substantiierungslast als derjenige, der die Fortsetzung des Mietverhältnisses wegen einer für ihn unzumutbaren Härte verlangt, vorliegend genügt. Verfehlt wäre es insoweit zwar, mit dem Landgericht Berlin diesbezüglich (auch) auf das medizinisch-orthopädische Attest vom 07.09.2017 des MVZ abzustellen, aus dem sich lediglich ergibt, dass der Mieter bei einem Umzug Hilfe für die Durchführung vor allem beim Heben schwerer Gegenstände) in Anspruch nehmen sollte. Aber der Mieter hat im Verlauf des Rechtsstreits mehrere Atteste des Facharztes für Nervenheilkunde Dr. M. vorgelegt, nach denen sich der Mieter bei ihm seit Mai 2005 wegen einer rezidivierenden depressiven Erkrankung mit psychosomatischer Begleitsymptomatik in Behandlung befinde und ein Umzug aus ärztlicher Sicht unweigerlich zu einer weiteren Krankheitsverschlimmerung führen würde.

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Allerdings hat der Vermieter die Behauptungen des Mieters zu diesen attestierten gesundheitlichen Beeinträchtigungen wiederholt in prozessual ausreichender Weise bestritten und zum Beweis – unter Verweis auf die Beweislast des Mieters – mehrfach die Einholung eines entsprechenden gerichtlichen Sachverständigengutachtens beantragt. Auch der Mieter hat die Einholung entsprechender Gutachten angeboten, um seinerseits Beweis für die Erkrankungen zu bringen. Mithin hätte das Landgericht Berlin mangels eigener Sachkunde nicht allein aufgrund der vom Mieter vorgelegten Atteste vom Bestehen der behaupteten Erkrankungen ausgehen dürfen, sondern hätte vielmehr ein entsprechendes gerichtliches Sachverständigengutachten einholen müssen.

Soweit die Revisionserwiderung demgegenüber meint, einer weiteren Beweiserhebung zum Gesundheitszustand des Mieters habe es schon mangels ausreichend substantiiertem Bestreiten des Vermieters nicht bedurft, verkennt sie, dass sich eine Partei über Tatsachen, die – wie hier Art und Ausmaß der behaupteten Erkrankungen sowie die feststellbaren oder zumindest zu befürchtenden Auswirkungen eines erzwungenen Wohnungswechsels – nicht Gegenstand ihrer eigenen Wahrnehmung gewesen sind, nach § 138 Abs. 4 ZPO mit Nichtwissen erklären darf. Sie ist grundsätzlich nicht verpflichtet, diese Tatsachen zu überprüfen, um sich näher zu ihnen äußern zu können, und muss im Rahmen des Bestreitens auch nichts weiter substantiiert darlegen6. Dessen ungeachtet hat sich der Vermieter vorliegend sogar, wie die Revision unter Verweis auf den klägerischen Vortrag in den Tatsacheninstanzen belegt, jeweils konkret und detailliert mit den vom Mieter behaupteten Erkrankungen und der Frage auseinandergesetzt, inwieweit diese überhaupt einem Umzug entgegenstünden.

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Hiervon ausgehend hätte sich das Landgericht Berlin im Rahmen seiner Überzeugungsbildung nicht allein auf die vom Vermieter vorgelegten Atteste stützen dürfen. Vielmehr hat der Bundesgerichtshof betreffend die Härtefallprüfung nach § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB mehrfach ausdrücklich darauf hingewiesen, dass auch dann, wenn ein Mieter durch Vorlage eines fachärztlichen Attests geltend macht, ihm sei ein Umzug wegen einer von ihm näher bezeichneten schweren Erkrankung nicht zuzumuten, im Falle des Bestreitens dieses Vortrags regelmäßig die – beim Fehlen eines entsprechenden Beweisantritts sogar von Amts wegen vorzunehmende (§ 144 ZPO) – Einholung eines Sachverständigengutachtens zu der Art, dem Umfang und den konkreten Auswirkungen der beschriebenen Erkrankung auf die Lebensführung des betroffenen Mieters im Allgemeinen und im Falle des Verlusts der vertrauten Umgebung erforderlich ist7. Dabei sind nicht nur Feststellungen zu der Art und dem Ausmaß der Erkrankungen sowie den damit konkret einhergehenden gesundheitlichen Einschränkungen, sondern auch zu den konkret feststellbaren oder zumindest zu befürchtenden Auswirkungen eines erzwungenen Wohnungswechsels zu treffen, wobei im letzteren Fall auch die Schwere und der Grad der Wahrscheinlichkeit der zu befürchtenden gesundheitlichen Einschränkungen zu klären ist8. Erst dies versetzt den Tatrichter in einem solchen Fall in die Lage, sich einerseits von der bestehenden Erkrankung und andererseits von den Konsequenzen, die für den Mieter mit dem Umzug verbunden sind, ein ausreichendes Bild zu machen und diese anschließend im Rahmen der nach § 574 Abs. 1 BGB notwendigen Abwägung sachgerecht zu gewichten.

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Hiernach bestand auch vorliegend die Verpflichtung zur Einholung eines entsprechenden Sachverständigengutachtens. Die pauschale Begründung des Landgerichts Berlin, über die vorgelegten (von ihm teilweise als „Gutachten“ bezeichneten) Atteste hinaus erscheine die Einholung eines „weiteren Sachverständigengutachtens […] nicht angezeigt“ ist zudem schon deshalb verfehlt, weil im vorliegenden Verfahren erstmalig ein – von beiden Parteien ausdrücklich und mehrfach beantragtes – Sachverständigengutachten zum gesundheitlichen Zustand des Mieters und den aufgrund dessen für ihn mit einem erzwungenen Umzug zu erwartenden Konsequenzen eingeholt werden sollte. Überdies ist die nicht näher hinterfragte Übernahme der Schilderungen aus den Attesten durch das Landgericht Berlin auch bereits deshalb nicht nachzuvollziehen und musste sich vielmehr die Notwendigkeit einer gerichtlichen Begutachtung aufdrängen, weil in einem vorherigen Kündigungsrechtsstreit zwischen den Parteien der Gerichtsgutachter Dr. L. mit psychiatrischem Gutachten vom 16.06.2015 – auf welches das Landgericht Berlin nach Beiziehung der Akten sogar ausdrücklich Bezug genommen hat – zu dem Ergebnis gekommen war, es fänden sich keine Hinweise für eine klinisch relevante depressive Symptomatik des Mieters und auch keine Hinweise dafür, dass der Verlust der Wohnung zu einer erheblichen Verschlechterung seines gesundheitlichen Zustandes führen würde.

In der Folge ist auch die vom Landgericht Berlin vorgenommene Interessenabwägung rechtsfehlerhaft, weil das Landgericht Berlin – wie ausgeführt – die Abwägung auf unzureichende Tatsachenfestellungen zum Vorliegen von Härtegründen auf Seiten des Mieters gestützt hat und ihm damit auch eine sachgerechte Gewichtung in der sich anschließenden Abwägung gegenüber den Vermieterinteressen nicht möglich war. Dabei wird die nunmehr mit dem Rechtsstreit befasste Kammer weiterhin zu beachten haben, auch dem Erlangungsinteresse des Vermieters den mit Blick auf die grundrechtlich verbürgte Eigentumsgarantie (Art. 14 Abs. 1 GG) angezeigten Stellenwert einzuräumen. Denn das durch Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleistete Eigentum, welches den Gerichten verbietet, dem Vermieter entgegen seinen auf vernünftigen und nachvollziehbaren Gründen basierenden Vorstellungen auf die Nutzung anderer Räume zu verweisen, ist nicht nur bei der Auslegung und Anwendung des Kündigungstatbestands des § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB, sondern auch bei der Interessenabwägung nach § 574 BGB zu beachten9. Die vom Landgericht Berlin für maßgeblich erachteten Erwägungen, die alleinstehende Tochter sei als derzeit noch im Haushalt des Vermieters wohnhaft „nicht von Wohnungslosigkeit bedroht“ und sei zur beabsichtigten Gründung einer Wohngemeinschaft nicht auf die streitgegenständliche Wohnung angewiesen, lassen insoweit eine hinreichende Auseinandersetzung indes nicht erkennen.

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Schließlich hat das Landgericht Berlin auch seine Prognoseentscheidung bezüglich eines möglichen Wegfalls der Härtegründe (§ 574a Abs. 2 Satz 2 BGB) bislang nicht mit Tatsachen untermauert. Außerdem lassen seine Ausführungen besorgen, dass es angenommen hat, die Gerichte hätten im Falle eines ungewissen Wegfalls einer bestehenden Härte zwingend eine unbefristete Fortsetzung des Mietverhältnisses anzuordnen. Dies trifft nicht zu, weil das Gesetz den Gerichten ein – rechtsfehlerfrei auszuübendes – Ermessen einräumt10. Nach den in den Gesetzesmaterialien zum Ausdruck gekommenen Vorstellungen, die letztlich auch in die unveränderte Fassung der §§ 574 ff. BGB eingeflossen sind11, soll im Regelfall die Fortsetzung des Mietverhältnisses nur auf bestimmte Zeit erfolgen12.

Bundesgerichtshof, Urteil vom 28. April 2021 – VIII ZR 6/19

  1. Bestätigung von BGH, Urteil vom 22.05.2019 – VIII ZR 180/18, BGHZ 222, 133 Rn. 44[]
  2. BGH, Urteile vom 11.12.2019 – VIII ZR 144/19, NJW 2020, 1215 Rn. 23; vom 22.05.2019 – VIII ZR 180/18, aaO Rn. 26, und – VIII ZR 167/17, NJW-RR 2019, 972 Rn. 30; vom 15.03.2017 – VIII ZR 270/15, NJW 2017, 1474 Rn. 24; vom 25.06.2008 – VIII ZR 307/07, WuM 2008, 564 Rn. 21; vom 20.10.2004 – VIII ZR 246/03, NZM 2005, 143 unter – II 2; jeweils mwN[]
  3. LG Berlin, Urteil vom 24.09.2018 – 64 S 2/18[]
  4. vgl. BGH, Urteil vom 22.05.2019 – VIII ZR 180/18, aaO Rn. 30 mwN[]
  5. BGH, Urteil vom 22.05.2019 – VIII ZR 180/18, aaO Rn. 48, im Anschluss an BVerfG, NJW-RR 1993, 463, 464[]
  6. vgl. etwa BGH, Urteile vom 29.01.2020 – VIII ZR 385/18, NJW-RR 2020 Rn. 66; vom 06.04.2016 – VIII ZR 71/10, NJW 2016, 3589 Rn. 31; jeweils mwN[]
  7. siehe BGH, Urteile vom 22.05.2019 – VIII ZR 180/18, aaO Rn. 44; – VIII ZR 167/17, NJW-RR 2019, 972 Rn. 38; vom 15.03.2017 – VIII ZR 270/15, aaO Rn. 29; BGH, Beschluss vom 26.05.2020 – VIII ZR 64/19, NJW-RR 2020, 1019 Rn.19[]
  8. BGH, Urteile vom 22.05.2019 – VIII ZR 180/18, aaO; – VIII ZR 167/17, aaO; BGH, Beschluss vom 26.05.2020 – VIII ZR 64/19, aaO[]
  9. BGH, Urteile vom 22.05.2019 – VIII ZR 180/18, aaO Rn. 56; vom 11.12.2019 – VIII ZR 144/19, aaO Rn. 34; jeweils mwN[]
  10. BGH, Urteile vom 22.05.2019 – VIII ZR 180/18, aaO Rn. 69; vom 11.12.2019 – VIII ZR 144/19, aaO Rn. 42[]
  11. vgl. BT-Drs. 14/4553, S. 68[]
  12. BT-Drs. V/2317, S. 2[]
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