Insolvenzanfechtungen innerhalb der Europäischen Union

Art. 3 Abs. 1 EuInsVO ist nach einem aktuellem Urteil des Bundesgerichtshofs dahin auszulegen, dass die Gerichte des Mitgliedstaates, in dessen Gebiet das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist, für eine Insolvenzanfechtungsklage gegen einen Anfechtungsgegner zuständig sind, der seinen satzungsmäßigen Sitz in einem anderen Mitgliedstaat hat.

Insolvenzanfechtungen innerhalb der Europäischen Union

Sind die deutschen Gerichte für eine Insolvenzanfechtungsklage europarechtlich international zuständig, ohne dass nach den allgemeinen deutschen Gerichtsstandsbestimmungen eine örtliche Zuständigkeit begründet wäre, ist das sachlich zuständige Streitgericht für den Sitz des eröffnenden Insolvenzgerichts ausschließlich örtlich zuständig.

Der Entscheidung des Bundesgerichtshof lag ein Fall zugrunde, in dem die Insolvenzschuldnerin unmittelbar vor Stellung des eigenen Insolvenzantrags zur Bezahlung von Warenlieferungen 50.000,- € auf ein Konto der Beklagten bei einer deutschen Bank überwiesen hatte. Die Beklagte ist eine Gesellschaft belgischen Rechts, die ihren Sitz in Belgien hat. Der zum Insolvenzverwalter bestellte Kläger hat am allgemeinen Gerichtsstand der Insolvenzschuldnerin Anfechtungsklage gegen die Beklagte erhoben.

Das Landgericht Marburg hat die Klage als unzulässig abgewiesen. Die Berufung des Klägers ist beim Oberlandesgericht Frankfurt am Main ebenfalls ohne Erfolg geblieben. Nach Auffassung des OLG Frankfurt war das Landgericht Marburg für den erhobenen Rückgewähranspruch international nicht zuständig. Nach den Vorschriften der Europäischen Verordnung über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EuGVVO) sei ein Gerichtsstand im Inland nicht begründet. Die Bestimmung des Art. 1 Abs. 2 lit. b EuGVVO, wonach die Verordnung auf Konkurse, Vergleiche und ähnliche Verfahren nicht anzuwenden ist, beziehe sich nicht auf die Insolvenzanfechtung. Im Hinblick auf das in den Erwägungsgründen zum Ausdruck gekommene Regelungsziel der EuGVVO, eine umfassende Rechtsvereinheitlichung auf dem Gebiet der Zivil- und Handelsstreitigkeiten herbeizuführen, seien die enumerativ aufgezählten Ausnahmetatbestände eng auszulegen. Der Begriff „Konkurse“ erfasse deshalb nur insolvenzrechtliche Sammelverfahren, nicht aber die als kontradiktorisches Parteiverfahren ausgestaltete Insolvenzanfechtung, auch wenn diese in engem und unmittelbarem Zusammenhang mit dem Insolvenzverfahren stehe. Art. 3 Abs. 1 der Verordnung des Rates über Insolvenzverfahren (EuInsVO) enthalte keine Regelung der internationalen Zuständigkeit für Annexverfahren im Zusammenhang mit der Insolvenz wie die Insolvenzanfechtung. Eine analoge Anwendung der Vorschrift komme mangels einer planwidrigen Regelungslücke nicht in Betracht. Aus den Vorschriften der deutschen Zivilprozessordnung ergebe sich ebenfalls keine Zuständigkeit des Landgerichts Marburg.

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Die vom Berufungsgericht zugelassene Revision meint dagegen, Art. 3 Abs. 1 EuInsVO regele auch die internationale Zuständigkeit für die Insolvenzanfechtungsklage, deshalb seien die deutschen Gerichte zur Entscheidung des Rechtsstreits berufen. Die Klage falle nicht in den Anwendungsbereich der EuGVVO. Jedenfalls sei nach deutschem Prozessrecht eine internationale Notzuständigkeit der deutschen Gerichte gegeben, weil die Klage in Belgien nicht zur sachlichen Entscheidung angenommen würde.

Auch der Bundesgerichtshof stellte sich jetzt auf der Grundlage einer Urteils des vom BGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens angerufen Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften gegen die Rechtsauffassung der hessischen Instanzgerichte:

Die Entscheidung über die Revision hängt, wie der BGH in seinem Vorlagebeschluss1 im Einzelnen ausgeführt hat, von der Frage ab, ob sich die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte aus Art. 3 Abs. 1 EuInsVO ergibt. Auf die Vorlage des BGH hat der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften mit Urteil vom 12. Februar 20092 für Recht erkannt:

„Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren ist dahin auszulegen, dass die Gerichte des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist, für eine Insolvenzanfechtungsklage gegen einen Anfechtungsgegner, der seinen satzungsmäßigen Sitz in einem anderen Mitgliedstaat hat, zuständig sind.“

An dieses Auslegungsergebnis ist der Bundesgerichtshof gebunden. Hieraus ergibt sich die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte, weil das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Schuldnerin von einem deutschen Gericht, nämlich dem Amtsgericht Marburg, eröffnet worden ist. Das angefochtene Berufungsurteil beruht demgegenüber rechtsfehlerhaft auf der entgegengesetzten Annahme, Art. 3 Abs. 1 EuInsVO enthalte keine Regelung der internationalen Zuständigkeit für Klagen aus Insolvenzanfechtung.

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Das Landgericht Marburg ist auch sachlich und örtlich zuständig.

Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs betrifft ausschließlich die internationale Zuständigkeit. Die Festlegung der sachlichen und örtlichen Zuständigkeit ist demgegenüber von den Mitgliedstaaten vorzunehmen. Diese Zuständigkeiten müssen nicht mit derjenigen zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens übereinstimmen3.

Die sachliche Zuständigkeit des Landgerichts Marburg ergibt sich aus § 71 Abs. 1 i.V.m. § 23 Nr. 1 GVG, weil es sich um eine vermögensrechtliche Streitigkeit handelt, deren Gegenstand den Wert der Summe von 5.000 € übersteigt.

Die örtliche Zuständigkeit folgt aus einer analogen Anwendung von § 19a ZPO i.V.m. § 3 InsO, Art. 102 § 1 EGInsO. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts und des Landgerichts ergibt sich aus den Vorschriften des deutschen Rechts unmittelbar keine örtliche Zuständigkeit. Rechtsfehlerfrei verneint wurde insbesondere ein Gerichtsstand nach den §§ 13, 17 ZPO, weil die Beklagte ihren Sitz in Belgien hat, und aus § 32 ZPO, weil es sich bei dem Anfechtungsanspruch nicht um einen deliktischen Anspruch handelt4.

§ 19a ZPO betrifft lediglich Klagen gegen den Insolvenzverwalter5. Denkbar gewesen wäre zwar eine örtliche Zuständigkeit des Landgerichts Düsseldorf nach § 23 ZPO, weil die Beklagte dort im März 2002 ein Bankkonto unterhielt, auf das der streitgegenständliche Betrag geflossen ist.
Der für diesen Gerichtsstand erforderliche hinreichende Inlandsbezug des Rechtsstreits6 wäre gegeben. Es fehlt aber an jeglichem Parteivortrag, ob dieses Konto im Zeitpunkt der Klageerhebung im Juli 2004 noch bestand.

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Auch aus Art. 102 § 1 EGInsO ergibt sich kein Gerichtsstand für Anfechtungsklagen, denn diese Vorschrift regelt lediglich die Zuständigkeit der Insolvenzgerichte, nicht diejenige der Streitgerichte. Ist nach Europäischem Recht für Anfechtungsklagen die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte gegeben, muss auch für den Fall, dass sich aus den bestehenden gesetzlichen Regelungen ein Gerichtsstand nicht ausdrücklich ergibt, ein solcher Gerichtsstand bestimmt werden. Müssten Anfechtungsklagen trotz bestehender internationaler Zuständigkeit der deutschen Gerichte wegen fehlender örtlicher Zuständigkeit als unzulässig abgewiesen werden, würde dies in europarechtswidriger Weise gegen Sinn und Zweck des Art. 3 Abs. 1 EuInsVO verstoßen, zumal der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil ersichtlich davon ausgeht, dass die hiernach gegebene internationale Zuständigkeit ausschließlicher Natur ist. Denn er führt aus, dass die im zweiten und achten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1346/2000 genannten Zwecke der Verbesserung der Effizienz und der Beschleunigung der Insolvenzverfahren einer Bündelung sämtlicher sich unmittelbar aus der Insolvenz eines Unternehmens ergebender Klagen vor dem Gericht des für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens zuständigen Mitgliedstaates entsprechen. Die Möglichkeit, dass verschiedene Gerichte für in unterschiedlichen Mitgliedstaaten erhobene Anfechtungsklagen zuständig wären, würde darauf hinauslaufen, die Verfolgung dieser Ziele zu erschweren. Deshalb müsse verhindert werden, dass es für die Parteien vorteilhaft ist, Vermögensgegenstände oder Rechtsstreitigkeiten von einem Mitgliedstaat in einen anderen zu verlegen, um auf diese Weise eine verbesserte Rechtsstellung anzustreben7.

Ist dies für den Vollzug europarechtlicher Bestimmungen erforderlich, muss nationales Recht auch von den Gerichten im Rahmen der ihnen gezogenen Grenzen fortgebildet werden8.

Eine Analogie setzt allerdings eine Gesetzeslücke im Sinne einer planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzes als Voraussetzung einer „gesetzesimmanenten Rechtsfortbildung“ voraus. Ob eine derartige Lücke vorhanden ist, haben die Gerichte vom Standpunkt des Gesetzes und der ihm zugrunde liegenden Regelungsabsicht aus zu beurteilen9. Eine planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes kann sich daraus ergeben, dass der Gesetzgeber ausdrücklich seine Absicht bekundet hat, eine richtlinienkonforme Regelung zu schaffen, die Annahme des Gesetzgebers, die Regelung sei richtlinienkonform, aber falsch ist10. Für eine in jedem Mitgliedstaat gemäß § 249 Abs. 2 EGV unmittelbar und allgemein geltende Verordnung gilt Entsprechendes, wenn die zur Ausführung der Verordnung erforderlichen Zuständigkeitsregelungen unvollständig sind. Das nationale Recht darf die Anwendbarkeit vorrangigen Europäischen Rechts nicht dadurch unterlaufen, dass es die erforderlichen örtlichen Zuständigkeiten nicht schafft.

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Ein Gerichtsstand für Anfechtungsklagen, die unmittelbar aus einem in Deutschland geführten Insolvenzverfahren hervorgehen und in engem Zusammenhang mit diesem stehen, ist in diesem Falle internationaler Zuständigkeit der deutschen Gerichte auch erforderlich, um die in Deutschland durchgeführten Insolvenzverfahren effektiv abwickeln zu können. Nur auf diese Weise kann
dem verfassungsrechtlich garantierten Justizgewährungsanspruch der am Insolvenzverfahren Beteiligten, insbesondere des Verwalters und der Insolvenz- und Massegläubiger, Rechnung getragen werden.

In den Fällen, in denen nach Art. 3 Abs. 1 EuInsO eine (ausschließliche) internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte für Insolvenzanfechtungsklagen besteht, sich aber aus den bestehenden Vorschriften kein Gerichtsstand entnehmen lässt, besteht eine unbeabsichtigte Regelungslücke. Vor der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes vom 12. Februar 2009 musste nach dem Wortlaut des Art. 3 Abs. 1 EuInsVO vom deutschen Gesetzgeber nicht zwingend davon ausgegangen werden, dass diese Vorschrift auch in den genannten Fällen, insbesondere der Insolvenzanfechtung, eine internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte begründet. Wenn deshalb eine Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit für die Fälle fehlt, in denen sich diese nicht aus den allgemeinen Vorschriften ergibt, kann diese Lücke im Wege der Analogie geschlossen werden. Damit kann dem Zweck der europarechtlichen Bestimmung der internationalen Zuständigkeit die erforderliche Wirksamkeit verliehen werden.

Aus einer analogen Anwendung von § 19a ZPO i.V.m. § 3 InsO, Art. 102 § 1 EGInsO ergibt sich für diese Fälle der Gerichtsstand des sachlich zuständigen Gerichts am Ort des für das Verfahren zuständigen Insolvenzgerichts. Denn beide Bestimmungen bringen übereinstimmend zum Ausdruck, dass hierfür der sich daraus ergebende Gesichtspunkt des Sachzusammenhangs maßgebend sein soll.

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Im Falle des § 19a ZPO soll die Norm der Wahrung des Sachzusammenhangs mit dem Insolvenzverfahren dienen und die Zuständigkeit für massebezogene Passiv-Rechtsstreitigkeiten dem Ort der Durchführung des Insolvenzverfahrens folgen11. Artikel 102 § 1 Abs. 1 EGInsO liegt der Gedanke zugrunde, dass in Fällen, in denen nach § 3 Abs. 1 EuInsVO die internationale Zuständigkeit der deutschen Insolvenzgerichte, aber keine örtliche Zuständigkeit nach deutschem Recht gegeben ist, das Insolvenzgericht zuständig sein soll, in dessen Bezirk der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat. Damit wird für den Fall, dass Art. 3 EuInsVO eine internationale Zuständigkeit der deutschen Insolvenzgerichte bestimmt, für diese nach § 3 InsO aber keine örtliche Zuständigkeit besteht, eine ausschließliche Auffangzuständigkeit begründet12.

Da aber in Art. 3 Abs. 1 EuInsVO über seinen Wortlaut hinaus nicht nur die Zuständigkeit der für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens zuständigen Gerichte geregelt wird, sondern erweiternd auch die internationale Zuständigkeit für Anfechtungsklagen und andere unmittelbar mit dem Insolvenzverfahren zusammenhängende Streitverfahren, kann die vorhandene Zuständigkeits-Auffangregelung bezüglich des Gerichtsstandes in diesem Umfang analog angewandt werden. Da Anfechtungsklagen ein bereits eröffnetes Insolvenzverfahren voraussetzen, ist es demgemäß geboten, dass die sachlich zuständigen Gerichte für den Ort, an dem das zuständige Insolvenzgericht seinen Sitz hat, für Anfechtungsklagen hilfsweise ausschließlich örtlich zuständig sind13.

Bundesgerichtshof, Urteil vom 19. Mai 2009 – IX ZR 39/06

  1. BGH, Beschluss vom 21. Juni 2007 – IX ZR 39/06, ZIP 2007, 1415[]
  2. Rs. C-339/07, ZIP 2009, 427[]
  3. EuGH, Urteil vom 12. Februar 2009 aaO Rn. 27[]
  4. vgl. BGH, Urt. v. 11. Januar 1990 – IX ZR 27/89, ZIP 1990, 246, 247; HK-InsO/Kreft, 5. Aufl. § 129 Rn. 98[]
  5. BGH, Urt. v. 27. Mai 2003 – IX ZR 203/02, ZIP 2003, 1419, 1420; HK-InsO/Kreft aaO[]
  6. vgl. BGHZ 115, 90, 94 ff[]
  7. forum shopping; vgl. EuGH aaO Rn. 22-24[]
  8. vgl. für den Grundsatz der richtlinienkonformen Auslegung und Rechtsfortbildung des nationalen Rechts BGH, Urt. v. 26. November 2008 – VIII ZR 200/05, ZIP 2009, 176, 177 Rn. 19 ff[]
  9. BGHZ 149, 165, 174; vgl. auch BGH, Beschl. v. 20. Januar 2005 – IX ZB 134/04, ZIP 2005, 447, 449; Urt. v. 26. November 2008, aaO Rn. 22 ff[]
  10. vgl. BGH, Urt. v. 26. November 2008 aaO[]
  11. vgl. RegE BT-Drucks. 12/3803 S. 67; Ausschussbericht BT-Drucks. 12/7303 S. 108 je zu § 19a ZPO; Zöller/Vollkommer, ZPO 27. Aufl. § 19a Rn. 2; Musielak/Heinrich, ZPO 6. Aufl. § 19a Rn. 1[]
  12. vgl. RegE BT-Drucks. 15/16 S. 14 zu Art. 1 § 1; HK-InsO/Stephan, aaO Art. 102 § 1 EGInsO Rn. 4; MünchKomm-Inso/Reinhart, 2. Aufl. Art. 102 § 1 EGInsO Rn. 6[]
  13. im Ergebnis ebenso Keller/Stempfle EWiR 2009, 53, 54; Dahl NZI 2009 Heft 3 S. VII; a.A. Mock, ZInsO 2009, 470, 474, der eine ausdrückliche gesetzliche Regelung für erforderlich hält[]
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