Bei Wegfall eines der Schlusserben stellt sich die Frage einer vertragsmäßigenBindung des überlebenden Ehegatten betreffend diesen Erbteil infolge Anwachsung zugunsten der übrigen Schlusserben erst, sofern kein Wille der Ehegatten in Bezug auf eine erneute Testierung des überlebenden Ehegatten infolge des Wegfalls des Schlusserben im Wege der individuellen Auslegung festgestellt werden kann.

Für das Oberlandesgericht München erscheint dabei bereits fraglich, ob die nach § 2094 BGB eintretende Anwachsung eines Erbteils infolge Wegfalls eines Bedachten überhaupt eine vertragsmäßige Verfügung im Sinne des § 2278 Abs. 2 BGB darstellt.
§ 2278 Abs. 1 BGB setzt in Bezug auf die Vertragsmäßigkeit deren Anordnung durch die Ehegatten voraus, wobei diese auf die in § 2278 Abs. 2 enumerativ aufgezählten Verfügungen beschränkt ist. Demgegenüber tritt die Anwachsung als dispositive Ergänzungsnorm1 kraft Gesetzes ein. Im Hinblick darauf stellt die Anwachsung nach Auffassung des Oberlandesgerichts gerade keine Verfügung im Sinne des § 2278 BGB dar. Soweit dies im Falle einer Pflichtteilsklausel vertreten wird2, findet diese Auffassung ihre Rechtfertigung im Kern darin, dass die Ehegatten ihre Erbfolge durch die Erbeinsetzung abschließend getroffen haben und die Pflichtteilsklausel bei ihrem Eingreifen als Teil des Willens der Ehegatten die bereits getroffene Erbfolge modifiziert und sich diese Erbfolge somit auf einer letztwilligen Verfügung der Ehegatten beruht. Die Regelung in der Pflichtteilsklausel ist somit Teil der Erbeinsetzung und erweist sich so als eine Verfügung im Sinne des § 2278 Abs. 2 BGB.
Dieser Ansatz lässt sich aber nicht ohne weiteres auf die sonstigen Fälle eines Wegfalls des ursprünglich Bedachten übertragen3.
In dem vorliegenden Fall des Vorversterben eines der Bedachten tritt die Anwachsung allein kraft Gesetzes infolge Vorversterbens der Bedachten ein, da die Ehegatten für diesen Fall ausdrücklich keine Regelung („Ersatzerben werden heute nicht bestimmt“) getroffen haben. Insofern ist die Anwachsung nicht die Kehrseite einer von den Ehegatten getroffenen Erbeinsetzung, sondern tritt allein kraft Gesetzes ein, sodass sich die Anwachsung nicht als „andere Verfügung“ im Sinne des § 2278 Abs. 2 BGB darstellt und demgemäß in diesem Umfang auch keine Bindungswirkung eintreten kann4. Die hiergegen erhobenen Einwände im Hinblick auf die Einheitlichkeit des Erbteils5 greifen nicht. Denn inmitten steht allein die Frage, ob eine später errichtete letztwillige Verfügung die erbrechtliche Stellung der weiterhin Bedachten im Sinne des § 2289 Abs. 1 S. 2 BGB beeinträchtigt. Insofern geht § 2289 Abs. 1 S. 2 BGB davon aus, dass die Unwirksamkeit auch nur Teile einer letztwilligen Verfügung erfassen kann („soweit“).
Die Frage, ob die infolge Wegfalls eines Bedachten nach § 2094 BGB eintretende Anwachsung unter § 2278 BGB fällt und sich insofern als vertragsmäßig darstellt, bedarf jedoch keiner abschließenden Entscheidung, da die individuelle Auslegung der im Erbvertrag getroffenen Anordnungen vorliegend zu dem Ergebnis führt, dass die Erblasserin nach Wegfall ihrer Tochter zu einer neuen letztwilligen Verfügung in Bezug auf diesen Erbteil befugt sein sollte.
Die von den Ehegatten in dem Erbvertrag getroffenen Anordnungen sind nach dem Verständnis des konkreten Empfängers der Willenserklärung in der konkreten Situation der Errichtung des Erbvertrags auszulegen, wobei die §§ 157, 242 BGB Anwendung finden und alle Umstände, sowohl in und außerhalb der Testamentsurkunde zu berücksichtigen sind6, vorliegend insbesondere die familiären Beziehungen der Ehegatten zu den jeweiligen Bedachten.
Vor deren Hintergrund ist im hier entschiedenen Fall (die vorverstorbene Bedachte war eine Tochter der Erblasserin aus ihrer erster Ehe) ist die Anordnung der Vertragsmäßigkeit insofern auslegungsbedürftig, da in einer solchen Konstellation das Interesse der jeweiligen Ehepartner in der Regel primär darauf gerichtet ist, dass der eine Ehepartner an seiner letztwilligen Verfügung zugunsten der Abkömmlinge des anderen Ehepartners gebunden ist, nicht aber an seine Verfügung zugunsten des eigenen Kindes. Diese Interessenslage kommt auch in der Regelung des § 2270 Abs. 2 BGB zum Ausdruck, die im Rahmen des § 2278 BGB entsprechend heranzuziehen ist7.
Unter Zugrundelegung dieser Wertung ist das Oberlandesgericht der Überzeugung, dass die Willensrichtung der Ehegatten im Zeitpunkt des Abschlusses des Erbvertrags allein darauf gerichtet war, dass der überlebende Ehegatte die Erbenstellung der jeweiligen Abkömmlinge des erstversterbenden Ehegatten nach dessen Ableben nicht mehr entziehen kann, jedoch nicht an einer unveränderlichen Selbstbindung in Bezug auf seine eigenen Abkömmlinge. Demgemäß war die Erblasserin nicht daran gehindert, in Bezug auf den ihrer Tochter ursprünglich zugedachten Erbteil neu zu testieren, hingegen war sie in Bezug auf die den Beteiligten zu 1 und 2 zugedachten Erbteile an ihrer Erbeinsetzung in dem Erbvertrag gebunden, da das Interesse des Ehemanns der Erblasserin darauf gerichtet war, diesen als seine Kinder ihre zugedachten Erbteile zu sichern.
nsofern kommt es zwar nach Wegfall der Tochter der Erblasserin zu einer Anwachsung zugunsten der Erbteile der Beteiligten zu 1 und 2. Die „Beeinträchtigung“ i.S.d. § 2289 Abs. 1 S. 2 BGB infolge der Neutestierung der Erblasserin bezieht sich aber allein auf die den Bedachten zu 1 und 2 ursprünglich angedachten Erbteile, umfasst aber nicht den angewachsenen Erbteil. Dem steht nicht entgegen, dass der angewachsene Erbteil keinen gesonderten Erbteil darstellt, sondern ursprünglicher Erbteil und „anwachsender Erbteil“ eine Einheit darstellen8. Denn – wie bereits oben ausgeführt – geht § 2289 Abs. 1 S. 2 BGB davon aus, dass die Unwirksamkeit auch nur Teile einer letztwilligen Verfügung erfassen kann („soweit“).
Oberlandesgericht München, Beschluss vom 5. November 2020 – 31 Wx 415/17
- BeckOGK/Gierl BGB § 2094 Rn. 2[↩]
- vgl. BayObLG ZEV 2004, 202 m. Anm. Ivo[↩]
- so aber OLG Nürnberg DNotz 2018, 148 m abl Anm Braun für den Fall, dass einer von zwei in einem Ehegattentestament eingesetzten Schlusserben ohne Hinterlassung von Abkömmlingen wegfällt im Hinblick auf § 2270 Abs. 2 BGB; OLG Hamm MittBayNot 2015, 413 betreffend die Anwachsung infolge des Zuwendungsverzichts eines der Schlusserben im Hinblick auf § 2270 Abs. 2[↩]
- vgl. NK-BGB/Kornexl 5. Auflage<2018> § 2278 Rn. 10[↩]
- vgl. dazu z.B. J. Mayer/Dietz in: Reimann/Bengel/Dietz Testament und Erbvertrag 7. Auflage <2020> § 2278 Rn 47[↩]
- BeckOGK/Gierl BGB § 2084 Rn. 12 und 30[↩]
- vgl. Palandt/Weidlich BGB 79. Auflage <2020> § 2278 Rn. 4[↩]
- BeckOGK/Gierl BGB § 2094 Rn. 42[↩]