Hinterbliebenenentschädigung – und ihre Bemessung

Mit der Bemessung der Höhe der Hinterbliebenenentschädigung hatte sich der Bundesgerichtshof aktuell erneut1 zu befassen:

Hinterbliebenenentschädigung – und ihre Bemessung

Anlass hierfür war ein Fall aus Aachen: Am 3.09.2020 wurde der Vater der am 5.06.2001 geborenen Klägerin bei einem Verkehrsunfall getötet, den die beklagte Autofahrerin mit einem bei der ebenfalls beklagten Verischerungsgesellschaft haftpflichtversicherten Pkw verursacht hatte. Die Fahrerin war mit dem von ihr geführten Pkw beim Durchfahren einer Kurve auf die Fahrspur des ihr auf seinem Motorrad entgegenkommenden Vaters der Klägerin geraten und hatte diesen frontal erfasst. Er verstarb noch am Unfallort. Die volle Haftung der Autofahrerin und der Haftpflichtversicherung dem Grunde nach steht zwischen den Parteien außer Streit. Zum Zeitpunkt des Unfalls lebte die Tochter noch bei ihren Eltern. Vorgerichtlich zahlte die Haftpflichtversicherung der Tochter ein Hinterbliebenengeld in Höhe von 7.500 €. Mit ihrer Klage begehrt die Tochter von den Autofahrerin und die Haftpflichtversicherung als Gesamtschuldnern die Zahlung eines weiteren Hinterbliebenengeldes von mindestens 22.500 € nebst Zinsen.

Das erstinstanzlich hiermit befasste Landgericht Aachen hat die Beklagte unter Klageabweisung im Übrigen zur Zahlung von 4.500 € nebst Zinsen verurteilt2. Die hiergegen gerichtete Berufung der Tochter ist vor dem Oberlandesgericht Köln ohne Erfolg geblieben3. Mit ihrer vom Oberlandesgericht zugelassenen Revision verfolgt die Tochter ihr Klageziel in vollem Umfang weiter und hatte vor dem Bundesgerichtshof Erfolg. Der Bundesgerichtshof hob das Berufungsurteil auf und verwies die Sache zurück an das Oberlandesgericht Köln.

Ohne Rechtsfehler hat das Oberlandesgericht Köln allerdings angenommen, dass der Tochter gegen die Autofahrerin und die Haftpflichtversicherung wegen des Unfalltods ihres Vaters dem Grunde nach ein Anspruch auf Zahlung eines Hinterbliebenengeldes aus § 18 Abs. 1 Satz 1, § 10 Abs. 3 StVG, § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG zusteht. Die Autofahrerin und die Haftpflichtversicherung haben der Tochter daher als Gesamtschuldner für das ihr zugefügte seelische Leid eine angemessene Entschädigung in Geld zu leisten. Die Revision wendet sich aber mit Erfolg gegen die Bemessung der Hinterbliebenenentschädigung durch das Oberlandesgericht Köln:

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Zwar ist die Bemessung der Höhe der angemessenen Entschädigung grundsätzlich Sache des nach § 287 ZPO besonders freigestellten Tatrichters. Sie ist vom Revisionsgericht nur darauf zu überprüfen, ob die Festsetzung Rechtsfehler enthält, insbesondere ob das Gericht sich mit allen für die Bemessung der Hinterbliebenenentschädigung maßgeblichen Umständen ausreichend auseinandergesetzt und sich um eine angemessene Beziehung der Entschädigung zu Art und Ausmaß des durch den Tod zugefügten seelischen Leids bemüht hat. Die Bemessung der Hinterbliebenenentschädigung kann in aller Regel nicht schon deshalb beanstandet werden, weil sie als zu dürftig oder als zu reichlich erscheint; insoweit ist es der Revision verwehrt, ihre Bewertung an die Stelle des Tatrichters zu setzen4.

Die Tochter rügt aber zu Recht, dass die Erwägungen des Oberlandesgerichts Köln zu den Grundlagen der Bemessung von Rechtsfehlern beeinflusst sind.

Das Oberlandesgericht Köln ist im Ausgangspunkt zutreffend davon ausgegangen, dass bei der Festsetzung der Hinterbliebenenentschädigung nicht lediglich eine schematische Bemessung vorgenommen werden darf, sondern die konkrete seelische Beeinträchtigung des betroffenen Hinterbliebenen zu bewerten ist und hierbei die Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalles zu berücksichtigen sind5. Entgegen der Ansicht der Revision ist dabei revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, dass das Oberlandesgericht Köln den in dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD genannten Betrag in Höhe von 10.000 €6 als Orientierungshilfe für die Bemessung der Hinterbliebenenentschädigung angesehen hat, von der allerdings unter Berücksichtigung der den jeweiligen Einzelfall prägenden Umstände nach unten oder oben abgewichen werden kann7.

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Es liegt auch kein Rechtsfehler darin, dass das Oberlandesgericht Köln den Vortrag der Tochter zu ihrer aufgrund eines im Oktober 2020 begonnenen Studiums bestehenden wirtschaftlichen Abhängigkeit von ihrem Vater als für die Bemessung des Hinterbliebenengeldes irrelevantes Vorbringen angesehen hat.

Ob die wirtschaftlichen Verhältnisse des Hinterbliebenen ein zu berücksichtigender Faktor bei der Bemessung des Hinterbliebenengeldes sind, wird in der Literatur unterschiedlich beurteilt8. Der Bundesgerichtshof entscheidet diese Frage dahingehend, dass im Rahmen der umfassenden Würdigung aller Umstände des Einzelfalls die wirtschaftlichen Verhältnisse des Hinterbliebenen nur dann zu berücksichtigen sind, wenn sie sich auf seine seelische Verfassung in prägender Weise ausgewirkt haben (vgl. zu § 253 BGB: BGH, Beschluss vom 16.09.2016 – VGS 1/16, BGHZ 212, 48 Rn. 55 f., 70, 72).

Dies ergibt sich aus dem Zweck der Hinterbliebenenentschädigung, der nicht im Ausgleich für materielle Nachteile aufgrund des Todes eines Angehörigen liegt. Das Hinterbliebenengeld soll vielmehr einen gewissen Ausgleich für die immateriellen Nachteile, nämlich die seelischen Beeinträchtigungen bieten, die durch den Tod einer geliebten Person eintreten. Daneben soll dem Gedanken Rechnung getragen werden, dass der Schädiger dem Hinterbliebenen für das, was er ihm durch die Herbeiführung des Todes einer geliebten Person angetan hat, Genugtuung schuldet9. Vor diesem Hintergrund sind maßgebend für die Höhe der Hinterbliebenenentschädigung im Wesentlichen die Intensität und Dauer des erlittenen seelischen Leids und der Grad des Verschuldens des Schädigers. Dabei lassen sich aus der Art des Näheverhältnisses, der Bedeutung des Verstorbenen für den Anspruchsteller und der Qualität der tatsächlich gelebten Beziehung indizielle Rückschlüsse auf die Intensität des seelischen Leids ableiten10.

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Nach diesen Grundsätzen war das Oberlandesgericht Köln nicht gehalten, die von der Tochter geltend gemachte finanzielle Abhängigkeit von ihrem verstorbenen Vater als einen erhöhenden Faktor bei der Bemessung der Hinterbliebenenentschädigung zu berücksichtigen. Dass sich dieser Umstand – über die vom Oberlandesgericht Köln als maßgeblich anerkannte tatsächlich gelebte enge soziale Beziehung der Tochter zu ihrem Vater hinausgehend – hier prägend auf die Intensität und Dauer des von ihr erlittenen seelischen Leids ausgewirkt hätte, ist weder festgestellt, noch rügt die Revision insoweit übergangenen Vortrag der Tochter. Der Verlust von Unterhaltsansprüchen gegenüber dem Verstorbenen stellt für sich genommen lediglich einen materiellen Schaden dar, der nach Maßgabe des § 844 Abs. 2 BGB vom Ersatzpflichtigen auszugleichen ist.

In revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise ist auch ohne Einfluss auf die Höhe der Hinterbliebenenentschädigung geblieben, dass die Fahrerin eine strafrechtliche Verantwortung für den Tod des Vaters der Tochter in Abrede gestellt hat. Abgesehen davon, dass sich niemand selbst strafrechtlich belasten muss, lässt das bloße Bestreiten, sich strafbar gemacht zu haben, zumal ohne dabei die zivilrechtliche Verantwortung in Abrede zu stellen, an sich keine Rückschlüsse auf die Intensität des seelischen Leids des Hinterbliebenen zu. Insoweit hat die Tochter – wie vom Oberlandesgericht Köln unangefochten festgestellt – auch schon nicht behauptet, dass aufgrund der Einlassung der Beklagte zu 1 ihr durch den Unfalltod des Vaters erlittenes seelisches Leid erhöht worden wäre.

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Soweit von der Tochter in diesem Zusammenhang geltend gemacht wird, das Oberlandesgericht Köln hätte den Umstand berücksichtigen müssen, dass der Beklagte zu 1 ein strafbares Verhalten vorzuwerfen sei, ist zwar – wie bereits ausgeführt – der Grad des Verschuldens des Schädigers ein relevanter Faktor bei der Bemessung des Hinterbliebenengeldes. Insoweit kann z.B. von Bedeutung sein, ob der Schädiger vorsätzlich oder grob fahrlässig gehandelt hat. Dass hier ein solcher Fall vorliegt, in dem das Maß des Verschuldens prägende Wirkung hat, hat die Revision aber nicht aufgezeigt.

Die Tochter wendet sich aber mit Erfolg gegen die Annahme des Oberlandesgerichts Köln, der Vortrag der Tochter zu den Auswirkungen des Unfalltodes ihres Vaters auf den autistischen Bruder der Tochter und die für sie damit einhergehenden Beeinträchtigungen sei für die Bemessung der Hinterbliebenenentschädigung ohne Bedeutung.

Soweit das Oberlandesgericht Köln zur Begründung hierzu anführt, die Tochter habe nicht vorgetragen, dass dieser Umstand ihr durch den Unfalltod des Vaters erlittenes seelisches Leid verstärkt habe, trifft dies nicht zu. Die Revision verweist zu Recht auf das Vorbringen der Tochter, wonach ihr Vater der Mittelpunkt der Familie und insbesondere die maßgebliche Respekts- und Bezugsperson für ihren autistischen Bruder gewesen sei. Der Tod des Vaters habe zur Folge gehabt, dass sie nunmehr neben ihrem Studium zwangsläufig in erheblichem Umfang in die Betreuung ihres Bruders mit eingespannt sei, der aufgrund des Todesfalls massive Verhaltensauffälligkeiten zeige, wobei ihr Bruder seiner Mutter und der Tochter gegenüber aufbrausend und gewaltsam reagiere. Auch durch diesen Umstand werde die Tochter tagtäglich mit dem plötzlichen Unfalltod ihres Vaters und der damit verbundenen Veränderung ihrer Lebenssituation konfrontiert. Der dadurch andauernde seelische Schmerz sei nahezu unerträglich. Im Revisionsverfahren ist mangels abweichender Feststellungen von der Richtigkeit dieses Vorbringens auszugehen.

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Damit hat die Tochter Umstände dargetan, die bei der Bemessung des Hinterbliebenengeldes zu berücksichtigen sind. Sie hat schlüssig dargelegt, dass der Tod ihres Vaters wegen dessen spezifischer Bedeutung für die Familienmitglieder die Tochter in besonderer Art und Weise belastet und dadurch die Intensität und Dauer ihres eigenen seelischen Leids – und nicht nur das ihres Bruders – (mit)geprägt wird.

Das Berufungsurteil war daher vom Bundesgerichtshof aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Oberlandesgericht Köln zurückzuverweisen (§ 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Oberlandesgericht Köln der Tochter bei Berücksichtigung ihres Vorbringens einen höheren Entschädigungsbetrag zugesprochen hätte. Die Sache ist nicht zur Endentscheidung reif (§ 563 Abs. 3 ZPO). Die Bemessung der Höhe der angemessenen Entschädigung in Geld ist dem Tatrichter vorbehalten11.

Bundesgerichtshof, Urteil vom 23. Mai 2023 – VI ZR 161/22

  1. in Anschluss an BGH, Urteil vom 06.12.2022, – VI ZR 73/21, VersR 2023, 256[]
  2. LG Aachen, Urteil vom 19.08.2021 – 1 O 49/21[]
  3. OLG Köln, Urteil vom 05.05.2022 – 18 U 168/21[]
  4. vgl. BGH, Urteil vom 06.12.2022 – VI ZR 73/21, VersR 2023, 256 Rn. 11 mwN[]
  5. vgl. dazu näher BGH, Urteil vom 06.12.2022 – VI ZR 73/21, VersR 2023, 256 Rn. 13 ff.[]
  6. BT-Drs. 18/11397, S. 11[]
  7. ausführlich dazu BGH aaO Rn. 18[]
  8. dafür etwa Zwickel, NZV 2015, 214, 216; Steenbuck, r+s 2017, 449, 452; Brand, FS Jaeger 2014, 191, 197; offen Eichelberger in BeckOGK BGB, Stand 01.03.2023, § 844 Rn. 217; Katzenmeier, JZ 2017, 869, 876; dagegen MünchKomm-BGB/Wagner, 8. Aufl., § 844 Rn. 106; Spindler in BeckOK BGB, Stand 01.02.2023, § 844 Rn. 46; Schiemann, GesR 2018, 69, 72; differenzierend Jaeger, VersR 2017, 1041, 1054, der die wirtschaftlichen Auswirkungen des Todesfalls für die Angehörigen für maßgeblich, die Vermögensverhältnisse des Hinterbliebenen dagegen für unmaßgeblich hält[]
  9. vgl. BGH, Urteil vom 06.12.2022 – VI ZR 73/21, VersR 2023, 256 Rn. 13 f.[]
  10. BGH aaO Rn. 15[]
  11. vgl. BGH, Urteil vom 06.12.2022 – VI ZR 73/21, VersR 2023, 256 Rn. 23[]
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