Gerichtliche Entscheidung über einen Amtshaftungsanspruch – und das Willkürverbot

Ein Verstoß gegen das Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG liegt vor, wenn eine gerichtliche Entscheidung sachlich schlechthin unhaltbar ist1.

Gerichtliche Entscheidung über einen Amtshaftungsanspruch – und das Willkürverbot

Jedoch ist Art. 3 Abs. 1 GG nicht bereits dann verletzt, wenn die Rechtsanwendung oder das eingeschlagene Verfahren Fehler enthalten. Hinzu kommen muss, dass diese bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich sind und sich daher der Schluss aufdrängt, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruhen2. Dies gilt grundsätzlich auch für die Auslegung von Art. 34 GG in Verbindung mit § 839 BGB3.

Nicht mehr nachvollziehbar ist danach die Begründung des Oberlandesgerichts Bamberg, dass es im Regelfall ohne nähere Darlegung zum Verschulden möglich sei, eine vom Bundesverfassungsgericht ex post als verfassungswidrig erachtete richterliche Entscheidung, die nicht unter § 839 Abs. 2 BGB fällt, als vertretbar zu qualifizieren4.

Nach der verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Grundentscheidung des Gesetzgebers ist für die Annahme eines Amtshaftungsanspruchs sowohl die (objektive) Rechtswidrigkeit der Amtshandlung erforderlich als auch ein (subjektives) Verschulden des Amtsträgers.

Wird die vom Bundesverfassungsgericht bisher nicht in Frage gestellte5 Annahme der höchstrichterlichen Fachrechtsprechung zu Grunde gelegt6, wonach auch außerhalb des Anwendungsbereichs von § 839 Abs. 2 BGB bei richterlichen Entscheidungen ein zurückgenommener Prüfungsmaßstab über die sogenannte Vertretbarkeitskontrolle anzuwenden sei, ist diese so zu verstehen, dass sowohl die objektive Rechtswidrigkeit als auch die subjektive Vorwerfbarkeit schwerer wiegen müssen als bei Amtshaftungsansprüchen aufgrund von behördlichen Amtshandlungen. Ferner dürfen die verschiedenen objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale des Amtshaftungsanspruches auch im Rahmen der Prüfung von § 839 Abs. 1 BGB nicht in einer konturenlosen Vertretbarkeitskontrolle verschwimmen.

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Auch angesichts des Umstands, dass das Bundesverfassungsgericht bei Urteilsverfassungsbeschwerden einen zurückgenommenen Prüfungsmaßstab heranzieht, weil es keine Superrevisionsinstanz ist7, drängt es sich im Regelfall des zurückgenommen Prüfungsmaßstabes nahezu auf, dass gerichtliche Entscheidungen, die nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Grundrechte verletzen, zugleich eine objektive Amtspflichtverletzung im Sinne von § 839 BGB darstellen. Dies gilt erst recht, sofern das Bundesverfassungsgericht – wie bei Betreuungsverfahren – an die Feststellung und Schlüssigkeit des Sachverhaltes einen strengen verfassungsrechtlichen Kontrollmaßstab anlegt8. Aber auch in diesen Konstellationen kann die objektive Vertretbarkeit einer objektiv verfassungswidrigen Entscheidung nicht ohne eingehende Auseinandersetzung gerade mit der Verletzung des verfassungsrechtlichen Rahmens angenommen werden.

Für diesen grundsätzlichen Gleichklang von für verfassungswidrig erachteten Gerichtsentscheidungen einerseits und ihrer objektiven Unvertretbarkeit im Rahmen der Anspruchsprüfung eines sich gegebenenfalls anschließenden Amtshaftungsprozesses andererseits sprechen die von der Fachrechtsprechung für die Vertretbarkeitskontrolle von richterlichen Entscheidungen außerhalb des Anwendungsbereichs von § 839 Abs. 2 BGB angeführten Gründe. Denn sofern die Anwendung einer zurückgenommenen Vertretbarkeitskontrolle allein auf den Schutz der Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen und den Rechtsfrieden gestützt wird9, verliert dieses Argument sein Gewicht, wenn die zu beurteilende Entscheidung vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben wurde oder hätte aufgehoben werden können. In diesem Fall wird die Rechtskraft durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts durchbrochen.

Sofern der Maßstab der Vertretbarkeitskontrolle – wie von der höchstrichterlichen Fachrechtsprechung – argumentativ jedenfalls auch auf die richterliche Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG) gestützt wird10, gilt das Gleiche, weil die Unterworfenheit des Richters ausschließlich unter das Gesetz keine Legitimation dafür bietet, gerichtliche Entscheidungen zu fällen, die verfassungswidrig sind; und vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben wurden. Das Argument, dass die Qualifizierung einer Gerichtsentscheidung als verfassungswidrig ex post erfolge und damit auf die Beurteilung der vorher erfolgten Amtshandlung nicht zurückwirken könne, geht schon deshalb ins Leere, weil ansonsten Amtshaftungsansprüche nur bei Verstoß gegen eine ständige Rechtsprechung möglich wären. Eine vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig erachtete Gerichtsentscheidung dürfte daher zumindest in der Regel zugleich objektiv unvertretbar im Sinne von § 839 Abs. 1 BGB sein.

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Davon zu unterscheiden und durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, mit der Gerichtsentscheidungen wegen einer Grundrechtsverletzung aufgehoben werden, nicht präjudiziert ist dagegen die Prüfung der subjektiven Vorwerfbarkeit im Moment der Vornahme der Amtshandlung (Verschulden). Eine gerichtliche Entscheidung kann verfassungswidrig sein, mithin objektiv eine Amtspflichtverletzung darstellen, ohne dass dies dem zur Entscheidung berufenen Richter vorwerfbar wäre. Die subjektive Vorwerfbarkeit ist vielmehr im Rahmen des Tatbestandsmerkmals des Verschuldens nach dem jeweils einschlägigen Maßstab von § 839 Abs. 2 beziehungsweise § 839 Abs. 1 BGB in jedem Einzelfall zu prüfen.

Nach der vom Oberlandesgericht selbst zugrunde gelegten verfassungsrechtlichen Implikation der Auslegung von § 839 BGB, mit der es den Maßstab der Vertretbarkeit begründet, hätte es daher nicht undifferenziert die Vertretbarkeit der Entscheidung annehmen dürfen, sondern das Vorliegen des Verschuldens umfassend prüfen müssen.

Diese fehlerhafte Auslegung und Anwendung des § 839 BGB ist aber nicht willkürlich, weil die Entscheidung im Ergebnis nicht unhaltbar ist. So ist die Annahme, dass die fehlerhafte Rechtsanwendung nicht so schwer wiege, weil die vor Einrichtung einer Betreuung verfassungsrechtlich geforderte Anhörung des Betroffenen durch die Anhörung im parallelen Unterbringungsverfahren gewissermaßen mit vorgenommen worden sei, zumindest nicht als sachlich schlechthin unhaltbar zu qualifizieren. Schließlich wurde die im vorliegenden Fall relevante Frage, inwieweit die Verfassungswidrigkeit einer gerichtlichen Entscheidung im Rahmen eines sich anschließenden Amtshaftungsprozesses zugleich als eine objektiv unvertretbare Amtspflichtverletzung zu verstehen ist, weder in der verfassungsgerichtlichen Judikatur noch in der Literatur ausdrücklich behandelt. Künftig dürfte dies in der Regel anders zu beurteilen sein.

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Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 18. Juli 2023 – 1 BvR 600/19

  1. vgl. BVerfGE 58, 163 <167 f.> 62, 189 <192> 71, 122 <135 f.>[]
  2. vgl. BVerfGE 4, 1 <7> 80, 48 <51> 81, 132 <137> 152, 345 <382> stRspr[]
  3. vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 05.10.2015 – 2 BvR 2503/14, Rn. 9; Beschluss vom 08.12.2020 – 1 BvR 117/16, Rn. 13[]
  4. OLG Bamberg, Beschluss vom 16.02.2018 – 4 U 199/17[]
  5. vgl. BVerfG, Beschluss vom 22.08.2013 – 1 BvR 1067/12, Rn. 37[]
  6. vgl. nur BGHZ 187, 286 <293> BGH, Urteil vom 18.04.2019 – III ZR 67/18, Rn. 21[]
  7. vgl. nur BVerfGE 18, 85 <92 f.>[]
  8. vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 20.01.2015 – 1 BvR 665/14, Rn. 27[]
  9. vgl. Papier/Shirvani, in: MünchKomm- BGB, 8. Aufl.2020, § 839 Rn. 381 f.[]
  10. vgl. BGHZ 187, 286 <293>[]

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